„Qualifizierung ist der Schlüssel, um schnell und flexibel auf Entwicklungen reagieren zu können“
Ein Großteil der deutschen Wirtschaft ist bisher wenig innovativ. Das zeigt auch eine kürzlich von der Bertelsmann Stiftung veröffentliche Studie. Darunter leidet auch die gesamtgesellschaftliche Produktivität, die in Deutschland seit Jahren stagniert. Woran liegt es, dass gerade in KMU zu wenig investiert und innoviert wird? Was könnte die Politik tun, um die Rahmenbedingungen zu verbessern? Diesen Fragen wollen wir im Rahmen unserer Serie „Produktivität aus Unternehmenssicht“ nachgehen. Zu Wort kommen dabei Vertreter:innen von mittelständischen Unternehmen, die sich im Prozess der Automatisierung und Digitalisierung befinden. Im fünften Teil unserer Serie heute: Ingolf Jakobi, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbands der Deutschen Elektro- und Informationstechnischen Handwerke (ZVEH)
Ben Schröder: Herr Jakobi, der ZVEH vertritt die Interessen von mehr als 50.000 Betrieben aus den E-Handwerken. In welchen Bereichen sind die von Ihnen vertretenden Firmen genau tätig?
Ingolf Jakobi: Insgesamt vertritt der ZVEH rund 511.000 Beschäftigte in einer Branche, die im Jahr 2019 einen Umsatz von 66 Milliarden Euro erwirtschaftet hat. Die E-Handwerke bilden jährlich 45.000 junge Menschen aus, worauf wir sehr stolz sind. Das nur vorab.
Die von uns vertretenden Betriebe sind durch eine große Vielfalt gekennzeichnet: Von der Gebäudetechnik über die Systemelektronik bis hin zur Automatisierungstechnik sind die E-Handwerke in verschiedensten Bereichen aktiv. Sie planen, warten und installieren Elektrohausanlagen – sowohl in privaten als auch gewerblichen Gebäuden. Sie sorgen außerdem dafür, dass der Breitbandausbau vorangeht und schaffen die Grundlage für E-Mobilität. Unsere Arbeit reicht damit weit in den Alltag vieler Menschen.
Sie sind seit 2004 Hauptgeschäftsführer des ZVEH. Seitdem hat sich die Welt rasant gewandelt. Was sind die für das E-Handwerk markantesten Veränderungen?
Ich bin seit 1993 in der Geschäftsführung des ZVEH und kann damit sogar noch etwas weiter zurückschauen. Eine der markantesten Veränderungen ist sicher, wie sich das Image der E-Handwerke in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt hat. In den 90er-Jahren kam der Strom in erster Linie aus Kernkraftwerken. Die Entsorgungsprobleme von radioaktiven Abfällen waren schon damals bekannt, sodass die E-Handwerke durch ihre enge Verbindung zum Strom in der Öffentlichkeit eher negativ wahrgenommen wurden. Heute ist das anders: Der wachsende Anteil der Erneuerbaren Energien an der Energieversorgung hat dazu beigetragen, dass Strom mittlerweile als Energieträger viel positiver bewertet wird. Auch zur Digitalisierung und E-Mobilität leistet das E-Handwerk einen entscheidenden Anteil. Unsere Betriebe stehen damit für Nachhaltigkeit, Energieeffizienz und Klimaschutz.
Hinzu kommt, dass sich durch die Digitalisierung auch die Arbeitsweise in den Betrieben verändert hat, zum Beispiel durch neue Tools wie den sogenannten E-Konfigurator. Der E-Konfigurator ermöglicht dem Handwerker, Projekte digital zu planen, zu konfigurieren und zu kalkulieren – und das direkt vor Ort, beim Kunden. Der Handwerker kann so noch individueller auf die Wünsche und Vorstellungen der Kunden eingehen und dies in Echtzeit in der Planung berücksichtigen.
Sie sprechen es an: Dem E-Handwerk kommt im Zuge der Digitalisierung eine besondere Rolle zu. Könnten Sie näher erläutern, wieso das so ist?
Digitalisierung bedarf hochleistungsfähiger Netze, die ohne das E-Handwerk, ohne qualifizierte Handwerker, nicht entstehen werden. Digitalisierung wiederum ist die Grundlage für eine Reihe von Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz, das Internet of Things und innovative Gebäudetechnologien. Die E-Handwerke sind dabei zunehmend nicht nur als Planer und Installateure gefragt, sondern aufgrund immer komplexer werdender Systeme auch in immer stärkerem Maße als Systemintegratoren, die unterschiedliche Systeme harmonisieren. Für ihre Arbeit bedeutet das: Sie müssen künftig viel stärker gewerkeübergreifend und schnittstellen-orientiert denken.
