Bedingungen für einen innovativen Wettbewerb: „Mit einer Lohnpolitik als Produktivitätspeitsche aus der Krise“
Das Produktivitätswachstum ist in den meisten Industrienationen in den letzten 20 Jahren zum Erliegen gekommen. In Deutschland ist es insbesondere seit der Einführung des Euro regelrecht kollabiert (cf. Abbildung 1).
Im Hinblick auf die großen demografischen Herausforderungen sind diese Tendenzen höchst bedrohlich, denn mit dem Produktivitätswachstum steht und fällt die wirtschaftliche Entwicklung.
Abgesehen davon, dass eine höhere Produktivität der einzige Hebel zur Steigerung des Realeinkommens ist, ist es vor allem in einer alternden Gesellschaft ein Problem. Sofern die Produktivität nämlich ordentlich wächst, gibt es keine Schwierigkeiten damit, wenn immer weniger junge Menschen immer mehr alte Menschen versorgen müssen.
Abbildung 1 – Quelle: OECD
Gründe für den Rückgang des Produktivitätswachstums
Was also sind die Gründe für den Rückgang des Produktivitätswachstums? Aus theoretischer Sicht ist es unstrittig, dass Investitionen und technologischer Fortschritt der Motor wirtschaftlicher Entwicklung sind und damit die Grundlage des Produktivitätswachstums bilden.
Bei den auf niedrigem Niveau stagnierenden Investitionsquoten sind die beobachtbaren Produktivitätstendenzen somit wenig verwunderlich.
Doch was ist der Grund, weshalb die Unternehmen nicht mehr investieren?
In meinem neuen Buch, „Kampf der Nationen“ (Westend Verlag), gebe ich darauf eine theoretisch und empirisch fundierte Antwort. Die Hauptthese ist, dass das von den Industrienationen forcierte Modell eines Unterbietungswettbewerbs die Ursache der Malaise ist.
Insbesondere in der Eurozone kommt die Schärfe dieses Wettbewerbs seit Beginn der Währungsunion zum Tragen, denn hier besteht der Mechanismus zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit hauptsächlich über eine interne Abwertung, das heißt eine Senkung der Löhne – und nicht über eine Steigerung der Produktivität.
Abbildung 2 zeigt dies anhand der Entwicklung der Lohnstückkosten (Löhne im Verhältnis zur Produktivität) in einigen ausgewählten Eurostaaten. Wir sehen dabei, dass Deutschland durch die Lohnzurückhaltung in den 2000er den Maßstab an Wettbewerbsfähigkeit für die anderen Länder setzt – dies allerdings auf einem sehr deflationären Niveau.
Abbildung 2 – Quelle: AMECO database
Wenn alle versuchen, das deutsche Modell zu kopieren, dann führen Lohnsenkungen zu Stagnation und Arbeitslosigkeit, denn die Nachfrage bricht zusammen. Für einen so großen Wirtschaftsraum wie die Eurozone ist es nämlich unmöglich, dass die ausgefallene Binnennachfrage durch den Außenhandel kompensiert wird, wie Abbildung 3 es uns in aller Deutlichkeit zeigt.
In meinem Buch selbst veranschauliche ich die Entwicklungen des Lohnsenkungswettbewerbs anhand der Automobilindustrie, wo es vor allem zu Zeiten der Arbeitsmarktreformen in den 2000er-Jahren nur darum ging, die Löhne zu drücken, Arbeitsmärkte zu flexibilisieren und Tarifverträge aufzuweichen, anstatt die Wettbewerbsfähigkeit durch Innovation und Produktivität zu erhöhen.
Mit anderen Worten: Der Fokus lag weitgehend auf dem Erhalt der bestehenden Produktionsmethoden und einer Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit durch Senkung der Lohnkosten – sowohl im Produktionsverbund innerhalb Deutschlands sowie einer Umstrukturierung der Wertschöpfungsketten durch Produktionsauslagerungen in Niedriglohnländer (Kaczmarczyk, 2022).
Abbildung 3 – Quelle: AMECO database
Statische Theorie für eine dynamische Wirtschaft
Wo jedoch liegt das Problem eines solchen Wettbewerbs? Die der Europäischen Union zugrundeliegende Wettbewerbspolitik baut im Kern auf der ordoliberalen Schule auf, die wiederum auf der neoklassischen Theorie basiert.
