Tragender Lehmbau: klima- und ressourcenschonend Wohnraum schaffen
Laut unterschiedlicher Prognosen sind in Deutschland 220.000 bis 350.000 Wohnungsneubauten pro Jahr erforderlich. Die derzeitige Bundesregierung will diesen Bedarf gemäß Koalitionsvertrag mit einem jährlichen Neubauvolumen von 400.000 Wohnungen in der laufenden Legislaturperiode decken.
Gleichzeitig ist die Bauindustrie für 37 Prozent des globalen CO2-Austoßes verantwortlich, wovon 11 Prozent auf die Herstellung der Baustoffe entfallen. Die Zementherstellung allein trägt dabei mit 8 Prozent den mit Abstand größten Teil bei.
Ein Blick auf die Bautätigkeit im Wohnungssektor in den vergangenen Jahren zeigt, dass 97 Prozent aller Wohngebäude mit maximal drei Vollgeschossen errichtet werden, wobei der Mauerwerksbau mit einem Anteil von 73 Prozent die dominierende Bauweise darstellt.
Das Einfamilienhaus aus Mauerwerk ist somit die vorherrschende Bauart in der Bundesrepublik.
Philipp Wiehle
Lehmbau erfüllt alle Anforderungen klimaschonend
In diesem Bereich stehen bauphysikalische Anforderungen wie Schall-, Wärme- und Brandschutz im Vordergrund. Die Verwendung von Baustoffen mit hoher Festigkeit wie etwa Stahlbeton oder gebrannte Ziegel ist in der Regel nicht notwendig und im Hinblick auf die Schonung von Ressourcen auch nicht sinnvoll.
Da Lehmbaustoffe – anders als Holz – nicht brennbar sind, über eine hohe Masse verfügen und ausreichende Festigkeiten aufweisen, erfüllen sie das Anforderungsprofil des modernen Wohnungsbaus vollumfänglich und können somit einen wesentlichen Beitrag zur klimafreundlichen und ressourcenschonenden Schaffung von Wohnraum leisten.
Der ökologische Vorteil von Lehmbaustoffen wird anhand drei zentraler Aspekte deutlich.
- Zum ersten ist aufgrund der Wasserlöslichkeit eine vollständige Rückgewinnung der materialeigenen Bestandteile – insbesondere der Sandfraktion – möglich und die Rohstoffe können – im Unterschied zu Beton oder Mauerwerksbruch – somit als reine Komponenten zur Herstellung hochwertiger Baustoffe wiederverwertet werden.
- Zweitens entfallen energieintensive Brennvorgänge wie etwa bei der Zementherstellung oder dem Brennen von Ziegeln, wodurch ein deutlich geringerer Primärenergiebedarf besteht und der CO2-Ausstoß im Vergleich zu herkömmlichen Baustoffen äußerst niedrig ist.
- Drittens handelt es sich bei Lehm um einen lokal und in großer Menge vorkommenden Rohstoff.
Restriktive und veraltete Regelwerke für den Lehmbau
Zwar existieren bereits seit 2013 DIN-Normen für die unterschiedlichen Bauprodukte wie Lehmsteine, Lehmmauermörtel, Lehmputze und Lehmplatten, allerdings ist die Anwendung aufgrund veralteter und restriktiver Regelwerke stark eingeschränkt. Einzige Ausnahme bilden hier die Lehmputze, welche mittlerweile in die allgemeine Anwendungsnorm aufgenommen wurden und damit den herkömmlichen Putzen formal gleichgestellt sind.
In Bezug auf den tragenden Lehmbau in Form von Lehmsteinmauerwerk oder Stampflehm bestehen aufgrund mangelnder Erkenntnisse starke Einschränkungen. So sind derzeit maximal zwei Vollgeschosse im normalen Genehmigungsverfahren zulässig, wobei zusätzlich unverhältnismäßig große Wanddicken einzuhalten sind, was zu unwirtschaftlichen Konstruktionen und somit zu hohen Baukosten führt.
