Wie grünes Wachstum vielleicht doch gelingt
Die in Nachhaltigkeitsstrategien entworfene Vision einer modernen, sauberen und fairen Wirtschaft basiert auf biologischem Wissen und biotechnologischen Lösungen. Das fundamentale biologische Prinzip der Nachhaltigkeit lässt sie aber aus: Selbstregulierung durch Mäßigung.
Das verwächst sich schon! Oder?
Die politische Antwort auf die Frage nach einer zukunftsorientierten wirtschaftlichen Entwicklung lautet heute grünes Wachstum. Die Idee ist, Nachhaltigkeit und Wachstum in Einklang zu bringen, indem man die Wirtschaftsleistung von ihren unerwünschten Folgen und Nachwirkungen entkoppelt.
Der Wohlstand soll weiterwachsen, aber zu geringeren ökologischen und sozialen Kosten. Oder in moderner Sprache ausgedrückt: cringefrei. Das klingt fast so, als müsse künftig niemand auf eine Flug- oder Kreuzfahrtschiffreise verzichten ‒ vorausgesetzt, der Treibstoff ist emissionsneutral und die Crew fair bezahlt.
Grünes Wachstum ist ein primär politisches, stark positivistisches und wenig positives Konzept.
Lioudmila Chatalova
Um diese Vision mit Leben zu füllen, sind vor allem zwei Ansätze vorgesehen: der technologische und der ressourcenbasierte. Beide Ansätze haben oft bio als Vorsilbe, sind wissensbasiert und deshalb grün und gut.
Der technologische Ansatz
Von der Umstellung auf biogene und anderweitig erneuerbare Ressourcen verspricht man sich weniger Emissionen, geringere Importabhängigkeit und neue ökonomischen Impulse. Besonders große Hoffnungen liegen auf biotechnologischen Innovationen.
Im Verbund mit anderen technischen Entwicklungen können die bereits oder bald enträtselten Eigenschaften und Baupläne der Natur – von der DNA bis Kreislaufprinzipien – zu einem modernen und verantwortungsvollen Wirtschaftsmodell beitragen. Neue oder veränderte Nutzpflanzen zum Beispiel, die Krankheiten und Dürren trotzen, höheren Ertrag bringen und der Biodiversität nicht schaden, sind bereits in Entwicklung.
Solche Produkte und Verfahren kommen der Wirtschaft und Umwelt zugute. Mehr noch: Sie erlauben es uns, die Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums und der Erhaltung der erreichten Lebensstandards nicht infrage zu stellen.
Lioudmila Chatalova
Für einen effizient und umweltgerecht wachsenden Wohlstand der Nationen braucht man also (a) genug Wissen und (b) guten Willen. Das ist positivistisch, aber wenig positiv.
Denn eine wesentliche Frage bleibt unbeantwortet: Wie stellt man sicher, dass ein grünes Wachstum ein gesundes Wachstum wird, ohne Exzesse und Rezidive?
Lioudmila Chatalova
Ressourcenbasierte Ansätze und Rebound-Effekte
Effizientere Verfahren sind entscheidend für Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit eines gewinnorientierten Unternehmens, da sie Ressourcen und Kosten sparen. Zugleich können sie aber auch Anreize setzten, Produktionskapazitäten voll auszulasten oder sogar auszubauen. Selbst wenn ökoeffiziente Produkte unter fairen Arbeitsbedingungen und mit geringerer Emissionsbilanz hergestellt werden, erhöhen sie bei steigenden Produktionsmengen den absoluten Bedarf an Energie, Anbaufläche und anderen Ressourcen.
Die angestrebte Umstellung auf geschlossene Lieferketten und Kaskadennutzung von Ressourcen zudem braucht Investitionen, welche refinanziert werden wollen. Das macht ein weiteres Wachstum zwingend notwendig. Als Folge können effizientere und umweltfreundlichere Verfahren einen noch höheren absoluten Ressourcenverbrauch und Überproduktion bewirken. Man spricht von Rebound-Effekten.
Nationale und internationale Nachhaltigkeitsstrategien gehen aber nicht bloß von kleineren zusätzlichen Verbesserungen in Produktivität und Umweltverträglichkeit aus. Da die Zeit drängt, setzten sie auf bahnbrechende und disruptive Innovationen. Diese können womöglich zu den unberechenbaren und unkontrollierbaren Geistern werden, die niemand rief.
Wie einst die Väter der Atombombe vor den verheerenden Folgen ihrer wahrlich disruptiven Technologie warnten, warnen nun führende KI-Entwickler vor dem Risiko der Auslöschung der Menschheit durch KI. Wie gewährleistet man also, dass der Fortschritt uns dient, nicht überfordert oder schadet?
