Ungenutztes Potenzial bei nachhaltigen Versicherungen

Prof. Dr. Matthias BeenkenFachhochschule Dortmund

Als Teil der Finanzwirtschaft sollen Lebensversicherungsunternehmen nach den Vorstellungen der Europäischen Union mithelfen, Kapital hin zu nachhaltigen Investitionen umzuschichten. Der Ansatz ist komplex und wirft Fragen auf.

Die Realwirtschaft soll nachhaltig transformiert und darin durch professionelle Investoren finanziell unterstützt und bestärkt werden („Green Deal“) – das könnte man durch direkte Vorgaben an die Unternehmen der Realwirtschaft möglicherweise effektiver und effizienter erreichen.

Verpflichtend für die Anbieter, freiwillig für die Kund*innen

Hinzu kommt, dass die Umschichtung nur durch eine freiwillige Entscheidung der (Versicherungs- und sonstigen) Anleger*innen erfolgen kann. Die Unternehmen der Finanzwirtschaft müssen zusätzlichen Befragungs- und Beratungsaufwand im Rahmen der sogenannten Geeignetheitsprüfung betreiben, dem kein unmittelbar erkennbarer Nutzen gegenübersteht.

Im Gegenteil: Angesichts der lückenhaften, verspäteten Rechtsvorgaben der EU ist das Angebot an nachweislich geeigneten Anlagen unzureichend und das Enttäuschungspotenzial bei den an Nachhaltigkeit interessierten Kund*innen hoch.

Prof. Dr. Matthias Beenken

Unterlassen die Unternehmen diese Beratung oder sind nicht erfolgreich genug, könnten sie sich Greenwashing-Vorwürfen aussetzen, weil die pflichtweise veröffentlichten Nachhaltigkeitsstrategien und das konkrete Handeln nicht zusammenpassen.

Zu allem Überfluss sieht sich die Versicherungswirtschaft hartnäckig Vorwürfen ausgesetzt, zu hohe Abschluss- und Vertriebskosten zulasten der Vertragsrenditen aufzuweisen. Europäische wie deutsche Diskussionen über mögliche Provisionsverbote, -deckel oder -richtwerte reißen nicht ab. So richtig gut passt das alles nicht zusammen.

Kaum Informationen zur Nachhaltigkeit von Versicherungen

Das erklärt die derzeit ernüchternden Befunde über den Absatz nachhaltiger Versicherungen. Eine aktuelle Studie zeigt, dass erst sieben Prozent der bevölkerungsrepräsentativ befragten, 2.000 Bundesbürger*innen zwischen 18 und 69 Jahren Werbung zur Nachhaltigkeit von Versicherungen wahrgenommen und sechs Prozent Informationen dazu erhalten haben.

Nur knapp vier Prozent wurden im Rahmen einer Beratung zu ihren Nachhaltigkeitspräferenzen befragt, allerdings besteht diese Pflicht erst seit 2.8.2022 und damit wenige Wochen vor dem Befragungszeitraum Ende November/Anfang Dezember 2022.

Damit bleibt ein Informationsbedürfnis ungestillt. Immerhin 26 Prozent aller Befragten würden gerne Informationen zur Nachhaltigkeit von Versicherungen erhalten. Das Interesse steigt auf knapp über 40 Prozent bei denjenigen Befragten, die schon Werbung wahrgenommen oder Informationen erhalten haben. Das widerspricht einer verbreiteten Ansicht, Kund*innen würden sich nicht für ihre Versicherungen interessieren.

Vertrieb soll Wissensdefizite beheben

Das Informationsbedürfnis ist auch deshalb hoch, weil zwar immerhin 82 Prozent der Befragten zwar eine Vorstellung davon haben, was Nachhaltigkeit bedeutet. Aber anhand von freien, eigenen Definitionen ließ sich zeigen, dass darunter fast ausschließlich ökologische oder speziell Klimawandel-Aspekte verstanden werden.

Die EU hat allerdings der Finanzwirtschaft auferlegt, mit den Kund*innen nicht nur über ökologische Fragen der Transformation zu sprechen, für die mit der Umwelt-Taxonomieverordnung (2020/852) und der daraus abgeleiteten, Delegierten Verordnung (2021/2139) für wenigstens zwei von sechs Umweltzielen relativ die größte Rechtssicherheit besteht.

