„Reine Erhaltung reicht nicht mehr aus, um Wachstum und Produktivität anzuschieben“

Prof. Dr. Enzo WeberInstitut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)

Ben Schröder: Herr Weber, einmal im Monat veröffentlicht das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) das sogenannte Arbeitsmarktbarometer. Mit diesem misst das IAB die Stimmung auf dem deutschen Arbeitsmarkt, die sich im Juni wieder etwas aufgehellt hat. Sind das erste, vorsichtige Signale einer Normalisierung auf dem deutschen Arbeitsmarkt?
Enzo Weber: Es ist sicherlich so, dass die erste Entlassungswelle auf dem Arbeitsmarkt vorbei ist. Trotzdem liegt die Arbeitslosigkeit deutlich über dem Vorkrisenniveau. Normalisierung ist deshalb vielleicht nicht das richtige Wort. Ich würde eher sagen, dass wir in den kommenden Wochen und Monaten ein Plateau erreichen. Das heißt, dass eine erhebliche Verschlimmerung der Situation auf dem Arbeitsmarkt in naher Zukunft nicht absehbar ist. Die drastischen Monate, in denen gefühlt jeden Tag die Welt zusammenbrach, sind erst einmal vorbei. Insgesamt ist der Arbeitsmarkt vergleichsweise robust geblieben. Es bestehen aber Risiken: In anderen Ländern steigen die Infektionszahlen schon wieder, das kann in Deutschland angesichts der sehr weitgehenden Öffnung auch passieren. Und im Herbst endet die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht, dann wird die Zahl der Firmenpleiten zunehmen.

Um die durch das Coronavirus verursachten Folgen für die Beschäftigten in Deutschland abzufedern, hat die Bundesregierung eine Reihe von Maßnahmen verabschiedet. Unter anderem eine Ausweitung des Kurzarbeitergeldes und finanzielle Unterstützung für Solo-Selbstständige. Wie bewerten Sie die Maßnahmen der Bundesregierung im Hinblick auf die Beschäftigungssituation in Deutschland?
Die Maßnahmen der Bundesregierung waren unbedingt notwendig. Wir haben einen ungewöhnlich harten Schock erlebt, der in der Wirtschaft von heute auf morgen das Licht ausgeschaltet hat. Das kannten wir so bisher nicht. Gerade die Maßnahmen im Rahmen der Kurzarbeit haben deshalb geholfen, Arbeitsplätze zu sichern. Übrigens nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Auch in Ländern wie Frankreich sind die Kurzarbeiter-Zahlen immens gestiegen.

Welche Auswirkungen könnten die kurzfristigen Maßnahmen der Bundesregierung langfristig für den Arbeitsmarkt in Deutschland haben?
Da gibt es durchaus Risiken. Die Erhaltungsmaßnahmen, die Rettung von Jobs und Betrieben, waren alternativlos. Die reine Erhaltung reicht aber jetzt nicht mehr aus, um langfristig das Wachstum und die Produktivitätsentwicklung in Deutschland wieder anzuschieben. Maßnahmen wie die Kurzarbeit müssen nun systematisch mit Qualifizierungsprogrammen kombiniert werden, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fit für den digitalen und ökologischen Wandel zu machen. Diese Themen sind durch Corona ja nicht verschwunden. Im Gegenteil, sie sind relevanter als je zuvor. Außerdem muss für Unternehmen ein Anreiz geschaffen werden, neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzustellen. Mein Vorschlag: Bei Neueinstellungen könnte der Staat eine Zeit lang auf die Sozialbeiträge verzichten. Dies könnte zu einer neuen Dynamik auf dem Arbeitsmarkt führen, die wir jetzt brauchen. Nach der Rettungs- und Erhaltungsphase gilt es nun, anzuschieben.

Die Maßnahmen der Bundesregierung sind schon jetzt mit großen finanziellen Anstrengungen verbunden. Sehen Sie hier die Gefahr, dass der Staat irgendwann das Ende seiner Leistungsfähigkeit erreichen könnte?
Diesen Einwand muss man sicherlich ernst nehmen. Der Staat muss immense Schulden aufnehmen, um diese Krise zu bekämpfen. Entscheidend ist aber, dass die staatlichen Maßnahmen greifen und langfristig wirken. Wir brauchen möglichst schnell wieder eine Dynamik am Arbeitsmarkt, um die wirtschaftliche Entwicklung wieder anzuschieben. An der Finanzierungsfähigkeit des Staates wird das nicht scheitern. Ein Blick auf die Zinsen für Bundesanleihen zeigt ja ganz deutlich, dass Deutschland keine Finanzierungsschwierigkeiten hat. Probleme dieser Art würde ich erst sehen, wenn riesige Insolvenzwellen anrollen und so die Banken ins Schleudern geraten. Und genau das soll durch die genannten Maßnahmen ja verhindert werden.

