Die ‚15-Minuten-Stadt‘: Versprechen für die Mobilitätswende?

Prof. Dr. Stefan SiedentopInstitut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS)
Christian GertenInstitut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS)

Die „15-Minuten-Stadt“ ist derzeit so etwas wie der Leitstern am Firmament der transformativen Raumkonzepte. Die Grundidee ist einfach: Alles was Menschen regelmäßig nachfragen – Geschäfte, Schulen, Ärzte, Erholungsflächen oder Restaurants – soll zu Fuß oder mit dem Fahrrad in maximal 15 Minuten anzutreffen sein.

Der dann mögliche Verzicht auf das Auto würde Städte und Quartiere von Luft- und Lärmbelastungen sowie vom ruhenden Verkehr entlasten. Es gäbe mehr Raum für Grünflächen und öffentliche Begegnung, mehr gesundheitsfördernde aktive Mobilität und Lebensqualität.

15-Minuten-Stadt: wünschenswert und realistisch?

Gegen ein solches Konzept ist eigentlich nichts einzuwenden und dennoch mangelt es in der Wissenschaft nicht an kritischen Stimmen. Nähme man die Versprechen der „15-Minuten-Stadt“ beim Wort, müsste eine drastische Kehrtwende in der räumlichen Nutzungs- und Infrastrukturplanung erfolgen. Erforderlich wäre eine weitreichende Dezentralisierung in der Bereitstellung staatlicher und kommunaler Leistungen im Bereich der Bildung, Gesundheit, Verwaltung, Kultur und des Sports.

Befürworter*innen verweisen auf die während der Corona-Pandemie erfolgte Wiederentdeckung des Quartiers und sehen in der Digitalisierung neue Möglichkeiten für eine (Re-) Lokalisierung von Arbeit und Versorgung. Mit den Möglichkeiten des mobilen Arbeitens entstünden neue hybride Arbeitsformen, die eine höhere Verweildauer am Wohnort ermöglichen und Quartiere mit guter Versorgungsinfrastruktur („24-Stunden-Quartiere“) attraktiver erscheinen ließen. Zudem werden neue Formen der quartiersbezogenen Versorgung wie Gesundheitskioske, dezentrale Bürgerämter oder Kleinformate des Lebensmitteleinzelhandels als Bausteine des Konzepts benannt.

Kritische Stimmen bezweifeln indes die Möglichkeiten einer weitreichenden Dezentralisierung der Angebotsstrukturen und verweisen auf die Gefahren einer weiteren immobilienwirtschaftlichen Aufwertung von Standorten mit guter Nahausstattung. Auch lässt sich argumentieren, dass nicht alle Dienstleistungen gleich sind. Menschen wollen nicht irgendein Geschäft oder irgendeinen Arzt aufsuchen, sondern selektieren Angebote entsprechend ihrer Präferenzen im näheren und weiteren Umfeld ihrer Wohnung. Das am nächsten gelegene Angebot muss nicht immer das nachgefragte sein.

Vorwurf der territorialen Exklusivität

Vor allem aber wird angemerkt, dass die „15-Minuten-Stadt“ mit ihrer kompromisslosen Forderung nach Nähe einen nostalgischen oder sogar elitären Charakter aufweist. Denn fußläufige Erreichbarkeit von Bildungsangeboten oder Einzelhandelsnutzungen ist in einem Land wie Deutschland, das eine jahrzehntelange Stadt-Umland-Wanderung und massive Konzentrationsprozesse des öffentlichen wie privaten Dienstleistungsangebots erlebt hat und über ausgedehnte ländliche Räume verfügt, ein Privileg der Stadtbevölkerung.

Außerhalb von Stadt- und Quartierszentren, da wo die Bevölkerungsdichte geringer ist, bleibt die 15-Minuten-Stadt ein unerfüllbares Versprechen. Die schiere Größe der in suburbanen und ländlichen Räumen lebenden Bevölkerung verlangt aber nach inklusiven Raumkonzepten, die auch dort Angebote unterbreiten, wo sich Menschen heute vom Auto abhängig fühlen.

Ein aktueller Beitrag in der Reihe ILS-IMPULSE zeigt für Nordrhein-Westfalen beispielhaft auf, dass nur etwa ein Drittel der Bevölkerung eine Grundschule, ein Geschäft des Einzelhandels, einen Lebensmittelladen und eine Apotheke mit einem Fußweg von maximal 15 Minuten erreichen kann.

Die 15-Minuten-Stadt ist gelebte Realität für Menschen, die in den Zentren der Groß- und Mittelstädte leben. Wer hingegen in Vororten oder auf dem Land wohnt, muss entweder längere Fußwege in Kauf nehmen, das Fahrrad nutzen oder auf motorisierte Verkehrsmittel zurückgreifen.

