Wie Dekarbonisierung die Geografie der industriellen Produktion verändert

Wasserstoff aus erneuerbaren Quellen ermöglicht die Dekarbonisierung energieintensiver Industrien wie etwa die Chemie- und Stahlindustrie. Ein rasches Hochfahren der Produktion von erneuerbarem Wasserstoff ist in diesem Zusammenhang eine entscheidende Herausforderung und wirft Fragen im Hinblick auf die künftige Geografie einer klimafreundlichen Industrieproduktion auf.

Bestehende Zentren der industriellen Produktion untersuchen Möglichkeiten, um den Zugang zu ausreichenden Mengen an erneuerbarem Wasserstoff zu sichern, um bestehende Produktionsanlagen zu dekarbonisieren. Gleichzeitig prüfen Regionen mit hohem Potenzial  für erneuerbare Energien die Möglichkeit, dies als Vorteil zu nutzen, um Investitionen in eine klimafreundliche Industrieproduktion anzuziehen.

Während die Debatte dazu bislang weitgehend theoretisch blieb, liefert unsere neue Studie erste empirische Daten dazu.

Umfrage unter Manager:innen der Branche

In unserer Umfrage haben über 300  Managerinnen und Manager der 50 größten Chemie- und Stahlunternehmen weltweit beschrieben, wie sich die Dekarbonisierung der Industrie ihrer Meinung nach bis 2050 auf die Investitionsentscheidungen in den beiden Sektoren auswirken wird. Als Branchenkennende und Entscheiderinnen und Entscheider sind die Befragten nicht nur einzigartig positioniert, um Einblicke in aktuelle Trends zu geben, sondern ihre Erwartungen werden die Investitionsentscheidungen in ihren Unternehmen beeinflussen. Mit anderen Worten: Die in dieser Umfrage aufgezeigten Perspektiven werden die Industrielandschaft vor Ort prägen.

Vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse der Umfrage eine Bestätigung dafür, dass die Verfügbarkeit erneuerbarer Energiequellen ein wichtiger Treiber für künftige Investitionsentscheidungen sein wird.

92 Prozent der Befragten sind davon überzeugt, dass der Einsatz von erneuerbarem Wasserstoff zur Dekarbonisierung der Industrieproduktion in der Chemie- und Stahlindustrie die geografische Verteilung der Produktion im eigenen Unternehmen bis 2050 deutlich verändern wird. 89 Prozent geben an, dies gelte für die gesamte Branche.

In der Umfrage wurden Manager gebeten, die wichtigsten Faktoren zu bewerten, die ihre Investitionsstandort-Entscheidungen bis 2050 beeinflussen werden. Die Befragten in der Stahl- und Chemieindustrie nennen das Potenzial für erneuerbare Energien als den wichtigsten Faktor bei Standortentscheidungen.

Laima Eicke, Prof. Rainer Quitzow und Niklas Kramer

Darauf folgen unterstützende Maßnahmen und der Zugang zu Subventionen; die Rolle von Handelshemmnissen und geopolitische Faktoren. Alle oben genannten Faktoren werden als wichtiger erachtet als die aktuellen Produktionsstandorte, die Nähe zu den Verbrauchermärkten, die Qualifikation und Kosten der Arbeitskräfte oder Kapitalkosten und günstige Investitionsbedingungen.

Die Ergebnisse liefern neue empirische Erkenntnisse für die Debatte darüber, wie sich die Wertschöpfung durch die Dekarbonisierung der Industrie verschieben könnte. Wir sehen drei Hauptimplikationen, die sowohl für industrielle Interessensgruppen als auch politische Entscheidungstragende relevant sein werden:

Pull-Effekt von Erneuerbaren Energien

Der „Pull-Effekt erneuerbarer Energien“ beschreibt die potenzielle Rolle, die die Verfügbarkeit kostengünstiger erneuerbarer Energien spielen könnte, um Investitionen in klimafreundliche Industrien anzuziehen, die auf „Erneuerbare“ angewiesen sind.

Frühere Studien haben gezeigt, dass Küstengebiete mit günstigen Windbedingungen oder Regionen mit hoher Sonneneinstrahlung beispielsweise deutlich niedrigere Grenzkosten für erneuerbare Energien aufweisen, was zu einer industriellen Verlagerung in diese Regionen führen könnte. Bisher war dies jedoch eine rein theoretische Debatte.