Von Mai auf Juni ist die Arbeitslosenquote leicht gestiegen – um 0,1 Prozentpunkte auf 5,7 Prozent. Die Unternehmen entlassen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und stellen gleichzeitig weniger ein. Betroffen sind auch Auszubildende, für die Unternehmen in diesem Jahr rund zehn Prozent weniger Stellen ausschreiben als noch im Vorjahr. Welche langfristigen Folgen könnte es für die Produktivität und das Wachstum in Deutschland haben, wenn jungen Menschen der Berufseinstieg verwehrt bleibt?
Junge Menschen, die einen solchen Nackenschlag zu Beginn der Karriere bekommen, haben es nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig schwerer, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Es ist gut erforscht, dass diese Kohorten im Lebensverlauf öfter arbeitslos sind und ein niedrigeres Einkommen haben. Das ist der sogenannte Scarring- oder Narbeneffekt. Darunter leidet auch die Produktivität. Produktivität entsteht, wenn die richtige Person mit den richtigen Qualifikationen auf die richtige Stelle kommt. Dieses Zusammenspiel ist in Krisenzeiten gestört, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – um Arbeitslosigkeit zu vermeiden – den erstbesten Job annehmen müssen, auch wenn dieser vielleicht nicht der persönlichen Qualifikation entspricht. Eine solche Krise lässt sich also nicht nur in der Arbeitslosigkeit, sondern auch in der langfristigen Produktivitätsentwicklung ablesen.

Was könnte die Politik tun, um eben diesen Menschen eine Perspektive zu bieten?
Das Wichtigste ist, jetzt in Qualifizierung zu investieren. Ein mögliches Mittel wäre ein Bildungsbonus. Dieser könnte zusätzlich zum Arbeitslosengeld gezahlt werden und Arbeitsuchenden einen noch stärkeren Anreiz geben, Qualifizierungsmaßnahmen zu absolvieren. Flankiert werden muss das Ganze natürlich durch eine entsprechende Beratung und Angebote der Arbeitsagenturen. Eine solche Maßnahme ist nicht sonderlich teuer, könnte aber dazu beitragen, Scarring-Effekte zu reduzieren.

Das Coronavirus hat die deutsche Wirtschaft in vielen Bereichen zum Umdenken gezwungen. So machten viele Unternehmen im Zuge der Pandemie ihre ersten Erfahrungen mit Heimarbeit. Sind diese Veränderungen kurzfristiger Natur oder glaube Sie, dass die Unternehmen tatsächlich langfristig umdenken?
Sowohl als auch. Das Niveau – zum Beispiel in Bezug auf die Heimarbeit – wird sicherlich wieder etwas zurückgehen. Es kehren immer mehr Menschen an ihren Arbeitsplatz zurück. Das ist auch gut so, auch die zwischenmenschliche Kommunikation am Arbeitsplatz, der kurze Plausch an der Kaffeemaschine ist für soziale Bindung und Informationsaustausch wichtig. Aber viele wünschen sich durchaus mehr Heimarbeit als vor der Krise. Unternehmen werden deshalb daran arbeiten, flexiblere Arbeitsmodelle zu schaffen. Das erfordert natürlich auch eine entsprechende Netzinfrastruktur und Software-Lösungen, in die jetzt schon viel investiert wurde. Der entscheidende Punkt ist, dass diese flexibleren Arbeitsmodelle gut organisiert werden. Bleiben wir einmal bei der Heimarbeit. Die ist an sich weder gut noch schlecht – es kommt darauf an, wie sie organisiert wird. Wenn berufliche Belastung auf das Privatleben übergreift, entsteht Stress. Wenn aber beide Seiten – das Unternehmen und die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer – ihre Erwartungen klar formulieren und transparente Regeln aufstellen, dann kann Heimarbeit auch Stress reduzieren und die Eigenmotivation erhöhen. Da werden viele Unternehmen noch nachlegen müssen, wenn der Druck der Krise vorüber ist.

Was sind Ihrer Meinung nach in Zukunft die größten Herausforderungen für den Arbeitsmarkt?
Die deutsche Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren vorwiegend über Quantität gewachsen. Das heißt: Die Beschäftigung wurde immer weiter gesteigert. Paradox ist, dass dieser starke Trend nicht mit einer entsprechenden Produktivitätsentwicklung einherging. Mit der Quantität wird es in naher Zukunft durch den demografischen Wandel vorbei sein. Im Laufe dieses Jahrzehnts werden deutlich mehr Menschen in den Ruhestand gehen, als aus dem Bildungssystem nachkommen. Wir brauchen deshalb jetzt einen Fokus darauf, die Qualität der Arbeit und die Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erhöhen. Wir brauchen Menschen, die mutige Entscheidungen für sich und ihr Berufsleben treffen. Dafür muss man aber den Rücken frei haben. Wir sollten also auch darüber nachdenken, die soziale Absicherung – gerade bei Selbständigen – zu verbessern. Ein weiteres Thema ist die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt. Frauen gehen heute im Schnitt mit einer besseren Qualifikation in den Arbeitsmarkt, kommen aber am Ende mit weniger raus als Männer. Hier geht viel Produktivitätspotenzial verloren. Das liegt daran, dass Frauen in der Kinderphase erst einmal aussteigen und dann meist nur in Teilzeit in den Beruf zurückkehren. Hier brauchen wir noch umfangreichere Kinderbetreuungsangebote, andere steuerliche Anreize und flexiblere Modelle für die Arbeitszeit im Lebensverlauf.



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