Mehr Wettbewerb ist in dieser Denkweise ein Synonym für mehr Fortschritt. Sofern der Staat den wettbewerbspolitischen Rahmen setzt, die Preise flexibel sind, und alle Marktteilnehmer gegeneinander konkurrieren, stellt sich technologischer Fortschritt „von selbst“ ein.
Allerdings hat die neoklassische Theorie und damit auch der Ordoliberalismus ein gewaltiges Manko: es gibt keine Erklärung dafür, woher dieser technologische Fortschritt kommt. In einem möglichst perfekten Wettbewerb, was das Eldorado der meisten Ökonomen ist, herrscht nämlich maximale Effizienz.
Die Produktion muss sich den relativen Preisen von Arbeit und Kapital anpassen, denn ansonsten können die Firmen das Produkt nicht mehr zum gegebenen Marktpreis anbieten und scheiden aus. Eine Optimierung der Produktion ist deshalb das Gebot der Stunde, der technologische Fortschritt fällt dann vom Himmel. Diese exogene Störung des Gleichgewichts führt zu einem neuen Gleichgewicht – doch was da genau passiert ist, kann weder die Theorie noch das Modell erklären.
Der Entwicklungsökonom Joseph Schumpeter war einer der schärfsten Kritiker dieser statischen Theorie. Sie mag seiner Ansicht nach auf Wirtschaften zutreffen, die in einem sehr frühen und damit zu überwindenden Stadium ihrer Entwicklung sind. Eine Theorie der Statik allerdings, stellt er fest, kann keine dynamische Entwicklung erklären (Schumpeter, 1942; 2017).
Wirtschaft dynamisch denken
Schumpeter versteht Entwicklung als ein Prozess der Erneuerung der Produktionsstrukturen, der mit einer höheren Gesamtproduktivität einhergeht. Das geschieht jedoch nicht durch die Optimierung der Produktion, wie es im Wettbewerb der Neoklassik der Fall ist. Ganz im Gegenteil.
Schumpeter zufolge ergeben sich Innovationen (also neue Produkte, Produktionsmethoden, Organisationsformen etc.) durch eine Neukombination von Arbeit und Kapital, die dem Pionier durch einen Produktivitätsvorsprung einen temporären Vorteil im Markt verschaffen. Dadurch kann der Pionier entweder anderen Märkten die Nachfrage entziehen oder den gegebenen Markt durch höhere Margen oder niedrigere Preise penetrieren, solange der monopolistische Vorsprung von der Konkurrenz nicht wettgemacht wird.
Die Konkurrenz wiederum wird, um selbst zu überleben, die Innovation des Pioniers kopieren müssen. So verdrängt das Neue das Alte, was gemeinhin als „schöpferische Zerstörung“ bekannt ist. Dies geht zwangsläufig mit einer Erneuerung der Produktionsstrukturen und einer höheren Gesamtproduktivität einher. Innovation kommt somit nicht „von außen“, sondern ist das Ergebnis einer endogenen Entwicklung.
Sobald der Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung in Gang gesetzt ist, ist das Gleichgewicht passé. Auch dynamische Gleichgewichte gibt es nicht. Die ursprüngliche Störung des Pioniers erzeugt weitere Störungen. Neukombinationen führen zu weiteren Neukombinationen (Schumpeter, 2017).
Bedingungen für einen innovativen Wettbewerb
Für die Wettbewerbspolitik heißt das, dass wir umdenken müssen: Wir müssen weg von einem Wettbewerb der Optimierung hin zu einem Wettbewerb der Innovationen. Nicht die Firmen sollen sich durchsetzen, die ihre Produktionsmethoden beibehalten und ihre Wettbewerbsfähigkeit durch eine Senkung der Löhne steigern, sondern die, die bei einem gegebenen Lohnniveau ihre Produktivität erhöhen.
Dazu muss der Staat jedoch viel weitreichender in „den Markt“ eingreifen.
Er muss zunächst sicherstellen, dass die Startbedingungen für alle Unternehmen gleich sind. Das bedeutet gleiche Lohnkosten für die Unternehmen eines Sektors (sprich: eine hohe Tarifbindung) und ein insgesamt niedriges Zinsniveau.
