Wie wir aus weniger mehr für alle machen: eine Agenda für Produktivität und Teilhabe

Armando García SchmidtBertelsmann Stiftung

Dr. Marcus WortmannBertelsmann Stiftung

Die deutsche Wirtschaft ist in schwierigem Fahrwasser: Rohstoff- und Energiepreise steigen rasant, Lieferengpässe verschärfen sich und die Corona-Pandemie spitzt sich wieder zu. Zeitgleich steht insbesondere der deutsche Mittelstand durch die digitale und ökologische Transformation unter erheblichem Veränderungsdruck.

Gestern veröffentlichte die neue Bundesregierung ihren ersten Jahreswirtschaftsbericht. Sie muss die Weichen so stellen, dass wir innovativer und nachhaltiger wirtschaften und dabei unsere inklusive Wirtschaftsform erhalten.

Wie es gelingen kann, das nötige Produktivitätswachstum hierfür inklusiv zu gestalten, zeigt unsere Agenda Produktivität und Teilhabe. Wir schlagen konkrete Maßnahmen vor, die auf den Ergebnissen unserer Projektarbeit basieren. Acht Handlungsfelder sind dabei von zentraler Bedeutung:

Kapital Wissen

Kaum eine Ressource ist heute so entscheidend für den Erfolg der Unternehmen wie das Wissen, das in ihnen steckt: Software oder Lizenzen, Forschung und Entwicklung und nicht zuletzt die Kompetenzen und der Ausbildungsstand der Beschäftigten.

In einer digitalisierten Wirtschaft können technologische Neuerungen Geschäftsfelder schneller und umfassender verändern als je zuvor. Die Innovationszyklen beschleunigen sich und werden gleichzeitig aufwendiger und anspruchsvoller.

Bestehen können nur jene Unternehmen, die vorausschauend in ihr Wissenskapital investieren.

Viele deutsche Unternehmen hängen gerade hier zurück. Innovationstreiber sind nur wenige meist große Konzerne.

Wie schnell all jene, die ihr Geschäftsmodell oder zumindest ihren Vertrieb konsequent digitalisiert haben, auf eine Krise reagieren können, zeigt die Corona-Pandemie. Eine Ausnahmesituation, ohne Frage, aber sie beschleunigt einen Trend: In der digitalen Wirtschaft kann ein Geschäftsmodell von heute auf morgen auf den Kopf gestellt werden.

Wer sich zu lange auf bisherigem Erfolg ausruht, kann schnell ins Trudeln geraten. Wer hingegen vorausschaut und konsequent in das eigene Wissenskapital investiert, ist resilienter und kann sein Potenzial besser ausschöpfen.

Zwar investiert Deutschlands Wirtschaft heute schon mehr in Wissenskapital als in herkömmliche Anlagegüter. Im Vergleich mit der Konkurrenz aus Ländern wie Frankreich oder den USA liegt Deutschland aber noch deutlich zurück.

Dieser Rückstand muss vor allem die besonders betroffenen kleinen und mittleren Unternehmen sowie die Politik alarmieren, weil die Zukunftsfähigkeit der gesamten Volkswirtschaft daran hängt.

Die Unternehmen müssen stärker investieren, vor allem in Aus- und Weiterbildung ihrer Beschäftigten. Die Aufgabe der Politik ist, den Unternehmen die Aufholjagd durch bessere Abschreibungsbedingungen und Fördermaßnahmen zu erleichtern.

Land der Leuchttürme

Gerade der Mittelstand braucht auch deshalb schnellere Erfolge, weil sich eine große Hoffnung der digitalen Transformation nicht erfüllt hat: Die Kluft zwischen den großen Städten und ländlichen Regionen, zwischen den dominanten wirtschaftlichen Playern und den kleineren Wettbewerbern verringert sich nicht, sie wird sogar größer.

Wissensintensive Dienstleistungen prägen die Wirtschaft immer mehr und finden vor allem in den wachsenden Metropolen statt. Die hier ansässigen großen Unternehmen sind die wesentlichen Innovationstreiber. Sie arbeiten mit Universitäten und Forschungsinstituten zusammen und locken gut ausgebildete Nachwuchskräfte an.

Unternehmen fernab dieser Zentren finden vielfach keine Fachkräfte mehr und laufen Gefahr, den Anschluss zu verlieren.