Über eine sogenannte Zustimmung im Einzelfall (ZiE) können diese Restriktionen zwar bei entsprechendem Nachweis umgangen werden, aber auch dies ist mit erheblichem Aufwand und folglich Mehrkosten verbunden, die insbesondere im zu großen Teilen privaten Wohnungsbau ein Ausschlusskriterium darstellen.
Neue Norm für zeitgemäßes Bauordnungsrecht
Obwohl moderne Lehmbaustoffe nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen die technischen Anforderungen des Wohnungsbaus erfüllen, sind sie bauordnungsrechtlich benachteiligt, was in jeder Hinsicht eine unbefriedigende Situation darstellt.
Deswegen wurden in den vergangenen dreieinhalb Jahren an der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) umfangreiche experimentelle Untersuchungen an Lehmsteinmauerwerk durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass mit heute am Markt erhältlichen, industriell hergestellten Lehmsteinen Gebäude mit bis zu vier Vollgeschossen errichtet werden können.
Die gewonnenen Erkenntnisse bilden die Grundlage der im April 2023 veröffentlichten DIN 18940: Tragendes Lehmsteinmauerwerk – Konstruktion, Bemessung und Ausführung, welche sich weitestgehend an dem bekannten und bewährten Bemessungskonzept des herkömmlichen Mauerwerksbaus orientiert. Die künftige bauaufsichtliche Einführung dieser Norm in den Bundeländern führt zu einer formalen Gleichstellung des Lehmmauerwerks und bietet damit die Möglichkeit den dringend benötigten Bedarf an Wohnungsneubauten klima- und ressourcenschonend zu decken.
Um den Anwendungsbereich von Lehm als Baustoff auch darüber hinaus zu erweitern, bedarf es in den kommenden Jahren intensiver Forschungsarbeit zum Einfluss der Feuchte auf das Tragverhalten sowie zu Herstellungsverfahren und Materialzusammensetzung.
Bisherige Nutzung von Lehm nur ein Anfang
Neben den wissenschaftlichen und bauordnungsrechtlichen Aspekten gilt es die Schulung von Fachpersonal weiter auf- und auszubauen. Derzeit existiert lediglich eine Weiterbildung zur Fachkraft für Lehmbau, welche von Deutschen Handwerkskammern anerkannt wird. Die Akzeptanz des Lehmbaus im professionellen Bausektor wird letztlich jedoch auch durch Fachkenntnis des entsprechenden Fachpersonals erreicht
Bereits heute werden in Deutschland mehr Lehmbaustoffe als in den anderen europäischen Ländern eigesetzt, allerdings bezieht sich dies zum Großteil auf Lehmputze, nicht aber auf die eigentliche Tragstruktur, welche aus Kostengründen oftmals noch mit herkömmlichen Baustoffen hergestellt wird. Dies ist zwar ein Anfang, der jedoch im Hinblick auf die aktuelle Umweltsituation keinesfalls zufriedenstellend ist.
Mit Veröffentlichung der DIN 18940 steht der Bundesrepublik ein weltweit in seiner Art einmaliges Regelwerk zur Anwendung von tragendem Lehmbau zur Verfügung.
Die Verwendung von Lehmsteinen und Lehmmauermörtel ist zukünftig bis einschließlich Gebäudeklasse 4 und somit bis zu einer Gebäudehöhe von 13 m möglich.
Philipp Wiehle
Grundlage für diesen Beitrag ist das Forschungsvorhaben „Schaffung von Bemessungsgrundlagen für Lehmmauerwerk auf Basis von DIN EN 1996-3/NA mittels experimenteller und numerischer Grundlagen“ das unter dem Aktenzeichen 34599/01 von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt gefördert wurde. An der Durchführung waren neben der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung die Technische Universität Darmstadt sowie das Ingenieurbüro ZRS Ingenieure GmbH beteiligt. Weitere Informationen finden sich hier.
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