Stefan Siedentop und Christian Gerten

Selbst wenn es gelänge, das Versorgungsanbot zu dezentralisieren, was angesichts konträrer Marktdynamiken und begrenzter staatlicher Möglichkeiten stark zu bezweifeln ist, bliebe das Ideal fußläufiger Erreichbarkeit eines breiteren Bündels von Daseinsvorsorgeleistungen in ländlichen Gebieten unerreichbar. So sehr sich das viele Menschen auch wünschen mögen, der Dorfbäcker, die Dorfschule oder der kleinstädtische Haushaltswarenladen kehren nicht zurück.

Die Dekarbonisierung der Mobilität verlangt aber nach einer Verringerung der Abhängigkeit vom privaten Kfz auch außerhalb der Städte. Zusätzlich zum Konzept der „15-Minuten-Stadt“ sollte der Staat daher einen Anspruch auf eine bedarfsgerechte Erreichbarkeit für alle formulieren.

Durch den flächenhaften Ausbau des öffentlichen Personenverkehrs sollen relevante Versorgungsangebote zukünftig für alle Menschen in einer akzeptablen Reisezeit erreichbar sein. Auf diese Weise würden preisvergünstigte ÖPNV-Angebote – wie derzeit das 49-Euro-Ticket – auch für Menschen auf dem Land attraktiv werden.

15-Minuten-Stadt und 30-Minuten-Land?

Ein Fazit: Die 15-Minuten-Stadt ist ein ambitioniertes Konzept für die Stärkung der Nahraumorientierung und der Mikromobilität in Städten und Gemeinden. Zugleich offenbart das Konzept eine raumstrukturelle Exklusivität, die grundsätzliche Fragen territorialer Gerechtigkeit aufwirft.

Die Mobilitätswende wird nur gelingen, wenn die Raumordnungs- und Verkehrspolitik Ziele der Effektivität und Effizienz in der Erreichung von Klimaschutzzielen mit Anliegen sozialer und territorialer Gerechtigkeit verbinden kann.

Kurz gesagt: Eine wirkungsvolle Mobilitätswende entscheidet sich nicht nur in Berlin, München oder Köln, sondern auch in den Randzonen der Großstädte und den ländlichen Räumen.

Stefan Siedentop und Christian Gerten

Die in dem oben erwähnten ILS-IMPULSE-Beitrag vorgestellte Vision eines „30-Minuten-Landes“ entspräche einer Mobilitätsgarantie, wie sie in der Verkehrspolitik bereits seit längerem diskutiert wird. Eine solche staatliche Garantie kann sich etwa auf Angebote des Schienenverkehrs, des Busverkehrs wie auch auf flexible ÖPNV-Angebote, Taxigutscheine und (zukünftig) autonome Shuttles stützen.

Ein mindestens stündliches Verkehrsangebot in jeder Gemeinde und jedem Ortsteil bis 2045, wenn die Netto-Treibhausgasneutralität in Deutschland erreicht wird, könnte ein Langfristziel der Politik sein, an dem auch Investitionserfordernisse im öffentlichen Verkehr ausgerichtet werden.

30-Minuten-Land als komplementäres Konzept

Das 30-Minuten-Land versteht sich nicht als Gegenvorschlag zur 15-Minuten-Stadt, sondern als komplementäres Konzept für Räume mit weniger guten siedlungsräumlichen Voraussetzungen für aktive Mobilitätsformen. Wo immer möglich, sollen die Menschen für ihre Versorgung zu Fuß gehen oder das Rad nehmen können und die versorgungsräumlichen wie infrastrukturellen Voraussetzungen für aktive Mobilität müssen verbessert werden.

Wo Fuß und Rad aber von den Menschen nicht als Option für das Einkaufen, Behördengänge oder kulturelle Aktivitäten bewertet werden, müssen zuverlässige Alternativen zum privaten Kfz vorgehalten werden. In einer alternden Gesellschaft wird dies zukünftig noch wichtiger sein.

Weitere Beiträge zum Thema auf unserem Blog:

Verkehrswende: Lösungsansätze für Mobilitätsarmut von Dr. Florian Peiseler, Matthias Runkel und Vera Mair, FÖS

Ländliche Nahversorgung: Lieferungen mit Drohnen und Lastenrädern von Steffen Henninger, Research Lab for Urban Transport (ReLUT)

Aktivierung des ländlichen Raums für eine nachhaltige Entwicklung von Prof. Maik W. Neumann, Technische Hochschule Mittelhessen



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