Innovationen können dort kaum noch stattfinden.

Die deutsche Wirtschaft mit ihren traditionell starken kleinen und mittleren Zentren ist im Vergleich zu anderen Ländern immer noch dezentral aufgestellt, doch Konzentrationstendenzen sind auch hier nachweisbar.

Deutschland sollte sich diesem Trend nicht einfach so hingeben. Die USA und Großbritannien zeigen, welche sozialen und politischen Folgen es haben kann, wenn Teile des Landes wirtschaftlich verwaisen.

Politik  sollte sich auf die Stärken der regional verstreuten kleinen und mittleren Unternehmen besinnen, auf die mittelständischen Tüftler, die seit jeher Innovatoren waren und ihre Produkte und Lösungen stetig verbessert haben. Dafür brauchen diese aber bessere Netzwerke, intelligente Cluster und innovative Forschungseinrichtungen.

Die könnten den Unternehmen helfen, regionale Vorteile zu nutzen, gemeinsam Innovationen zu finanzieren, Neugründungen in ein regionales Wirtschaftsnetz zu integrieren oder sich auf bestimmte Sparten zu spezialisieren.

Derartige Leuchtturmprojekte könnten dazu beitragen, Deutschlands Wirtschaft nicht nur in einzelnen Metropolen, sondern auch in der Fläche wieder stark zu machen.

Moderne Mobilitätskonzepte, lückenlose digitale Vernetzung, eine bessere Verbindung von Stadt und Land aber auch eine breit aufgestellte Landschaft von vor allem angewandt arbeitenden Hochschulen sind wesentliche Voraussetzungen dafür.

Investor Staat

Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 hat Deutschland öffentliche Investitionen gefährlich lange vernachlässigt. Fehlender Breitbandanschluss, Funklöcher und schlecht ausgestattete Schulen: Wesentliche Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland sind heute marode. Das ist keine gute Ausgangslage für mehr Produktivität und Teilhabe.

Noch ist der Staat gefordert, um die akuten Auswirkungen der Corona-Krise abzufedern. Doch um ein Hochtechnologiestandort zu bleiben, braucht Deutschland einen Modernisierungsschub.

Dafür muss der Staat weitsichtig investieren, in Digitalisierung, Infrastruktur, Forschung und Entwicklung sowie ins Bildungssystem.

Da viele Ausgaben in der Verantwortung der Kommunen liegen, muss sichergestellt sein, dass ihre oft hohe Verschuldung wesentliche Investitionen nicht vereitelt und regionalen Ungleichgewichten Vorschub geleistet wird. Gerade wenn sich in der Wirtschaft Unsicherheit breit macht, kann der Staat mit Investitionen Stabilität schaffen und Impulse setzen.

Das Gute an investiven öffentlichen Ausgaben: Sie modernisieren nicht nur die Infrastruktur, sondern ziehen in der Regel auch private Investitionen nach sich – eine wichtige Voraussetzung für mehr Innovation, Produktivität sowie den umwelt- und klimagerechten Umbau der Wirtschaft.

Grundlegend für den nötigen Wandel ist auch hier das Wissen: Investitionen ins Bildungssystem zahlen sich mehrfach aus – gesellschaftlich und wirtschaftlich.

Auch vor der Gründung neuer Hochschulen darf nicht zurückgeschreckt werden. Hier gibt es gute Signale aus der Politik. Die Ampel-Parteien wollen zentrale Investitionsprojekte angehen und die Verfahrensdauer für öffentliche und private Investitionen verkürzen. 

Neue Spielregeln

Wettbewerb sorgt für Innovationen und niedrige Preise für Verbraucher:innen, aber nur solange er fair ist. Vor allem die großen Tech-Unternehmen haben eine problematische Gatekeeper-Funktion. Mit dem Zugang zu Millionen Kund:innen bestimmen sie den Wettbewerb wesentlich.

Das darf aber nicht dazu führen, dass Wettbewerb eingeschränkt wird.

Deutschland hat zwar noch nicht so eine starke Marktkonzentration erreicht wie etwa die USA. Aber auch hierzulande gibt es einige Superstarfirmen, die besonders produktiv arbeiten und innovativ sind. Dadurch erlangen sie immer größere Marktanteile.

