Wie eine Kohleregion durch Kulturarbeit grün wurde

Dr. Julia PlessingDeutsch-Französisches Zukunftswerk

Die nordfranzösische Stadt Loos-en-Gohelle steht stellvertretend für zahlreiche Kohleregionen in Deutschland und Frankreich, die mit dem Kohleausstieg nach einer neuen Identität suchen müssen. Loos-en-Gohelle ist dies gelungen – mit Hilfe von partizipativer Kulturarbeit.

Eine Stadt im Wandel

Als Loos-en-Gohelle seine Kohle-Bergwerke in den 1980er-Jahren schloss, rutschte die französische Kleinstadt in eine tiefe soziale und wirtschaftliche Krise. Mittlerweile steht die Gemeinde wirtschaftlich besser da als ihre Nachbarorte: weniger Wohnungsleerstand, eine geringere Arbeitslosenquote und eine wachsende Beschäftigungsrate.

Gleichzeitig ist die Stadt zur Pilotstadt der nachhaltigen Entwicklung geworden. Wir vom Deutsch-Französischen Zukunftswerk, einem Projekt des Research Institute for Sustainability (RIFS), haben uns gefragt: Wie hat Loos-en-Gohelle das geschafft? Und welche Rolle spielt dabei der partizipative Ansatz, den Loos-en-Gohelle mit seiner lokalen Kulturarbeit verfolgte?

Die transformative Kraft partizipativer Kulturarbeit

Die vom Zukunftswerk beauftragte Studie vergleicht den Ansatz von Loos-en-Gohelle mit dem von zwei benachbarten Kommunen. Denn Kulturarbeit ist seit den 1990er-Jahren eine offizielle Strategie, die die gesamte Bergbauregion Hauts-de-France verfolgt. Dabei stechen zwei Merkmale der Kulturarbeit der Kleinstadt hervor.

Partizipation

Erstens setzte die Stadtverwaltung auf partizipative Kulturarbeit, während die Nachbarorte eher eine Kulturarbeit mit Außenwirkung verfolgten. In Loos-en-Gohelle wurde die Bevölkerung von Beginn an in die Gestaltung von kulturellen und künstlerischen Aktivitäten einbezogen.

Das bis heute jährlich stattfindende Festival „Les Gohelliades“ wird zum größten Teil von der Bevölkerung selbst gestaltet. Die Einwohner:innen stehen mit auf der Bühne. Ebenso gestalteten die Bewohner:innen die Bewerbung, mit der die Abraumhalden als UNESCO- Kulturerbe deklariert werden sollten, aktiv mit. Mit Erfolg. Sie strickten gemeinsam einen kilometerlangen Schal, der sich um die Abraumhalde wandte.

Ferner unterstützt die Stadt Initiativen der Einwohner:innen mit dem sogenannten fifty-fifty Ansatz. Die Stadt stellt für Projekte Materialien, beispielsweise für einen Skaterpark oder die Begrünung der Innenstadt. Die Einwohner:innen kümmern sich um die Pflege und Aufsicht.

Gemeinsames Erzählen

Zweitens griff die Stadt bereits Anfang der 1990er-Jahre die Idee des lokalen Vereins Culture Commune auf und förderte die narrative Methode (im Französischen la mise en récit). So erzählten Einwohner:innen auf dem Festival „Les Gohélliades“ und in vielen anderen Formaten ihre Geschichten und Biographien.

Die Menschen konnten so zunächst um die gemeinsame Bergbauvergangenheit trauern, um dann ebenso gemeinsam in die Zukunft zu blicken. Das Erzählen ermöglichte die Verankerung des eigenen Schicksals in der Geschichte des Ortes. Es entwickelte sich zu einer Art Befreiungsakt, wie es uns Geoffrey Mathon, stellvertretender Bürgermeister von Loos-en-Gohelle, treffend beschreibt:

„Die Menschen haben ein so starkes Bedürfnis, ihre Wut, ihr Gefühl der Ungerechtigkeit, ihren Schmerz auszudrücken! Es ist absolut notwendig, Räume für diesen Ausdruck zu schaffen. Wir müssen diese Energie nutzen, um Maßnahmen zu ergreifen und Innovationen zu wagen.“

Geoffrey Mathon, stellvertretender Bürgermeister

Auf dieser Basis entwickelt die Kommune gemeinsam mit der Bevölkerung nachhaltige Projekte, vom biologischen Gemüseanbau bis zur Installation von Photovoltaikanlagen.

