Mögliche wirtschaftliche Auswirkungen des Ukrainekriegs auf Deutschland

Dr. Thieß PetersenBertelsmann Stiftung

Der von Wladimir Putin und der russischen Führung ausgelöste Angriff auf die Ukraine bedroht das Leben von Millionen Menschen. Die mit diesem Krieg verbundene humanitäre Katastrophe bedeutet für die ukrainische Bevölkerung ein unendliches Leid, das wirtschaftliche Einbrüche in Deutschland verblassen lässt.

Dennoch sollten die ökonomischen Auswirkungen dieses militärischen Konflikts nicht ignoriert werden.

Denn sowohl die Ausgestaltung eines effektiven Sanktionsregimes gegenüber Russland als auch die längerfristige Neuordnung der internationalen Beziehungen bedürfen eines Verständnisses der wirtschaftlichen Interdependenzen. Zwar lassen sich die ökonomischen Konsequenzen derzeit nicht seriös quantifizieren, weil es viel zu viele Unsicherheiten gibt. Immerhin sind jedoch einige grundsätzliche Entwicklungstrends absehbar.

Russlands Bedeutung für deutschen Außenhandel überschaubar

Wird als Indikator der wirtschaftlichen Stärke das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gewählt, ist Russland nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die EU brachte es 2021 auf ein BIP im Wert von rund 21.518 Milliarden US-Dollar Kaufkraftparität. Damit wäre sie die drittgrößte Volkswirtschaft hinter China und den USA.

Deutschlands Exporte nach Russland lagen 2021 bei 26,6 Milliarden Euro. Das sind etwas weniger als zwei Prozent aller deutschen Exporte. Im Gegenzug importierte Deutschland Produkte im Wert von 33,1 Milliarden Euro aus Russland, was 2,75 Prozent des deutschen Importvolumens entspricht.

Absolut gesehen ist ein Ausfall der Exporte und Importe im deutsch-russischen Handel somit zwar spürbar, aber verkraftbar. Mit Blick auf einzelne Produkte sind die Auswirkungen einer Unterbrechung der Handelsbeziehungen wesentlich gravierender.

So ist der Ausfall von Vorprodukten, etwa im Automobilsektor, unmittelbar zu spüren. Die großen Autobauer mussten bereits teilweise Stilllegungen und Produktionsausfälle aufgrund fehlender Bauteile aus der Ukraine vermelden.

Kritische Energieabhängigkeit

Von zentraler Bedeutung sind aus deutscher Sicht die energiebezogenen Importe aus Russland – allen voran der Import von Erdgas, aber auch von Erdöl und Kohle. Russland hat die weltweit größten Erdgasreserven und ist gegenwärtig der größte Erdgasexporteur der Welt.

Zurzeit stammen rund 40 Prozent des jährlichen Gasverbrauchs der EU aus Russland. Deutschland bezieht sogar rund 50 Prozent seines Gaskonsums aus Russland.

Fallen russische Erdgaslieferungen nach Deutschland und Europa aus, kommt es zu einer Angebotsverknappung, die zu steigenden Erdgaspreisen führt. Höhere Energiepreise lassen die ohnehin schon hohen Inflationsraten der letzten Monate in Deutschland weiter steigen. Das ist besonders problematisch für einkommensschwache Haushalte und hat entsprechend negative Verteilungswirkungen, die es zu berücksichtigen gilt.

Steigende Energiekosten sorgen außerdem für höhere Produktionskosten. Das betrifft vor allem energieintensive Branchen wie die Chemie-, die Pharma- und die Kunststoffindustrie sowie den Maschinenbau und die Automobilindustrie. Im Extremfall könnte es sogar zu zeitweisen Versorgungsengpässen oder Stilllegungen von Produktionsstätten kommen, sollten die Importe fossiler Energieträger abrupt stoppen.

Etwas Entspannung kann sich daraus ergeben, dass die USA bereits jetzt versuchen, mehr Öl und Gas nach Europa zu verkaufen. Deutschland hat hier jedoch ein gravierendes Problem: Es gibt gegenwärtig keine Terminals für Schiffe, die Flüssiggas aus den USA anliefern könnten.