Vielmehr sollen auch soziale und Governance-Aspekte („ESG“), für die Rechtsvorgaben weitgehend fehlen, sowie nachteilige Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren („PAI“) in einer akribisch differenzierten Weise erfragt werden, ob die Kund*innen diese berücksichtigt sehen möchten und mit welchen Mindestanteilen (Delegierte Verordnung 2021/1257).

Angesichts der geringen Kenntnisse in der Bevölkerung hat die Europäische Versicherungsaufsichtsbehörde EIOPA vorgeschlagen, dass die Versicherungsvertreiber*innen die Kund*innen in einer Art Erstinformation darüber aufklären sollen, welche Nachhaltigkeitspräferenzen sie äußern können – finanzielle Allgemeinbildung durch den Vertrieb statt durch den Staat, ein merkwürdiger Ansatz. Die deutsche Bundesregierung hat einen Vorschlag der Opposition zurückgewiesen, eine solche Kund*innen-Erstinformation aus wettbewerbsneutraler Sicht zu veröffentlichen (Bundestags-Drucksache 20/5082, S. 4).

Zusammenhang Versicherungen und Nachhaltigkeit unbekannt

70 Prozent der Kund*innen ist Nachhaltigkeit persönlich wichtig. Im privaten Konsum achten sie vor allem bei den Themen Lebensmitteleinkauf, Heizung und technische Haushaltsgeräte mit jeweils mehr als 60 Prozent Anteil auf Nachhaltigkeit. Etwas weniger als die Hälfte tut dies auch in den Bereichen Mobilität, Kleidung und Kosmetik. Gering ausgeprägt ist die Neigung bei Urlaubsreisen und Restaurantbesuchen.

Am seltensten achten Kund*innen mit 26 Prozent Anteil auf Nachhaltigkeit bei Geldanlagen und mit 21 Prozent bei Versicherungen. Dort sind auch die Anteile derjenigen, die dezidiert nicht auf Nachhaltigkeit achten, mit 36 bzw. 42 Prozent besonders hoch. Gleichzeitig sind sich hier aber auch auffallend viele Befragte (12 bzw. 10 Prozent) unsicher und antworteten mit „weiß nicht“. Zusammen mit den freien Kommentaren entsteht das Bild, dass viele Kund*innen keinen Zusammenhang zwischen Versicherungen und Nachhaltigkeit herstellen können.

Beherrschbarer Attitude-Behavior-Gap

Das Bild bestätigt sich bei der „Tradeoff-Frage“, mit der ein in der Literatur diskutierter Attitude-Behavior-Gap untersucht werden sollte. Demnach verhalten sich Menschen nicht immer so, wie es ihrer vorgeblichen Einstellung entspricht. Die Frage lautete, ob sich die Kund*innen eher für teurere, aber nachhaltige, oder für günstigere, nicht nachhaltige Angebote entscheiden würden.

Diese Frage geht bei Lebensmitteln (64 Prozent), technischen Haushaltsgeräten (66 Prozent), Heizung (58 Prozent) und Kleidung (55 Prozent) zugunsten der Nachhaltigkeit aus. Bei Kosmetik, Mobilität und Restaurantbesuchen liegen die Anteile der Zahlungsbereiten teils knapp unter 50 Prozent. Bei Geldanlagen, Urlaubsreisen und Versicherungen dominieren dagegen diejenigen, die vorrangig nach dem Preis entscheiden (51, 52 und 57 Prozent).

Über alle untersuchten Konsumbereiche hinweg ist ein mittlerer Attitude-Behavior-Gap von 11 Prozent der Befragten feststellbar, die sich entgegen ihrer Einstellung preis- und nicht nachhaltigkeitsorientiert verhalten. Das ist zwar deutlich, aber auch nicht übermäßig hoch.

Bei besserer Kenntnis über die Zusammenhänge zwischen Nachhaltigkeit und Finanzdienstleistungen dürfte der Attitude-Behavior-Gap kein wesentliches Hindernis für den Absatz nachhaltiger Produkte sein. „Preis“ wäre in diesem Fall mit „Rendite“ übersetzbar, ob also Kund*innen notfalls zugunsten der Nachhaltigkeit auf Rendite verzichten würden.

Inflation beeinträchtigt die Nachhaltigkeitsbemühungen nur vorübergehend

Selbst die aktuelle Inflation und ihre Folgen für die Haushalte ändern allenfalls vorübergehend die Einstellung zur Nachhaltigkeit. Im Gegenteil, viele Kund*innen betonen in ihren Nachhaltigkeits-Definitionen Begriffe wie Sparen und Verzicht, was auch die naheliegenden Strategien beim Umgang mit der Geldentwertung sind.

