Die Gestaltung gerechter Strukturwandelprozesse: Perspektiven aus der Lausitz

Konrad GürtlerIASS Potsdam

Die Transformation hin zu einem erneuerbarem Energiesystem ist klimapolitisch geboten und muss in den nächsten Jahren beschleunigt werden. Für viele Regionen sind die damit einhergehenden Veränderungen mit großen Chancen verbunden.

Nichtsdestotrotz erfordert diese Umstellung auch den Ausstieg aus fossilen Technologien, der in bestimmten Regionen zu Herausforderungen führen kann. In diesen Ausstiegsprozessen ist es notwendig, die sozialen Folgen abzufedern.

Ein Beispiel dafür ist die Lausitz, in der durch den Ausstieg aus der Braunkohleförderung und -verstromung ein neuerlicher Strukturwandel notwendig wird.

Die Forderung nach „gerechten Übergängen“ (Just Transitions) wird unterdessen nicht mehr nur von Arbeitnehmervertreterinnen[*] erhoben1, sondern ist auch Teil der Politikansätze geworden, mit denen Transformationsregionen unterstützt werden sollen. So stellt die Europäische Union mit ihrem Mechanismus für einen gerechten Übergang2 gezielte Unterstützung für Regionen bereit, die sich auf dem Weg hin zur Klimaneutralität 2050 am stärksten umstellen müssen.

Aber was bedeutet eigentlich ein gerechter Übergang, ein gerechter Strukturwandel konkret?

Der Blick in die Lausitz zeigt, dass sich ein inklusiver und gerechter Wandel nicht allein an Fördermaßnahmen und neuen Arbeitsplätzen bemisst, sondern dass es insbesondere auch um gesellschaftliche Anerkennung und um Möglichkeiten der politischen Beteiligung geht.

Ein gerechter Strukturwandel für die Lausitz

Der Strukturwandel in der Lausitz soll gerecht ablaufen – auf dieses Ziel können sich viele einigen. Im öffentlichen Diskurs stehen oft finanzielle Fragen im Vordergrund.

Andererseits geht mit schrumpfenden Industrien der Verlust von Anerkennung einher.

Wie sich Aspekte der Umverteilung und Anerkennung in den Diskursen über einen gerechten Übergang vermischen, haben Konrad Gürtler (IASS Potsdam/ Radboud-Universität) und Jeremias Herberg (Radboud-Universität) in einer Studie untersucht, die im  Journal of Environmental Policy & Planning erschienen ist.3

Wie sich zeigt, sind die Vorstellungen über einen gerechten Strukturwandel von räumlichen und moralischen Spannungen geprägt: räumlich, weil sich die Diskussionen innerhalb und außerhalb der Region unterscheiden, und moralisch, weil unterschiedliche Vorstellungen darüber existieren, an welchen Kriterien sich ein gerechter Strukturwandel bemessen soll.

So werden die umfangreichen Fördermittel für die Braunkohleregionen von vielen in der Lausitz als Versuch verstanden, Konflikte durch eine großzügige Finanzierung zu beschwichtigen. Zu dieser Skepsis kommt häufig das Gefühl, zu wenig Anerkennung zu erhalten.

Verschiedene Dimensionen von Gerechtigkeit und ihre räumlichen Bezüge

Die Gerechtigkeitsforschung stellt insbesondere drei Dimensionen in den Mittelpunkt: Verteilungs-, Anerkennungs- und Verfahrensgerechtigkeit. Nancy Fraser erörtert diese Dimensionen als „rivalisierende Vorstellungen des Gegenstands der Gerechtigkeit“.4