Mit Blick auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen ist daher festzuhalten: Selbst wenn zukünftig mehr Erdgas aus den USA geliefert wird und die russischen Erdgaslieferungen nicht komplett ausfallen, ist mit einem Anstieg der Energiepreise in Deutschland zu rechnen.

Hohe Energiepreise wirken sich negativ auf die Exportchancen aus, d. h. die Exporte sinken und mit ihnen die Produktion, die Beschäftigung und die Einkommen in Deutschland.

Steigende Lebensmittelpreise – geldpolitisches Dilemma

Steigende Preise infolge des Ukrainekonflikts sind auch im Agrarbereich zu erwarten. 2020 war Russland der weltweit größte Exporteur von Weizen mit einem Weltmarktanteil von rund 18 Prozent. Die Ukraine belegte mit acht Prozent den fünften Rang.

Ein Ausfall entsprechender Lieferungen aus der Ukraine und Russland bewirkt einen Anstieg des Weltmarkpreises für Weizen. Das lässt die Inflation weiter steigen.

Noch gravierender sind höhere Nahrungsmittelpreise jedoch für Entwicklungsländer – vor allem für die Länder, die keine Rohstoffe besitzen, mit denen sie Exporterlöse erzielen können.

Hier drohen Armut und Hunger.

Die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise dürften es noch schwerer machen, der zuletzt bereits hohen Inflation entgegenzuwirken. Die europäische Zentralbank befindet sich in dem Dilemma, die Geldpolitik eigentlich wieder straffen zu müssen, ohne derweil die ohnehin angespannte wirtschaftliche Lage zu verschlimmern und die Konjunktur mit steigenden Zinsen abzuwürgen.

© Tom Hauk – unsplash.com

Kräftiger Wirtschaftseinbruch in Russland zu erwarten

Ökonomisch betrachtet, ist der Angriff auf die Ukraine in Kombination mit den jetzt schon angekündigten Sanktionen ein Desaster für Russland. Bereits kurzfristig ist mit einem erheblichen Einbruch des BIP zu rechnen. Dafür gibt es verschiedene Ursachen.

Die russischen Exporte gehen wegen der bereits beschlossenen Wirtschaftssanktionen zurück. In den exportierenden Unternehmen Russlands verringert das die Produktion und die Beschäftigung. Der Ausfall von Exporterlösen bedeutet einen Einkommensausfall. Geringere Einkommen ziehen eine geringere Konsumnachfrage nach sich. Daher gehen in Russland Produktion und Beschäftigung zusätzlich zurück.

Die starke Abwertung der russischen Währung verteuert Importe aus dem Rest der Welt. Damit steigen die Verbraucherpreise in Russland. Steigende Preise reduzieren die Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern. Produktion, Beschäftigung und BIP in Russland sinken weiter.

Schließlich ist noch zu berücksichtigen, dass ausländische Anleger ihr Kapital aus Russland abziehen. Das führt zu einer Kreditverknappung, die die Finanzierung von Investitionen erschwert. Geringere Investitionen wirken sich negativ auf das langfristige Wachstum aus. Gleiches gilt, wenn der Zugang zu modernen westlichen Technologien versperrt bleibt.

Um die Einnahmeausfälle aus dem eigenen Exportgeschäft auszugleichen, könnte Russland Teile seiner Gold- und Devisenreserven verkaufen. Deren Wert liegt gegenwärtig bei rund 630 Milliarden US-Dollar.

Allerdings ist nicht klar, in welchem Umfang Russland tatsächlich auf diese Reserven zugreifen kann. Teile der Devisenreserven und Wertpapiere sind in Ländern deponiert, die Sanktionen gegen die russische Zentralbank erhoben haben. Russland kann diese Vermögensgegenstände momentan also gar nicht nutzen.

Und: Sollte es tatsächlich zu einem massiven Verkauf von zum Beispiel Goldreserven kommen, würde der Goldpreis sinken. Das schmälert die russischen Einnahmen aus dem Verkauf dieser Reserven.

Rückwirkungen des russischen Wirtschaftseinbruchs auf Deutschland

Eine Schwächung der russischen – und der ukrainischen – Wirtschaft trifft diese beiden Länder und die dort lebenden Menschen am härtesten. Allerdings ergeben sich auch Rückwirkungen auf Deutschland und die EU: Für den Rest der Welt bedeutet dies sinkende Exporte nach Russland. Das trifft vor allem Finnland und die baltischen Länder, die wegen ihrer geografischen Nähe enge wirtschaftliche Verflechtungen mit Russland haben.