Häufig setzen sie viel Kapital ein, haben aber niedrige Arbeitskosten. Wenn sich die Marktmacht zu ihren Gunsten verschiebt und damit Wettbewerb abnimmt, droht sich das auf den Arbeitsmarkt insgesamt auszuwirken – mit einer niedrigeren Lohnquote erst in der eigenen Branche und schließlich auch generell.

Immerhin kann das Bundeskartellamt durch eine Gesetzesnovelle mittlerweile gezielter und schneller gegen Wettbewerbsverzerrung vorgehen. Darüber hinaus versucht die EU-Kommission, die Macht der großen Konzerne mit ihrem Gesetz über die digitalen Märkte (Digital Markets Act) einzuschränken.

Die großen Tech-Unternehmen sollen nicht mehr allein darüber wachen, wer Zugang zu ihren Daten erhält und wer nicht. Das Gesetz soll es anderen Unternehmen ermöglichen, selbst die Daten zu nutzen, die sie generiert haben.

Für die EU ist es eine heikle Aufgabe, die heimische Wirtschaft auf der einen Seite vor der Dominanz US-amerikanischer Plattformunternehmen zu beschützen sowie chinesischem Staatsinterventionismus etwas entgegenzusetzen und auf der anderen Seite nicht zu oft ins Marktgeschehen einzugreifen.

Die EU sollte ihre Beihilferegeln aber auch auf Unternehmen aus Drittstaaten anwenden, damit europäische Unternehmen gleiche Chancen haben. Der internationale Wettbewerb fördert Innovation und Produktivität. Er muss aber fairen Spielregeln folgen. 

© Anika Huizinga – unsplash.com

Kreative Zerstörung

 Klimaschutz und Ressourceneffizienz müssen nicht nur Verpflichtung sein, sie sind auch eine Chance, neue Geschäftsmodelle zu erschließen. Dafür braucht Deutschlands Wirtschaft neue Ideen, Lösungen und Technologien und den Mut, mit alten Mustern zu brechen.

Besonders neue Unternehmen können hier für Wandel und Fortschritt sorgen, womit sie den etablierten Wettbewerbern ebenfalls einen Anstoß geben können.

Kreative Zerstörer halten die Wirtschaft in Bewegung.

Junge Unternehmen und neue Technologien verdrängen Altbewährtes und stellen herkömmliche Strukturen infrage. Dafür brauchen sie aber ein Umfeld, das dieses Wagnis erleichtert.

Gerade Startups, die auf neue Technologien bauen, haben oft Schwierigkeiten, ihr Vorhaben zu finanzieren. Es ist immer noch mühsam, in Deutschland an Wagniskapital zu kommen. Die schwache Dynamik am Gründungsmarkt belastet die Produktivität in Deutschland.

Hoffnung macht, dass die Zahl von Startups zugelegt hat, also besonders innovativen Gründung mit Aussicht auf kräftiges Wachstum. Ein großer Teil dieser neuen Unternehmen setzt auf digitale Innovationen und auf Nachhaltigkeit. Die Politik kann helfen, indem sie Hürden beseitigt.

Mit Förderprogrammen für Gründer:innen ist die Politik bereits in die richtige Richtung gegangen. Aber sie kann noch besser auf die spezifischen Anforderungen von angehenden Unternehmern eingehen.

Wenn Startups beispielsweise noch keine hohen Gehälter zahlen können, machen sie das gern wett, indem sie neue Mitarbeiter:innen am Unternehmen beteiligen. Die Politik täte hier gut daran, Steuernachteile zu beseitigen.

Und es wäre hilfreich, Anreize für ein breites Feld an potenziellen Gründern zu schaffen, nicht nur für einige Spitzenreiter mit hochinnovativen Ideen. Das reicht von Bürokratieabbau bis hin zur Förderung von Gesellschaftsgruppen, die sich bisher nicht als besonders eifrige Gründer:innen hervorgetan haben. 

Mittelstand 2025

Der Mittelstand gilt nicht ohne Grund als Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Die rund 3,5 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen trugen 2019 mehr als 61 Prozent zur Netto-Wertschöpfung bei. Sie beschäftigen die deutliche Mehrheit der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten.

Der Mittelstand ist auch unverzichtbar für die Ausbildung. 82 Prozent der Auszubildenden lernten 2019 in mittelständischen Unternehmen.

