Recycelte Kunststoffe bewerten – ein Dilemma der Ökobilanz
Ökobilanzbewertungen (im Englischen LCA) sind ein wichtiges Werkzeug, um umweltfreundliche Prozesse, Produkte oder Dienstleistungen zu entwickeln und zu vergleichen. Die Ökobilanzierung wurde in der Vergangenheit jedoch auch vielfach kritisiert, da es an konsistenten und harmonisierten Regeln zur vergleichbaren Bilanzierung mangelt.
Viele Entscheidungen und Annahmen obliegen dem Modellierer, was die Interpretation und folglich die Entscheidungsfindung beeinflusst. Das Endergebnis kann dabei zum Beispiel durch die Wahl der Systemgrenzen oder Hintergrunddaten beeinflusst werden.
Standards greifen nicht vollkommen
Die Modellierung von Umweltaspekten ist insbesondere für Unternehmen von Bedeutung, die (zukünftig) im Rahmen der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) über ihre ökologischen Aktivitäten berichten müssen oder allgemein ihre Produkte und Prozesse im Hinblick auf Nachhaltigkeit evaluieren möchten.
Die ISO-Normen zur Ökobilanzierung dienen neben anderen Standards als Grundlage für die Bewertung von Umweltauswirkungen und die Berichterstattung. Angesichts der zunehmenden Anforderungen an die Nachhaltigkeitsberichterstattung ergibt sich jedoch eine kritische Frage: Inwiefern können die ISO-Normen und andere Standards eine verlässliche Basis für die Berichterstattung bilden, wenn die Anwendung und Interpretation durch die Annahmen und Entscheidungen der Modellierer das Endergebnis wesentlich beeinflussen können?
Studienübergreifende Vergleiche, auch für beispielsweise EU-Taxonomie-konforme Investitionsentscheidungen, sind nur bedingt zulässig und bedürfen einer genauen externen kritischen Prüfung.
Herausforderung Recycling
Besonders herausfordernd ist die Bilanzierung von so genannten multifunktionalen Prozessen, also Prozesse, die in unserem globalen Wirtschaftssystem mehrere Funktionen für teils unterschiedliche Produktsysteme erfüllen. Das Recycling ist dabei ein besonderes Beispiel, da gleichzeitig zwei grundlegende Funktionen in unserem Wirtschaftssystem erfüllt werden: die ordnungsgemäße Behandlung von Abfällen und die Bereitstellung neuer Ressourcen.
Die Umweltwirkungen des Recyclings können dabei sowohl auf die Funktion der Abfallbehandlung als auch auf die Ressourcenbereitstellung bezogen werden, was zu unterschiedlichen Fragestellungen führt, wie zum Beispiel: ‚Welche Umweltwirkungen entstehen durch die Behandlung einer bestimmten Menge Abfall?‘ oder ‚Welche Umweltbelastung verursacht die Bereitstellung von 1 kg Rezyklat?‘.
Wir haben diese und weitere Herausforderungen im Bereich des Kunststoffrecyclings identifiziert und Anforderungen formuliert, die die Vergleichbarkeit und Transparenz in der ökologischen Bewertung verbessern sollen.
Ausnahmen unzureichend adressiert
In den ISO-Normen zur Ökobilanzierung sind verschiedene Ansätze zur Handhabung der Multifunktionalität in einer Hierarchie festgelegt. Beispielsweise kann die Zuordnung der Umweltlasten zu den einzelnen Funktionen mittels physikalischer oder ökonomischer Allokation erfolgen oder Funktionen können durch die Vergabe von Gutschriften substituiert werden, um eine einzelne Funktion zu isolieren. Die Anwendung dieser Hierarchie und die Behandlung von Ausnahmen in den ISO-Normen bleibt jedoch noch unzureichend adressiert.
In der Praxis werden Annahmen, wie der Umgang mit der Multifunktionalität, oft durch praktische Gründe wie einfache Modellierung oder Datenverfügbarkeit begründet. Theoretisch sollte der Umgang mit der Multifunktionalität das Ziel der Studie und die Entscheidungsfindung unterstützen, indem die untersuchten Produktsysteme die relevanten Produkte und Prozesse hinreichend berücksichtigen.
Inkonsistenzen oder ein nicht zielkonformer Umgang mit Multifunktionalität können zu Fehlinterpretationen bei der Entscheidungsfindung führen. Es bedarf einer tiefergehenden Diskussion und weiterer Entwicklung, um sicherzustellen, dass diese Normen auch in komplexen Fällen, wie dem Kunststoffrecycling, zuverlässige und nachvollziehbare Ergebnisse liefern können.