Hohes Engagement von der Politik

Eine Umfrage, die im Rahmen der Studie durchgeführt wurde, zeigt, dass die Bevölkerung von Loos-en-Gohelle sehr stark in ihrer Region verwurzelt ist und dass ihr Engagement für das lokale Leben bemerkenswert groß ist.

So geben 45 Prozent der Befragten an, dass sie sich aktiv am kulturellen Leben beteiligen. Weitere 40 Prozent verstehen sich als Zuschauer:innen der angebotenen Aktivitäten. Eine solche Entwicklung fordert einen großen Einsatz und Ressourcen in der Stadtverwaltung. In Loos-en-Gohelle konnte dies dank des enormen Engagements des Bürgermeisters geschehen. Wie könnte ein solcher Ansatz in anderen Kommunen repliziert werden?

Kultur als essenzieller Baustein für Regionalentwicklung

Das Deutsch-Französische Zukunftswerk hat sich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Als im Aachener Vertrag verankertes Projekt hat es die Aufgabe, für die Regierungen Frankreichs und Deutschlands konkrete Aktionsvorschläge zu entwickeln, um die sozial-ökologische Transformation auf kommunaler Ebene zu beschleunigen.

Als Basis dienen dabei Erfahrungen wie die von Loos-en-Gohelle. 2021 und 2022 haben wir die nordfranzösische Gemeinde mit dem Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt, der ebenso mit dem Strukturwandel zu kämpfen hat, in einen Erfahrungsaustausch gebracht. Anschließend haben wir in transdisziplinären Workshops mit weiteren Expert:innen Handlungsempfehlungen entwickelt. So entstanden sieben Empfehlungen, von denen sich die folgende an die Politik richtet.

Nationale Regierungen sollten lokale partizipative Kulturarbeit als zentralen Hebel für sozial-ökologische Transformation begreifen und stärken. Denn nicht alle Kommunen können dies, so wie in Loos-en-Gohelle geschehen, aus eigener Kraft stemmen.

Dr. Julia Plessing

Der Anfang ist gemacht: Förderpraxis in Frankreich und Deutschland

Umso spannender, dass der Ansatz des Erzählens, la mise en récit, nun von der französischen Umweltagentur ADEME als Instrument der lokalen sozial-ökologischen Transformation gefördert wird. So können Kommunen seit Beginn 2024 Projekte beantragen, die die Geschichte und die Identitätsmarker eines Ortes durch gemeinsames „Erzählen“ hervorheben. Laut Ausschreibung können diese „das Zugehörigkeitsgefühl der Einwohner:innen und/oder die Zustimmung zu einem Projekt des territorialen ökologischen Übergangs stärken“.

Auch in Deutschland gibt es inzwischen ein spannendes Förderprogramm zur Entwicklung ländlicher, insbesondere strukturschwacher Regionen. Das vom Bund finanzierte Programm Aller.Land für Kultur, Beteiligung und Demokratie fördert gemeinsam mit 96 Regionen längerfristige beteiligungsorientierte Kulturvorhaben.

Besondere Merkmale des Programms: Es ist auf sechs statt der üblichen drei oder vier Jahre angelegt und beinhaltet Beratung und Begleitung der geförderten Kommunen. Denn auch lokale kulturelle Aktivitäten brauchen Know-How und ein gewisses Maß an Professionalität, genau wie wirtschaftliche oder soziale Projekte. Der Anfang einer sinnvollen Förderpraxis ist also gemacht. Nun gilt es, diese auszubauen und zu verstetigen.

Weitere Beiträge zum Thema auf unserem Blog:

Die Gestaltung gerechter Strukturwandelprozesse: Perspektiven aus der Lausitz von Konrad Gürtler, IASS Potsdam

Die Politische Ökonomie der Kohle und der Einfluss des Krieges in der Ukraine auf die deutsche Energiepolitik von Dr. Dagmar Kiyar und Lukas Hermwille, Wuppertal Institut

Die Rolle von Narrativen auf dem Weg zu einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft von Machteld Simoens, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Dr. Anran Luo, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung



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