Was Deutschland braucht, ist ein revitalisierter Mittelstand, der Anschluss hält an die großen Unternehmen, der in gut vernetzten dezentralen Standorten mit den Metropolen Schritt hält, der in Wissen ebenso selbstverständlich investiert wie in neue Maschinen und der Innovationen voranbringt.

Dafür sind in erster Linie die Unternehmen selbst verantwortlich. Aber auch der Staat muss aktiv werden.

Deutschland braucht eine politische Strategie, um den Mittelstand zu stärken.

Unternehmen benötigen bessere Forschungsförderung, um in Innovationen zu investieren, sowie mehr Fort- und Weiterbildung. Darüber hinaus muss der Staat als Investor aktiv werden.

Es geht nicht an, dass Unternehmen außerhalb der urbanen Zentren noch immer mit fehlendem Breitbandanschluss oder mit Funklöchern zu kämpfen haben. Um ein Standort für Hochtechnologie zu bleiben, muss Deutschland moderner werden. Neben einer besseren physischen und digitalen Infrastruktur muss in Bildung und eine effiziente Verwaltung investiert werden. 

Produktives Europa

Das Produktivitätswachstum der vergangenen Jahre in Europa ist zu schwach. Um die Produktivität schneller wachsen zu lassen, helfen zwei wesentliche Instrumente: Innovationen und Investitionen.

Die EU könnte über die Europäische Investitionsbank zum Beispiel selbst mehr öffentlich investieren und Anreize für private Investoren schaffen. So könnte sie etwa bestehende Hemmnisse im Binnenmarkt für finanzielle und digitale Dienstleistungen abbauen..

Wichtig ist allerdings, dass sie nicht einfach nur insgesamt die Produktivität steigert, sondern auch darauf achtet, dass nicht ein Teil der Mitgliedstaaten den anderen in Sachen Produktivität und technologischer Fortschritt abhängt. Ein zu großes Gefälle in der wirtschaftlichen Entwicklung würde nicht nur dem sozialen Frieden, sondern auch dem politischen Entscheidungsprozess schaden.

Deshalb sollten die Produktivitätsstrategien der Mitgliedsstaaten besser ineinandergreifen und die Regional- und Strukturpolitik stärker auf Produktivitätsdivergenzen ausgerichtet werden. Auch die Innovationspolitik der EU sollte nicht allein das Ziel haben, die Wettbewerbsfähigkeit nach außen zu stärken.

Wenn Innovationen auch der Frage folgen, wie sie dazu beitragen können, gesellschaftliche Probleme zu lösen, steigt der Rückhalt in der Bevölkerung.

 Produktivität neu denken

Schließlich muss das Produktivitätsstreben dem großen Ziel folgen, das die EU-Kommission zu Recht vorgegeben hat: Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Dafür müssen die Akteure festlegen, wie sie Produktivität verstehen und erreichen wollen.

Ein Gedanke ist zentral: Wie kann die Wirtschaft effizienter werden, indem sie Rohstoffe, Energie und Böden sparsamer nutzt? Das ist ein Bruch mit dem alten Dogma, wonach Produktivität mit dem Fokus auf Arbeit und Kapital einer klassischen Wachstumslogik folgt.

Die Politik stellt das vor eine klare Aufgabe: Den Verbrauch von Energie und Ressourcen zu senken und die Wirtschaft weniger abhängig zu machen vom BIP-Wachstum.

Aufgabe ist es, dem Ziel einer Kreislaufwirtschaft näher zu kommen.

Ein Weg, der immer reger diskutiert wird, wäre, den Verbrauch von Ressourcen stärker zu besteuern und umweltschädliche Subventionen abzubauen. Das würde klimaschädliches Verhalten unattraktiver machen.

Der Green Deal der EU verlangt eine Entkopplung von Wachstum und Treibhausgasemissionen und dem muss auch unser Produktivitätsverständnis Rechnung tragen.

Eine Agenda für mehr Produktivität und Teilhabe

Lassen Sie sich nicht nur inhaltlich, sondern auch publizistisch auf Neues ein und steuern Sie durch unsere interaktive Online-Agenda:

Wie wir aus weniger mehr für alle machen – Agenda für Produktivität und Teilhabe

 



Kommentar verfassen