Zudem muss der Staat die Lohnpolitik so gestalten, dass das Lohnniveau der goldenen Lohnregel folgt. Das bedeutet, die Löhne müssen so stark steigen, wie es dem zu erwartenden Produktivitätswachstum und der Zielinflationsrate entspricht. Letzteres müsste auch bei Direktinvestitionen verankert werden, denn ansonsten wird einfaches Outsourcing in Niedriglohnländer das Mittel der Wahl (und eine Middle-Income Trap für die Entwicklungsländer bittere Realität) (Kaczmarczyk und Flassbeck, 2022).
Diese möglichst rigiden Rahmenbedingungen würden dafür sorgen, dass die Lohnpolitik wieder als Produktivitätspeitsche fungiert.
Wenn ich als Unternehmer weiß, dass Lohnsenkungen nicht möglich sind, bin ich mir bewusst, dass die einzige Möglichkeit zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit in Zukunft die Investition in eine höhere Produktivität ist.
Die durch die Lohnpolitik stabilisierte Nachfrage würden zudem dafür sorgen, dass die Arbeitskräfte aus den Sektoren, in denen Arbeitskräfte durch den technologischen Fortschritt frei werden sollten, ohne Weiteres eine Anstellung in anderen, neuen Tätigkeitsfeldern finden. Dieser Prozess der Veränderung der Beschäftigungsstruktur ist ein wesentlicher Bestandteil wirtschaftlicher Entwicklung, wie es in den letzten 200 Jahren gang und gebe war.
Durch die Steigerung der Masseneinkommen und damit eine höhere Nachfrage gab es allerdings keinen Verlust der Arbeitsplätze durch Maschinen und Technik – sondern vielmehr profitierten wir als Gesellschaft von einer höheren Produktivität.
Selbstverständlich bedarf es zu einem möglichst reibungslosen und sozialverträglichen Ablauf der strukturellen Transformation weiterer flankierender Maßnahmen des Staates, insbesondere über öffentliche Investitionen in Bildung, Infrastruktur und das Sozialwesen, die, gemessen am Bedarf, in den letzten Jahrzehnten ebenfalls massiv zurückgefahren wurden.
Aus einer dynamischen Sicht besteht für Schumpeter daher kein Zweifel, dass der Staat als „Manager der schöpferischen Zerstörung“ agiert (Burlamaqui, 2020). Und da wären wir wieder bei einem Markt, in dem Investitionen zur Grundvoraussetzung der Existenz der Unternehmen werden – ganz so, wie Schumpeter es sich wünscht.
Die Folge einer solchen 180 Gradwende in der Wirtschaftspolitik wäre eine 180 Gradwende beim Produktivitätswachstum. Damit wäre ein wesentliches Problem unserer Wirtschaft langfristig adressiert.
Literatur
Burlamaqui, L. (2020). Schumpeter, the entrepreneurial state and China. UCL Institute for Innovation and Public Purpose, Working Paper Series (IIPP WP 2020-15), verfügbar unter: https://www.ucl.ac.uk/bartlett/public-purpose/wp2020-15
Kaczmarczyk, P. (2021) Growth models in a world of international trade and capital flows: A Schumpeterian, firm-centric analysis of European economic development. PhD thesis, University of Sheffield; verfügbar unter: https://etheses.whiterose.ac.uk/30219/
Kaczmarczyk, P. und Flassbeck, H. (2022) Foreign direct investments and the dynamics of trade and capital flows: Schumpeterian insights for sustained development, Working Paper.
Schumpeter, J. (1942). Capitalism, Socialism and Democracy. Harper and Brothers, New York.
Schumpeter, J. (2017). The theory of economic development: an inquiry into profits, capital, credit, interest and the business cycle. Abingdon and New York: Routledge.
Weitere Beiträge zum Thema auf unserem Blog:
Wie wir aus weniger mehr für alle machen: eine Agenda für Produktivität und Teilhabe von Armando García Schmidt und Dr. Marcus Wortmann, Bertelsmann Stiftung
Der Rückgang des Produktivitätsfortschritts: Wo liegen die Ursachen? von Prof. Dr. Thomas Straubhaar, Uni Hamburg
Ein höherer Mindestlohn als „Produktivitätspeitsche“? von Prof. Dr. Tom Krebs, Uni Mannheim
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