Wenn in allen diesen Ländern das BIP und die Beschäftigung nachlassen, können sich die Menschen in diesen Ländern weniger ausländische Produkte leisten – also können auch die deutschen Exporte negativ betroffen sein – mit den entsprechenden Folgen für Produktion und Beschäftigung.

Kommt es zu einer Zweiteilung der Weltwirtschaft?

Eine Wirtschaftssanktion ist der Ausschluss Russlands aus der „Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication“ – kurz SWIFT. Diese Organisation stellt ein sicheres Telekommunikationsnetz bereit, das den internationalen grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr abwickelt.. Ohne die Möglichkeit, an diesem Netz teilzunehmen, wird die Abwicklung von Exporten und Importen nahezu unmöglich.

Eine denkbare Reaktion Russlands auf den SWIFT-Ausschluss in Kombination mit den übrigen Wirtschaftssanktionen könnte darin bestehen, dass Russland seine Handelsbeziehungen ändert.

So könnte Russland das Erdgas, das nicht mehr nach Europa exportiert werden kann, an China verkaufen. Der chinesische Energiebedarf ist groß, eine entsprechende Nachfrage läge also vor. Zudem könnten beide Länder finanzielle Transaktionen durchführen, ohne dabei US-Dollar zu verwenden.

Denkbar wäre auch, dass Russland im Gegenzug für sein Öl und Erdgas direkt chinesische Konsum- und Investitionsgüter erhält. China, das bereits jetzt der mit Abstand wichtigste Handelspartner Russlands ist, würde damit noch wichtiger für die russische Volkswirtschaft.

Diese Überlegung weitergedacht, könnte sich daraus eine zweigeteilte Welthandelsordnung entwickeln, die aus einem westlichen Block mit Europa, Japan, Ozeanien, Nord- und Südamerika besteht sowie einem östlichen Block mit China, Russland und deren wichtigsten Handelspartnern.

Das Ergebnis wäre eine Deglobalisierung, mit der viele ökonomische Vorteile der internationalen Arbeitsteilung verloren gingen – allen voran niedrige Preise für Konsumgüter und reale Einkommensgewinne.

Exportorientierte Volkswirtschaften wie Deutschland wären davon besonders hart getroffen.

Ob es jedoch tatsächlich dazu kommt, ist ungewiss. Wegen der eingangs gezeigten großen Unterschiede bei der Wirtschaftskraft sind Europa und die USA als Abnehmer chinesischer Produkte für China wesentlich wichtiger als Russland. Ob China es riskiert, seine wirtschaftliche Anbindung an den Westen zu verschlechtern, ist fraglich.

Doch selbst wenn es nicht zu einer Zweiteilung der Weltwirtschaft kommt, ist zukünftig eine stärkere wirtschaftliche Verflechtung zwischen Russland und China zu erwarten. Das könnte die chinesische Nachfrage nach Produkten aus Deutschland und der EU reduzieren.

Perspektiven der deutschen Wirtschaft

Sinkende Exporte bedeuten für eine Exportnation wie Deutschland einen Rückgang von Produktion und Beschäftigung. Allerdings dürften die ausbleibenden Energieimporte in Deutschland und in der EU den strukturellen Wandel hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft forcieren.

Die für die ökologische Transformation erforderlichen privaten und öffentlichen Investitionen bedeuten eine Güternachfrage, die die Exporteinbußen kompensieren kann. Auch die angekündigte Steigerung der deutschen Militärausgaben wirkt für sich genommen wie ein Konjunkturpaket.

Die öffentlichen Finanzen geraten durch die dafür erforderlichen Staatsausgaben weiter unter Druck, denn zusätzlich zu den bereits während der zweijährigen Coronapandemie angefallenen Schulden kommen nun weitere Schulden hinzu. Das ist jedoch ein notwendiger Preis, der zur Stabilisierung von Produktion, Beschäftigung und Einkommen, vor allem aber für die mit der Solidarität zur Ukraine verbundene Isolation Russlands zu zahlen ist.



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