  • Verteilungsgerechtigkeit befasst sich dabei mit der gerechten Verteilung sogenannter Primärgüter, zu denen nicht nur Vermögen und Einkommen zählen, sondern auch Rechte, Freiheiten und Möglichkeiten.5
  • Anerkennungsgerechtigkeit hingegen bezieht sich auf (Un-)gleichheiten des sozialen Status‘.6,7 Diese könnten unter anderem durch Mechanismen der Missachtung, Stigmatisierung oder Exklusion entstehen.
  • Neben anerkennungs- und verteilungsbezogenen Belangen spielt auch die prozedurale Dimension der Gerechtigkeit eine große Rolle. Dazu gehören der Zugang zu Informationen, eine sinnvolle Beteiligung an der Entscheidungsfindung, die Unvoreingenommenheit von Entscheidungsträgerinnen und der faire Zugang zu juristischen Verfahren.8

Die verschiedenen Dimensionen der Gerechtigkeit interagieren miteinander. Beispielsweise können sich wirtschaftliche Ungerechtigkeiten mit Prozessen kultureller Diskriminierung und Statusungleichheiten überschneiden.9

Darüber hinaus variieren Gerechtigkeitsvorstellungen nicht nur in Bezug auf den Gegenstand, um den es geht, sondern auch in Bezug auf den räumlichen Geltungsbereich, auf den die Ansprüche abzielen.

Bürgerinnen, Entscheidungsträger und Interessenvertreterinnen diskutieren dabei beispielsweise, wer für den Wandel verantwortlich ist und wer davon am meisten betroffen ist. Daraus ergeben sich normative Standpunkte dazu, auf welcher politischen Ebene die Transformation organisiert und unterstützt werden soll und welche Gruppen und welche Teile der Region Anspruch auf Strukturwandelunterstützung erhalten sollen.10

Dies gilt in beide Richtungen: Räumliche Ansprüche beruhen auf moralischen Überlegungen, während Argumente über Gerechtigkeit die Sichtweise auf räumliche Grenzen prägen. Zusammen bilden diese beiden Dimensionen ein moralisch-räumliches Feld, das die zutiefst politische Natur von Transformationen offenbart.11,12

© Herbert Aust – pixabay.de

„Bruchlinien“ im Spannungsfeld zwischen moralischen Ansprüchen und räumlichen Beziehungen

Um die divergierenden Gerechtigkeitsverständnisse im Strukturwandel besser zu verstehen, lohnt es sich, mit denjenigen zu sprechen, die mit ihnen täglich konfrontiert sind und die verschiedenen Vorstellungen navigieren müssen. Intermediäre Akteure wie Kommunalpolitiker müssen sich in diesem räumlichen und moralischen Spannungsfeld zurechtfinden.

Auf der Grundlage von Interviews lassen sich vier „moralische Bruchlinien“ herausarbeiten. Diese Bruchlinien entstehen anhand räumlicher Divergenzen, die auf moralischen Überlegungen beruhen. Sie sind stark von historischen und kulturellen Besonderheiten sowie von energiebezogenen Thematiken geprägt. Sie verdeutlichen, warum sich die Versöhnung in der Region trotz erheblicher Umverteilungsbemühungen als schwierig erweist.

 1. Das historische und kulturelle Erbe der Kohle

Viele der Befragten betonen Unterschiede zwischen der Energieregion Lausitz und anderen Regionen und verwiesen dabei auf die lange Geschichte der Kohleförderung und den Rückgang ihres wirtschaftlichen und kulturellen Werts. Sie berufen sich dabei auf eine historische Epoche, in der fossile Energienutzung stärker akzeptiert wurde.

Auch wenn sich dies geändert hat, fordern sie mehr Verständnis für die Schwierigkeiten des Übergangs und problematisieren im Hinblick auf die Energiewende, wie Kosten und Nutzen sowie Anerkennungsressourcen gesellschaftlich verteilt sind.

2. Die postsozialistische Transformationserfahrung

Die Erfahrungen im Umgang mit dem Strukturwandel der 1990er Jahre verdeutlichen ebenfalls, worin die Befragten besondere Herausforderungen für die Region Lausitz sehen. Kohleregionen in Ostdeutschland wurden in den 1990er Jahren von einem raschen Wandel erschüttert.