Und es bleibt eine offene Frage, welche Rolle erneuerbare Energien bei komplexen Investitionsentscheidungen spielen und wie sie im Vergleich zu anderen wichtigen Faktoren wie Arbeits- und Kapitalkosten, Infrastruktur und Netzwerkeffekten in Industrieclustern abschneiden. Unsere Studie zeigt, dass Managerinnen und Manager erneuerbare Energiequellen wichtiger einstufen als andere Faktoren.

Strategische Industriepolitik kann Investitionen verlagern 

Die grüne Industriepolitik erlebt ein Revival, wobei die Politik eine Katalysatorrolle für die entstehenden Märkte für grünen Wasserstoff spielt. Es wird erwartet, dass solche politischen Rahmenbedingungen die Investitionsentscheidungen im Stahl- und Chemiesektor stark beeinflussen.

Dieser Pull-Effekt zeigt sich in den gestiegenen Investitionen in den USA nach der Verabschiedung des Inflation Reduction Act, der großzügige Steuererleichterungen für Investitionen in verschiedene saubere Technologien vorsieht. Die Regeln für Investitionen in die Wasserstoffproduktion sind zwar noch nicht endgültig festgelegt, aber es ist sicher, dass sie die Kosten für die Produzenten von sauberem Wasserstoff in den Staaten erheblich senken werden. Dies hat mehrere große europäische Unternehmen wie Enel, Volkswagen, BMW, NEL und Freyr dazu veranlasst, rund 20 Produktionsstätten für saubere Energie in den USA auszubauen.

Die jüngste RIFS-Diskussionspapierreihe analysiert Wasserstoffstrategien und die damit verbundene Industriepolitik in wichtigen Ländern weltweit, darunter China, die USA, die EU und mehrere Mitgliedsstaaten sowie eine Reihe afrikanischer Länder wie Marokko, Algerien und Namibia. Ein nuanciertes Verständnis länderspezifischer Vorteile, einschließlich des Potenzials für die Produktion von erneuerbarem Wasserstoff sowie des Know-hows, der Infrastruktur und anderer Faktoren, wird wichtig sein, um spezifische und strategische Industriepolitiken für verschiedene Ländertypen zu definieren – wie etwa potenzielle Wasserstoffexporteure mit guten Ressourcenbedingungen, industrialisierte, importabhängige Länder oder Länder mit Chancen für eine grüne Industrialisierung.

Geopolitik prägt künftige Wertschöpfungsketten – und umgekehrt

Geopolitische Überlegungen, die in der Umfrage an dritter Stelle stehen, sind ein weiterer Schlüsselfaktor, der die Geografie der zukünftigen Industrieproduktion prägt. Die Geopolitik spielt eine Rolle bei der Gewährleistung einer sicheren Versorgung mit erneuerbarem Wasserstoff und beeinflusst maßgeblich die Strategien für die Entwicklung von Wasserstoffimporten in der EU und in wichtigen EU-Mitgliedstaaten.

Die Geopolitik prägt jedoch nicht nur Investitionsentscheidungen entlang industrieller Wertschöpfungsketten, sondern kann zu neuen geopolitischen Spannungen führen. Große Volkswirtschaften wie China, die USA und EU haben kostspielige Subventionsprogramme aufgelegt, um für die Führungsrolle in den grünen Technologien zu konkurrieren. Größere Volkswirtschaften im Globalen Süden werden mit stärkeren Haushaltszwängen konfrontiert sein, wenn es um solche politischen Interventionen geht, was wichtige Gerechtigkeitsfragen aufwirft.

Dies dürfte die Debatten über die Notwendigkeit von Finanzmitteln und Technologietransfer zur Unterstützung der grünen industriellen Entwicklung im Globalen Süden noch intensivieren.

Weitere Beiträge zum Thema auf unserem Blog:

Welche Rolle spielt Wasserstoff als Energieträger im globalen Energiesystem? von Matia Riemer und Johannes Eckstein, Fraunhofer ISI

Klimaschutz und Industrieerhalt: Wie gelingt der Spagat in der Grundstoffindustrie? von Sara Holzmann, Daniel Posch und Dr. Marcus Wortmann, Bertelsmann Stiftung

Der Nachhaltigkeitswandel als Jobmotor für die deutsche Wirtschaft von Fritz Putzhammer, Bertelsmann Stiftung



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