Megatrend-Report: „Neben den Klimazielen gibt es noch viele weitere Baustellen“

Prof. Dr. Jens SüdekumHeinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Spätestens durch den Angriff Russlands auf die Ukraine sowie die anschließende Energiekrise ist die Frage nach der heimischen Standort-Attraktivität zurück auf der Tagesordnung. Welche Belastungsfaktoren schwächen den Industrie-Standort Deutschland und wie verändern sie sich im Zusammenhang mit dem voranschreitenden Klimawandel, dem geopolitischen Systemwettbewerb oder dem demografischen Wandel?

Der neue Megatrend-Report der Bertelsmann Stiftung zeichnet ein aktuelles Lagebild und diskutiert verschiedene wirtschaftspolitische Ansätze für eine erfolgreiche Transformation der deutschen Industrie-Nation in Richtung einer Nachhaltigen Sozialen Marktwirtschaft. Darin kommt auch Prof. Dr. Jens Südekum, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), zu Wort.

Die ökologische Transformation verlangt umfangreiche Investitionen in Deutschland. Ohne eine wirtschaftspolitische Flankierung wird es der Privatwirtschaft kaum gelingen, diese Mammutaufgabe zu stemmen. Wie ist hier ein Gleichgewicht zwischen „Zuckerbrot“ und „Peitsche“ zu finden?

Prof. Dr. Jens Südekum: Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat 2019 ausgerechnet, wie viele zusätzliche Investitionen bis 2030 notwendig sind, um die Klimaziele zu erreichen. Er kam dabei auf 860 Milliarden Euro. Ich glaube, diese Zahl ist mittlerweile größer geworden, denn das vermeintlich billige russische Gas steht als Brückentechnologie nicht mehr zur Verfügung. Außerdem plagen uns mittlerweile Inflation, Fachkräftemangel und geopolitische Spannungen stärker als vor der Krise. Wir dürften also eher bei 1 Billion Euro liegen.

Der Großteil dieser Investitionen muss privatwirtschaftlich von den Unternehmen kommen. Aber auch der Staat ist gefordert. Neben der öffentlichen Infrastruktur wird er Förderprogramme und Subventionen anbieten müssen, denn andere wichtige Länder auf der Welt machen ihre Klimapolitik schließlich auch nach dem Prinzip „Zuckerbrot“. Da können wir nicht alleine mit der Peitsche, mit CO2-Preisen hantieren, sonst wird die Industrie abwandern.

Zudem gibt es neben den Klimazielen noch viele weitere Baustellen – etwa in den Bereichen Digitalisierung, Bildung und Sicherheit. Rechnet man alles zusammen, kommt man leicht auf einen zusätzlichen öffentlichen Investitionsbedarf von 100 Milliarden Euro jährlich bis ins Jahr 2030.

Diese Realität ist in den öffentlichen Haushalten noch in keiner Weise angekommen.

Prof. Dr. Jens Südekum

Hier ist in der Fiskalpolitik ein Umsteuern erforderlich, auf europäischer wie auf nationaler Ebene, damit unsere Volkswirtschaften gut durch diese kritische Phase kommen und der Wohlstand langfristig erhalten bleibt.

Im Rahmen dieser Transformation ist nicht auszuschließen, dass bestimmte Branchen in Deutschland ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Gibt es einen “industriellen Kern”, der für die deutsche Volkswirtschaft unverzichtbar ist? Welche Branchen oder Teile der Wertschöpfung gehören zu diesem unverzichtbaren Kern?

Südekum: Es mag gut sein, dass die Produktion sehr energieintensiver Grundstoffe wie Ammoniak oder Harnstoff in Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig ist. Hier sollte man, wo immer möglich, auf Importsubstitution setzen.

Aber dieser Prozess darf nicht zu weit geführt werden. Der Kern industrieller Wertschöpfungsketten sollte am Standort verbleiben, denn die Industrie erfüllt in der deutschen Volkswirtschaft eine wichtige Ankerfunktion. Deutschland sollte in meiner Vorstellung zum Beispiel Autoland bleiben. Und damit benötigen wir auch eine heimische Produktion von zentralen Komponenten wie Batteriezellen, Halbleitern oder auch Stahl.

Zukunftsbranchen wie Wasserstoff oder neue Lösungen im Bereich der Circular Economy sind ebenso wichtig wie Ausrüstungsgüter für die Energiewende, also etwa Windräder oder Solarpanele. Natürlich lässt sich nie ganz trennscharf abgrenzen, was den nun genau zum industriellen Kern gehört. Jede Branche wäre gerne dabei und wird entsprechend kommunizieren. Aber wenn man einmal nach Amerika schaut, welche Branchen dort gerade stark im Fokus der offensiven Ansiedlungspolitik stehen, bekommt man eine gute Vorstellung.

Ein besonders intensiv diskutiertes wirtschaftspolitisches Instrument ist gegenwärtig der Industriestrompreis, also ein subventionierter Strompreis für Unternehmen. Brauchen wir dieses Instrument? Und wenn ja: Wie können wir verhindern, dass dadurch die bestehenden wirtschaftlichen Strukturen erhalten bleiben und notwendige Investitionen in klimaneutrale Technologien unterbleiben?

Südekum: Ich glaube, wir brauchen diesen Brückenstrompreis. Wir spüren doch gerade noch die Nachwirkungen der Energiekrise nach dem russischen Angriffskrieg. Es gibt aber die begründete Hoffnung, dass die Strompreise in einigen Jahren wieder deutlich fallen werden. Dafür spricht, dass das Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren deutlich angezogen hat, bei der Photovoltaik haben wir jetzt schon über 90 Prozent unseres Jahresziels erreicht. Dazu kommen die neuen, riesigen Flüssiggas-Häfen, die das russische Gas mehr als ersetzen können.

Deswegen ist es realistisch, dass die Börsenstrompreise in absehbarer Zeit unter die geforderten fünf oder sechs Cent pro Kilowattstunde fallen, so wie vor der Krise. Das Problem ist aber, dass Investitionsentscheidungen heute getroffen werden. Deshalb reicht es nicht, dass man glaubt, dass die Preise sinken, während andere Länder wie die USA schon heute viel günstigere Strompreise und zusätzliche Subventionen bieten. Wir müssen den Unternehmen Sicherheit bieten, damit sie nicht anderswo investieren und am Ende nie wieder zurückkommen.

Außerdem kann ein richtiger Industriestrompreis die Transformation beschleunigen, dann nämlich, wenn ihn nicht nur Unternehmen bekommen, die schon heute stromintensiv sind, sondern auch solche, die ihre Produktionsprozesse elektrifizieren. Für diese Investitionen ist der Strompreis die entscheidende Determinante und wenn hier Planungssicherheit geschaffen wird, werden viele Unternehmen diese ohnehin geplanten Investitionen vorziehen, und zwar hier am Standort und nicht irgendwo anders auf der Welt.

Weitere Beiträge zum Thema auf unserem Blog:

Deutschland im grünen Standortwettbewerb von Dr. Marcus Wortmann, Bertelsmann Stiftung

Subventionierte Strompreise zur Transformation? von Prof. Dr. Kathrine von Graevenitz, Elisa Rottner (beide ZEW) und Dr. Andreas Gerster, Universität Mannheim

Grüne Konjunkturpolitik als Mittel der Transformation? von Prof. Dr. Erik Gawel, UFZ und Kollegen



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