Gespart wird bereits besonders häufig bei der Heizung (64 Prozent), gefolgt von Lebensmitteleinkäufen (57 Prozent) und Restaurantbesuchen (54 Prozent). In allen anderen Bereichen sind es bisher weniger als die Hälfte der Befragten, die Sparmaßnahmen ergriffen haben, am seltensten bei Bankberatungen und Versicherungen (15 bzw. 17 Prozent). Bei Letzteren zeigt sich das relativ größte Einsparpotenzial, allerdings ist selbst das begrenzt: Einsparungen geplant haben 24 bzw. 28 Prozent bei Bankberatungen und bei Versicherungen.

Vier von zehn Befragten sagen, dass sie Nachhaltigkeit vorübergehend nicht für wichtig halten, so lange die Preise so stark steigen – drei von zehn sagen aber das Gegenteil. Gut zwei Drittel halten Nachhaltigkeit für keine vorübergehende Modererscheinung, und 44 Prozent wollen ihr Verhalten für mehr Nachhaltigkeit verändern.

Nachhaltigkeits-Typen und Konsequenzen für die Branche

Auf Basis der Tradeoff-Frage zur Eistellung und zum Entscheidungsverhalten wurden die Befragten geclustert.

  • Demnach lassen sich 19 Prozent als „Nachhaltigkeits-Überzeugte“ einordnen, denen Nachhaltigkeit besonders wichtig und auch viel wert ist. Diese Gruppe ist besonders versicherungs- und beratungsaffin und gibt mehr Geld für Vorsorge aus.
  • 34 Prozent sind die „Nachhaltigkeits-Wohlwollenden“, die relativ zum Durchschnitt positiv zur Nachhaltigkeit eingestellt und etwas mehr bereit sind auszugeben. Auch diese Gruppe ist für die Versicherungsbranche interessant.
  • 41 Prozent sind als „Nachhaltigkeits-Skeptiker*innen“ kritischer eingestellt und relativ seltener bereit, mehr für Nachhaltigkeit auszugeben. Hier dürften Versicherer nicht mit Renditeverzicht argumentieren, um Nachhaltigkeit zu verkaufen.
  • Gar nicht erreichbar für das Thema sind lediglich sechs Prozent „Nachhaltigkeits-Gegner*innen“.

Für die Versicherungsbranche lassen sich daraus mehrere Dinge ableiten: Trotz aller Erschwernisse durch unklare Rechtsvorgaben und Kostendruck sollte sie das Informationsbedürfnis der Kund*innen besser befriedigen. In der Werbung sowie in regelmäßigen Beratungen nicht nur von abschlusswilligen Neukund*innen, sondern auch Bestandskund*innen kann sie eine konkrete Vorstellung davon erzeugen, dass Lebensversicherungen viel mit Nachhaltigkeit zu tun haben – angefangen von der Generationengerechtigkeit durch private Vorsorge bis hin zur Umschichtung von Kapitalanlagen zur Finanzierung der nachhaltigen Transformation der Realwirtschaft.

Auch ihr eigenes Verhalten zahlt darauf ein: So stößt die Papierintensität der Geschäftsprozesse auf Kritik, und Sparsamkeit könnte bei Geschäftsimmobilien und Dienstfahrzeugen gezeigt werden.

Kund*innen nennen häufiger Fairness sowie Regionalität als nachhaltige Werte. Auch hier kann die Versicherungswirtschaft vorbildhaft sein durch faire Beratung sowie durch eine Aufrechterhaltung des differenzierten, regionalen Beratungsangebots durch ortsansässige Fachleute.

Literatur

Beenken, Matthias; Bornhorn, Hubert; Linnenbrink, Lukas; Mörchel, Jens: Nachhaltigkeit und Versicherungen aus Kundensicht, Studie, herausgegeben von der Fachhochschule Dortmund, Dortmund 2023.

Weitere Beiträge zum Thema auf unserem Blog:

EU-Taxonomie: Schlüssel oder Hemmschuh für mehr Nachhaltigkeit? von Dr. Jörg König, Stiftung Marktwirtschaft

Unternehmerische Verantwortung und Nachhaltigkeit – welche Rolle spielen Geschäftsmodelle? von Prof. Dr. Florian Lüdeke-Freund und Tobias Froese, ESCP

Der Geldwert von Nachhaltigkeit: Wie Investitionen in Ökologie, Soziales und Wissen in Bilanzen kommen von Reiner Bildmeyer, SAP



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