Bemühungen um Konsens
Die Bemühungen zur Harmonisierung und Standardisierung der Ökobilanzmethode in der Vergangenheit und Gegenwart verdeutlichen, wie schwierig es ist, einen Konsens in diesem Bereich zu erzielen. Bereits 2008 setzte die Europäische Kommission einen Prozess in Gang, der Forscher, Unternehmen und Behörden zusammenbrachte, um neue Richtlinien für die Produktökobilanz zu entwickeln.
Dies führte zur Einführung der „Product Environmental Footprint“ (PEF) Methode. Die Entwicklung von produktgruppenspezifischen Regeln, den sogenannten Product Environmental Footprint Category Rules (PEFCRs), für ein einzelnes Produktbeispiel ist ein mehrjähriger Prozess, der eine umfassende Einbindung verschiedener Stakeholder erfordert. Seit 2019 wird in einer Übergangsphase versucht, bestehende methodische Herausforderungen zu lösen.
Darüber hinaus geben auch andere internationale Normen und Richtlinien spezifische Empfehlungen zur Bilanzierung, die jedoch teilweise widersprüchlich sind. Diese Widersprüche sind nicht überraschend, da je nach Perspektive und Zielsetzung unterschiedliche Ansätze sinnvoll und gerechtfertigt sein können. Ein breiterer Konsens ist erforderlich, um die Effektivität und Glaubwürdigkeit der Ökobilanz als Werkzeug zur Förderung nachhaltiger Entwicklung zu gewährleisten.
Unabhängige Prüfung nötig
Durch die Wahl des Umgangs mit Multifunktionalität ergeben sich im Ergebnis beispielsweise Anreize für oder gegen Recycling, eine bestimmte Technologie oder den Einsatz recycelter Rohstoffe. Für eine externe Kommunikation und insbesondere für vergleichende Aussagen zur Entscheidungsfindung eignet sich die derzeitige Vielfalt an Standards und Empfehlungen nur bedingt.
Aus diesem Grund benötigen vergleichende Aussagen eine kritische Prüfung durch mindestens einen externen Experten. Der monetäre und zeitliche Aufwand einer fallspezifischen Durchführung und kritischen Prüfung zur vergleichenden Bewertung der Umweltwirkungen verschiedener Produkte, Prozesse oder Dienstleistungen kann erheblich sein. Eine verallgemeinernde Aussage auf Basis eines spezifischen Vergleichs ist dahingehend oft wenig belastbar.
Handlungsbedarf besonders bei Kunststoffen
Besonders im Bereich des Kunststoffrecyclings sehen wie Handlungsbedarf. Die Nutzung von recycelten Kunststoffen in Produkten schließt den Kreislauf im Sinne einer Circular Economy und kann im Vergleich zu Neuware oder der thermischen Verwertung Umweltvorteile haben.
Das derzeit konventionell vorherrschende Recyclingverfahren ist das mechanische Recycling. Inzwischen konkurrieren auch eine Vielzahl weiterer Verfahren, die andere Anforderungen an die ökologische Bilanzierung haben, beispielsweise in Bezug auf die Systemgrenzen.
Selbst innerhalb eines Recyclingverfahrens bestehen Abweichungen auf Werksebene in Bezug auf die relevanten Inputparameter, die resultierende Qualität der Rezyklate und dem zu erwartendes Ergebnis von Umweltwirkungen, z. B. CO2-Emissionen. Nur wenn einheitliche Bilanzierungsregeln für alle Technologiealternativen und Recyclingrouten fair und hinreichend festgelegt sind, können Umweltauswirkungen von recycelten Kunststoffen verglichen werden.
Austausch schaffen
Wir möchten einen Raum für einen offenen und transparenten Austausch zwischen Wissenschaft, Industrie und Politik schaffen. Um Vergleiche und Entscheidungen auf Basis der Ökobilanzmethode belastbar und nachvollziehbar zu gestalten, müssen wir uns mit den praxisnahen Anforderungen aus der Industrie auseinandersetzen.
Weitere Beiträge zum Thema auf unserem Blog:
CO2-Bilanzierung: Anforderungen in der Unternehmenspraxis von Olaf Eisele, ifaa
Nachhaltigkeitsberichterstattung im Mittelstand: Wie isst man einen Elefanten? von Prof. Dr. Christina E. Bannier, Justus-Liebig-Universität Gießen
Mit dem Wirkungsrating die nachhaltige Transformation unterstützen von Prof. Dr. Dr. Alexander Brink, Universität Bayreuth
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