Verteilungswirkungen: Warum wir dringend eine Pflegereform brauchen

Prof. Dr. Peter HaanDeutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)

Dr. Johannes GeyerDeutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)

Der demografische Wandel schreitet voran, Deutschlands Bevölkerung wird älter. Der Altenquotient, also das Verhältnis der Personen im Rentenalter zu Personen im erwerbsfähigen Alter, wird voraussichtlich von derzeit 0,35 auf etwa 0,5 im Jahr 2050 ansteigen. Das bedeutet, dass dann etwa zwei Personen im erwerbsfähigen Alter auf eine Person im Rentenalter kommen.

Es ist auch zu erwarten, dass die Zahl der Hochbetagten – also Menschen, die älter als 80 Jahre alt werden – deutlich zunehmen wird: Das Statistische Bundesamt schätzt in der mittleren Variante seiner Bevölkerungsfortschreibung 9,6 Millionen Menschen im Jahr 2050 voraus.

Heute sind knapp sechs Millionen Menschen in dieser Altersgruppe. Der Anteil der Personen in dieser Gruppe, die Leistungen der Pflegeversicherung beziehen, liegt bei 40 Prozent.

Die fortschreitende Zunahme dieser Altersgruppe wird also sehr wahrscheinlich dazu führen, dass es zu einem deutlichen Anstieg der Nachfrage nach zusätzlichen Pflegeleistungen kommt und die Kosten für das Pflegesystem entsprechend steigen.

Eine der zentralen politischen Fragen für die kommenden Jahre ist, wie diese Kosten finanziert werden sollen.

Teilkaskoversicherung Pflege

Die öffentlichen Ausgaben werden derzeit fast vollständig aus den Sozialversicherungsbeiträgen finanziert. Pandemiebedingt hat der Bund im Jahr 2020 die Pflegeversicherung zum ersten Mal mit einem substanziellen Steuerzuschuss von fast zwei Milliarden Euro unterstützt.

Da die Einnahmen absehbar nicht ausreichen werden, um die Kosten zu decken, führt der Bund der Pflegeversicherung ab 2022 eine Milliarde zusätzlich zu. Gleichzeitig steigt der Beitragszuschlag für Kinderlose ab diesem Jahr um 0,1 Prozentpunkte. Weitere Anhebungen der Sozialversicherungsbeiträge oder höhere Steuerzuschüsse sind sehr wahrscheinlich.

Für die pflegerische Versorgung ist die Pflegeversicherung aber nur ein Baustein. Daneben und zusätzlich werden privates Engagement in Form der informellen Pflege und private Zuzahlungen weiterhin eine wichtige Rolle spielen.

Im Gegensatz zu den anderen Bereichen der Sozialversicherung werden die Kosten der Pflegeversorgung in Deutschland nur teilweise durch die gesetzliche Pflegeversicherung abgedeckt, sie ist sozusagen eine Teilkaskoversicherung – der Rest muss privat getragen werden.

Das betrifft Zuzahlungen zu den Leistungen der Pflegeversicherung, aber auch das informelle Engagement der Angehörigen, die eine Großteil der Pflege in Deutschland stemmen. Ob und in welchem Umfang die privaten Zuzahlungen in den kommenden Jahren steigen werden, hängt von der konkreten Umsetzung künftiger Reformen ab.

Im Bundesschnitt liegt die privat zu tragende finanzielle Belastung in der stationären Pflege bei fast 2.200 Euro pro Monat. Diese Kosten setzen sich aus Kosten für Investitionen, Unterkunft und Verpflegung und dem sogenannten einrichtungseinheitlichen Eigenanteil (EEG) zusammen.

Verteilungswirkungen müssen berücksichtigt werden

2021 wurde entschieden, den EEG in Abhängigkeit der Länge des Aufenthalts zu deckeln. Allerdings liegt der Anteil des EEG im Bundedurchschnitt nur bei etwa 40 Prozent, so dass weiterhin hohe Zuzahlungen über einen längeren Zeitraum nötig sind.

Damit sind die steigenden Kosten nicht nur eine finanzpolitische Frage, auch die Verteilungswirkungen müssen bei allen Reformvorschlägen berücksichtigt werden.  Dabei sind zwei Aspekte wichtig.

Zum einen ist die private Eigenbeteiligung nicht abhängig vom Einkommen und für viele Menschen mit geringen Einkommen kaum oder nicht allein zu stemmen. Diese Menschen können also nur geringere Beiträge zahlen oder sind darauf angewiesen, dass die Sozialhilfe die Kosten trägt, was Auswirkungen auf die Auswahl und die Qualität der möglichen stationären Einrichtung haben dürfte.

Zum anderen ist das Pflegerisiko nicht zufällig über die Bevölkerung verteilt, sondern es hängt stark vom sozioökonomischen Hintergrund ab.

© Dominik Lange – unsplash.com

Pflegerisiko hängt stark vom sozioökonomischen Hintergrund ab

Dieser Zusammenhang lässt sich empirisch klar belegen. Eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) auf Basis von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zeigt beispielsweise, dass Männer, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient haben, etwa sechs Jahre früher auf die häusliche Pflege angewiesen sind als Männer mit mehr als 150 Prozent des mittleren Einkommens. Bei Frauen beträgt die Differenz rund dreieinhalb Jahre.

Ähnliche Unterschiede finden sich auch nach beruflicher Stellung: Arbeiterinnen und Arbeiter werden durchschnittlich etwa vier Jahre früher pflegebedürftig als Beamtinnen und Beamte.

Auch berufliche Belastungen erhöhen das Pflegerisiko. Männer, die einer hohen beruflichen Belastung ausgesetzt sind, sind im Durchschnitt fast fünf Jahre früher pflegebedürftig als Männer mit einer geringen beruflichen Belastung.

Bei Frauen fallen die Unterschiede mit etwa zweieinhalb Jahren etwas geringer aus. Zudem zeigen die Daten, dass die Pflegebedürftigkeit für diese Gruppen nicht nur früher eintritt, sondern auch häufiger.

Bürgerversicherung könnte Ungleichheit reduzieren

Um dem sozialpolitischen Problem im Pflegesystem kurzfristig zu begegnen, wäre eine weitreichende Pflegereform notwendig.

Da die Pflegeversicherung mit knappen Mitteln kalkulieren muss, wäre es ratsam, ihre Leistungen anzupassen und sie beispielweise stärker vom Einkommen abhängig zu machen. So unterscheidet die Deckelung der EEG beispielsweise nicht nach dem Einkommen.

Längerfristig könnte eine Bürgerversicherung, in der private und gesetzliche Pflegeversicherung zusammengebracht werden, die Ungleichheit reduzieren, da sich das Pflegerisiko auch deutlich zwischen Menschen mit privater oder gesetzlicher Pflegeversicherung unterscheidet.

Die empirischen Befunde unterstreichen zudem, dass eine nachhaltige Politik bereits in der Erwerbsphase ansetzen sollte. Eine präventive Politik, die das Risiko der Pflegebedürftigkeit senkt, hätte langfristig nicht nur das Potenzial, die Lebensqualität der Menschen zu erhöhen, sondern auch die Folgekosten der demografischen Alterung zu reduzieren.

Diese Maßnahmen würden auch die Ungleichheit in der Lebenserwartung reduzieren. Die Schwierigkeit bei der Umsetzung dieser Maßnahmen liegt vor allem darin, dass sich die Früchte der Politik erst mit erheblichem Zeitverzug ernten lassen.

 



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