Effizienz und Konsistenz sind wichtig aber nicht genug. Die Dritte im Bunde heißt Suffizienz.
Nachhaltigkeitsparameter Suffizienz
Die Antwort liegt im fundamentalen Prinzip aller lebenden Natur – dem eigentlichen Vorbild für grünes Wachstum – und lautet Gegenkopplung. Ein lebendes, auf Überleben bedachtes System wächst, solange es seine Lebensgrundlagen nicht überbeansprucht. Wenn doch, reagiert es mit der Mäßigung eigener Ansprüche und Gesundschrumpfung, bis die Lebensgrundlage sich erholt hat.
Viele soziale und ökonomische Prozesse folgen diesem Prinzip. Konjunkturwellen und Businesszyklen reagieren zum Beispiel auf Änderungen in deren wichtigsten Ressource, der Nachfrage, mit Auf- und Abschwung. Auf Marktübersättigung folgt Rezession, auf Rezession die Erholung und der neue Aufschwung.
Die Gegenkopplung funktioniert im Grunde wie ein Heizkörperthermostat. Tatsächlich wird neben lebender Natur auch Thermodynamik als Vorbild für eine nachhaltige sozioökonomische Entwicklung gesehen. Die Rolle eines ökonomischen Thermostats könnte ein Nachhaltigkeitsparameter namens Suffizienz übernehmen.
Suffizienz steht für eine bewusste Selbstbegrenzung im Verbrauch von Ressourcen und Endprodukten auf ein Maß, das zwischen Vermeidung von Unterversorgung und Vermeidung von Exzessen liegt. Vereinfacht ausgedrückt: Sie steht für Entrümpelung.
Lioudmila Chatalova
Der Begriff, der eigentlich aus der Ökologie kommt, tauchte in der ökonomischen Debatte der 1970er Jahre zuerst als ein radikaler Gegenentwurf zum nicht nachhaltigen Wachstumsmodell auf. Prominente Wirtschaftswissenschaftler wie Ernst Schumacher und Herman Daly forderten eine Absage an das materielle Wirtschaftswachstum und die Rückkehr zum gesunden menschlichen Maß.
Grünes Wachstum: Effizienz, Konsistenz und Suffizienz im Einklang
Heute wird die Idee des Maßvollen, des Genügsamen in der Wirtschaft nicht mehr im Gegensatz zu, sondern im Dreiklang mit Effizienz und Konsistenz betrachtet. Sie greift Aspekte der internationalen und intergenerationellen Gerechtigkeit auf und spiegelt das postmaterielle Bild von einem guten, genügsamen Leben wider.
Unterstützung findet ein solches Verständnis von Suffizienz in der neueren multidisziplinären Forschung, die einen stetig positiven Zusammenhang zwischen dem Niveau des materiellen Wohlstands und der Lebensqualität in Frage stellt.
Dennoch, auch ein halbes Jahrhundert später, gilt Suffizienz in der Wirtschaftsforschung und -politik weitgehend als rückschrittlich, antikapitalistisch und kaum umsetzbar. Das liegt nicht nur an den vielen missverständlichen Auslegungen des Begriffs – wie beispielsweise seine Gleichsetzung mit Wachstumsrücknahme oder gar Mangelwirtschaft.
Anders als viele Postwachstum-Konzepte, mit denen Suffizienz tatsächlich viel gemeinsam hat, schließt sie ein gesundes, maßvolles Wirtschaftswachstum nicht aus. Die eigentliche Ursache für unser Hadern mit Suffizienz ist, dass sie nicht als technoökonomischer Parameter, sondern als soziales Prinzip ins Wirken kommt.
Um eigenen oder kollektiven Konsum auf seine Notwendigkeit und Angemessenheit zu prüfen und gegebenenfalls Wirtschaftsweisen, Kaufgewohnheiten und Lebensstile umzustellen, muss man etwas tun, was man gar nicht gern tut: Man muss ökonomische Imperative, Denkansätze und Verhaltensweisen ändern.
Denkansätze und Gewohnheiten ändern
Wer schon mit dem Rauchen aufhören oder sich gesünder ernähren wollte, der weiß, wie schwierig es ist, eigenes Verhalten und Gewohnheiten zu ändern. Hinzu kommt, dass, wie der Philosoph Peter Sloterdijk anmerkt, liberale Gesellschaften mit dem Grundrecht des Individuums auf Selbstentfaltung indirekt auch ein Recht auf Verschwendung schützen.