Obwohl die wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten am stärksten ins Gewicht fielen, erlebten viele Ostdeutsche auch soziale Unsicherheit und Statusverluste, die zum Teil noch immer bestehen und über die nachfolgenden Generationen weitergegeben wurden.13,14 Die negativen Erfahrungen aus der Vergangenheit erschweren nun die Bereitschaft, den Wandel der kommenden Jahre zu bewältigen, auch wenn er vergleichsweise weniger gravierend ausfallen wird.

3. Energieproduktion und -konsum

Die Abwertung der industriellen Arbeit und der damit verbundenen Lebensstile im Zuge des Kohleausstiegs offenbart eine Bruchlinie im Hinblick auf Energieerzeugung und -konsum. So betonen die Befragten die unterschiedlichen räumlichen und sozialen Beziehungen zur Energieproduktion. Diese unterscheide sich zwischen Energiekonsumentinnen in städtischen Zentren einerseits, und ländlichen Gebieten wie der Lausitz andererseits.

Die Befragten äußern dabei die Überzeugung, dass die Nähe zu Bergbaustandorten im Durchschnitt zu einer positiveren Bewertung fossiler Energie führt, wobei Energiekonsumenten in städtischen Ballungszentren sich weniger um die Herkunft der dort genutzten Energie kümmern würden.

4.Verantwortlichkeit für Energiewende

Viele der Befragten unterscheiden zwischen denjenigen, die die Entscheidungen zur Energiewende treffen, und denen, die die Kosten dafür zu tragen haben. Dies offenbart eine Bruchlinie im Hinblick auf die Verantwortlichkeit für die Energiewende.

Politische Anerkennung wird in dieser Sichtweise in erster Linie der Forderung nach einem ökologischen Wandel zuteil, wobei die Rolle industrieller Arbeit für die wirtschaftliche Stabilität Deutschlands unterschätzt werde. Viele der Befragten spielen dabei die negativen Umweltauswirkungen der Kohleindustrie herunter und verweisen die Verantwortlichkeit für die Energiewende auf andere Politikebenen.

Auf dem Weg zu einem inklusiven und gerechten Strukturwandel

Diese räumlich-moralischen Vorstellungen verdeutlichen die Sichtweise der befragten Kommunalverantwortlichen auf die Herausforderungen, die mit dem Strukturwandel einhergehen sowie auf die Unterstützungsnotwendigkeiten, die sich aus ihrer Sicht auf den verschiedenen politischen Ebenen ergeben.

Auch wenn nicht alle dieser Perspektiven unhinterfragt übernommen werden sollten, zeigen sie doch auf, welche Bruchlinien sich aus einer regionalen Innenperspektive ergeben.

Allerdings müssen die Anerkennungsforderungen, die angesichts der bewegten Geschichte der Lausitz plausibel sind, offen diskutiert und kritisch von populistischen Erzählungen unterschieden werden.

Dies ist gerade angesichts ihrer Instrumentalisierung durch rechtspopulistische Bewegungen in der Lausitz geboten.

Eine vorausschauende Anerkennungspolitik sollte zudem Prozesse in Gang setzen, die nicht nur die Wertschätzung für Arbeitnehmer aus der Kohleindustrie ins Auge fassen, sondern auch der sonstigen Vielfalt der Region Rechnung tragen. Im Hinblick auf Gendergerechtigkeit bei der Gestaltung des Strukturwandels15 oder die Rolle ethnischer Minderheiten wie der Sorben und Wenden existieren hier Defizite, die dringend behoben werden müssen.

Die beschriebenen Dynamiken verdeutlichen, dass finanzielle Förderungen allein nicht ausreichen werden, um den multi-dimensionalen Herausforderungen zu begegnen, die ein gerechter Strukturwandel mit sich bringt.