Eine staatlich verordnete Verhaltensänderung wäre somit keine gute und kaum umsetzbare Idee. Das bedeutet aber auch, dass in einer Demokratie Suffizienz in deutlich stärkerem Maße als andere Nachhaltigkeitsargumente von individuellen Entscheidungen getragen wird. Studien zeigen: Wenn 17 bis 40 Prozent der Bevölkerung umdenken, können sogenannte gesellschaftliche Kippprozesse auslöst werden.
Gute Vernetzung und sozialer Einfluss können diese Schwelle weiter senken. Viele Nachhaltigkeitstrends sind aus solchen Prozessen erwachsen: der reduzierte Einsatz von Verpackungsmaterial, globale Klimaschutzbewegungen oder die Teilnahme an Programmen, die Lebensmittel vor dem Wegwerfen retten. Auch Labels für Tierhaltungsformen und Reparaturfähigkeit von Elektrogeräten oder steigende Zahl von Viertagewoche-Verträgen in Branchen mit Fachkräftemangel sind keine Initiativen der Unternehmen. Sie sind Antworten auf neue gesellschaftliche Forderungen.
Konsumenten-Suffizienz könnte für nachhaltigere Wirtschaft sorgen
Neuere Suffizienz-Forschung deutet darauf hin, dass allein die Konsumenten-Suffizienz die Wirtschaft nachhaltig machen könnte. Allerdings zum Preis der Wachstumsrücknahme und genügsamer Lebensstile.
Mit zusätzlichen Suffizienz-Maßnahmen der Produzenten – wie die Vermeidung von Überproduktion und bessere Umweltverträglichkeit – wäre nicht nur eine zukunftsfähige, sondern auch eine leicht wachsende Wirtschaft möglich. Studien geben allerdings ungleiche Einschätzungen darüber ab, in welcher Implementierungsreihenfolge die Strategien der Effizienz, Konsistenz und Suffizienz ein besseres Gesamtergebnis erzielen könnten.
Doch sie alle sehen die Kombination aus den drei Strategien als zwingend notwendig für eine langfristig nachhaltige, resiliente gesellschaftliche Entwicklung, die mit weniger Ressourcen besser auskommt.
Sind wir bereit für grünes Wachstum?
Sind wir aber für genügsamere Lebensstile und gemäßigtere Ansprüche schon bereit? Vielleicht noch nicht ganz und bestimmt nicht alle von uns. Doch die Voraussetzungen dafür sind heute deutlich besser als vor 50 Jahren. Heutige Industrieländer sind übersättigte Gesellschaften mit einer noch starken und veränderungswilligen Mittelschicht.
Der Druck einer sinkenden Nachfrage nach nichtnachhaltigen Produkten kann die Politik und Wirtschaft bereitwilliger machen, mit entsprechenden Rahmenbedingungen und Angeboten zu reagieren.
Die Digitalisierung treibt seit den 1990-ern die Dematerialisierung unseres Alltages voran, während Informationen physische Güter und Dienstleistungen von der Position des wichtigsten Massenprodukts zunehmend verdrängen. Die faszinierende und zugleich angsteinflößende KI-Entwicklung provoziert schnellere Entwicklung von Verhaltensinnovationen. Diese sind unter anderem auch für die Akzeptanz der Suffizienz wichtig.
Der Druck zu handeln kommt auch von den sich häufenden extremen Ereignissen wie Dürren, Pandemien und Kriegen. Der globale Corona-Lockdown hat das eingetaktete Wirtschaftsleben der Überkonsumgesellschaften durchlässiger für Veränderungen gemacht. Auf einmal war der Wunsch da, den Keller zu entrümpeln, mehr Fahrrad zu fahren und weniger oder anders zu arbeiten.
Möglich war das jedoch nur, weil die nötigen Technologien, der rechtliche Rahmen, finanzielle Absicherungen und ein weitgehend geteiltes Freiheitsverständnis da waren. Die Zeit bietet uns eine günstige Gelegenheit fürs Umdenken. Ob uns dieses gelingt, wird auch an der Zahl der Flugreisen und Kreuzfahrten abzulesen sein.
Weitere Beiträge zum Thema auf unserem Blog:
Wirtschaftswachstum oder -schrumpfung? Eine Frage der Entkopplung von Sara Holzmann, Dr. Thieß Petersen und Dr. Marcus Wortmann, Bertelsmann Stiftung
Nachhaltigen Konsum neu verstehen von Dr. Renate Hübner, Uni Klagenfurt
Wachstum und Ressourceneffizienz – Trivialitäten und trügerische Gewissheiten von Prof. Dr. Hans Diefenbacher, Uni Heidelberg
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