Vielmehr sind weitere Maßnahmen notwendig, um den Anerkennungsdefiziten zu begegnen und eine wirksame Beteiligung der Bevölkerung an der Gestaltung des Strukturwandels zu ermöglichen. Der Strukturwandel in der Lausitz lässt sich nur dann gerecht gestalten, wenn Fragen der Umverteilung, der Anerkennung und der Beteiligung, die sich gegenseitig bedingen, gleichermaßen berücksichtigt werden.

Die ausführlichen Ergebnisse der Studie sind im Journal of Environmental Policy & Planning (2021) unter dem Titel “Moral Rifts in the Coal Phase-Out — How Mayors navigate distributive and recognition-based Dimensions of a Just Transition in Lusatia” erschienen. 

Literatur

  1. ILO. Guidelines for a Just Transition towards Environmentally Sustainable Economies and Societies for All. International Labour Organization; 2015.
  2. European Commission. The Just Transition Mechanism: making sure no one is left behind. Published 2020. https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/european-green-deal/finance-and-green-deal/just-transition-mechanism_en
  3. Gürtler K, Herberg J. Moral Rifts in the Coal Phase-Out — How Mayors navigate distributive and recognition-based Dimensions of a Just Transition in Lusatia. J Environ Policy Plan. Published online 2021.
  4. Fraser N. Scales of Justice: Reimagining Political Space in a Globalizing World. Columbia University Press; 2009. doi:10.7312/fras14680
  5. Rawls J. A Theory of Justice. Harvard University Press; 1971.
  6. Fraser N. Justice Interruptus: Critical Reflections on the “Postsocialist” Condition. Routledge; 1997. https://books.google.de/books?id=c1kHLcVz4hEC
  7. Young IM. Justice and the Politics of Difference. Princeton University Press; 1990. doi:10.7312/blau17412-114
  8. Walker G. Environmental Justice: Concepts, Evidence and Politics. Routledge; 2012. https://books.google.de/books?id=u9pKYgEACAAJ
  9. Fraser N, Honneth A. Redistribution or Recognition? A Political-Philosophical Exchange. Verso; 2003.
  10. Stevis D, Felli R. Planetary just transition? How inclusive and how just? Earth Syst Gov. 2020;6:100065. doi:10.1016/j.esg.2020.100065
  11. Healy N, Barry J. Politicizing energy justice and energy system transitions: Fossil fuel divestment and a “just transition.” Energy Policy. 2017;108:451-459. doi:https://doi.org/10.1016/j.enpol.2017.06.014
  12. Meadowcroft J. Who is in charge here? Governance for sustainable development in a complex world. J Environ Policy Plan. 2007;9(3-4):299-314. doi:10.1080/15239080701631544
  13. Willisch A. Verwundbarkeit und Marginalisierungsprozesse. In: Bude H, Willisch A, eds. Exklusion. Die Debatte Über Die Überflüssigen. Suhrkamp Taschenbuch; 2008:64-68.
  14. Engler W. Die Ostdeutschen. Kunde von Einem Verlorenen Land. Aufbau Verlag; 1999.
  15. Walk P, Braunger I, Semb J, Brodtmann C, Oei P-Y, Kemfert C. Strengthening Gender Justice in a Just Transition: A Research Agenda Based on a Systematic Map of Gender in Coal Transitions. Energies. 2021;14(5985). doi:10.3390/EN14185985

[*] Im Sinne einer geschlechtergerechten Sprache werden männliche und weibliche Formen wechselseitig genutzt, die jeweils generisch gemeint sind.


Weitere Beiträge zum Thema auf unserem Blog:

Ehrlicher Umgang mit Konflikten und Zeitkonstanten – die Herausforderungen für die Energieversorgung von Morgen von Prof. Dr. Manfred Fischedick, Wuppertal Institut

Sozial und ökologisch – geht das? von Prof. Dr. Dr. Felix Ekardt, Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik (Leipzig und Berlin)

Die Energiewende als Chance für inklusives Wachstum in Deutschland von Prof. Dr. Enno Wagner, Frankfurt UAS



Kommentar verfassen