Innovationszyklen haben sich extrem beschleunigt, Märkte gewinnen mehr und mehr an Dynamik, wie auch eine Studie der Bertelsmann Stiftung verdeutlicht. Wie schaffen es die E-Handwerke, sich permanent an diese Entwicklungen anzupassen?
Die E-Handwerke sind stark technologie-getrieben. Die Betriebe sind es deshalb gewohnt, sich relativ schnell anzupassen und Entwicklungen – mit all ihren Chancen und Herausforderungen – frühzeitig zu erkennen, was uns oft einen Informationsvorsprung verschafft. Trotzdem sind natürlich auch wir gefordert, die Personalqualifizierung stetig voranzutreiben und neue Geschäftsfelder zu entwickeln. Qualifizierung ist der Schlüssel, um schnell und flexibel auf Entwicklungen am Markt reagieren zu können. Der ZVEH sieht seine Aufgabe deshalb auch darin, das Qualifizierungs- und Ausbildungsangebot kontinuierlich anzupassen. Bereits vor drei Jahren haben wir im Rahmen eines Pilotprojekts des Bundeswirtschaftsministeriums damit begonnen, die elektrohandwerklichen Ausbildungsberufe stärker auf die Anforderungen der Digitalisierung auszurichten. Auf Grundlage dieses Projekts haben wir einen ganz neuen Ausbildungsberuf entwickelt: den Elektroniker für Gebäudesystemintegration. Die verschiedenen Systeme in einem Gebäude wachsen immer mehr zusammen, werden immer vernetzter. Der Elektroniker für Gebäudesystemintegration, für den ab 2021 ausgebildet wird, wird in Zukunft jemand sein, der vernetzt denken, planen und umsetzen und für den Kunden Gesamtlösungen finden kann.
Inwieweit spielt der Fachkräftemangel im E-Handwerk eine Rolle?
Anfang der 90er-Jahre waren im E-Handwerk in Deutschland rund 300.000 Menschen beschäftigt, heute sind es 511.000. Wir sind also deutlich gewachsen, während andere Branchen abgenommen haben. Das ist zunächst erfreulich. Trotzdem ist es richtig, dass auch wir den Fachkräftemangel spüren. Wir könnten durchaus noch mehr qualifiziertes Personal gebrauchen. Wir sind deshalb schon lange sehr aktiv in der Fachkräfte- und Nachwuchswerbung. Das hat sich für uns durchaus ausgezahlt: Im Jahr 2019 hatten wir zum fünften Mal in Folge einen Anstieg bei den Ausbildungszahlen. Besonders stark war der Anstieg bei weiblichen Azubis, was uns sehr freut. Das zeigt, dass die E-Handwerke ein gutes Angebot für junge Menschen bieten, die wir auch über Kanäle wie YouTube und Instagram oder durch die Zusammenarbeit mit Influencern anzusprechen versuchen.
Was würden Sie sich vom Staat wünschen, um das E-Handwerk bei Herausforderungen wie Fachkräftemangel und Digitalisierung zu unterstützen?
Wir würden uns wünschen, dass berufliche und akademische Bildung vom Gesetzgeber endlich als gleichwertig anerkennt werden. Es fließt viel Geld in die akademische Bildung, während die berufliche Bildung dabei oft auf der Strecke bleibt. Das, das sage ich ganz ehrlich, tut mir weh.
Eine stärkere Unterstützung respektive Förderung ist auch dort ein Thema, wo es um den Gebäudebestand in Deutschland geht. Hier wäre eine größere Technologieoffenheit in Bezug auf Möglichkeiten zur Verbesserung der Energieeffizienz von Gebäuden wünschenswert. Das hätte den Vorteil, dass auch smarte Technologien stärker ins Blickfeld rücken und gefördert werden könnten. Es geht darum, Gebäude energiewendefähig zu machen – hier sollten alle Möglichkeiten genutzt werden. Schließlich müssen moderne Elektroanlagen, wenn sie die Energiewende unterstützen und möglich machen sollen, nicht nur zunehmend mehr elektrische Geräte versorgen , sondern auch darauf ausgelegt sein, Strom aus dezentraler Erzeugung aufzunehmen bzw. ins Netz abzugeben oder Energie zwischenzuspeichern, so zum Beispiel mithilfe der Batterie eines E-Autos.
Kommen wir nun zu den Auswirkungen des Coronavirus. Wie haben die E-Handwerke die Pandemie bisher überstanden?
Überraschend gut. Geholfen hat uns sicher, dass das Bundesinnenministerium die E-Handwerke schon früh als systemrelevant anerkannt hat. Die Betriebe waren während der Krise somit von bestimmten Restriktionen befreit und konnten größtenteils ohne Behinderungen weiterarbeiten. Auch hatten viele Betriebe schon vor Beginn der Pandemie ein größeres Auftragspolster, das sie während der Krise abarbeiten konnten. Seit dem Ende des Shutdowns werden auch wieder verstärkt neue Aufträge akquiriert. Das E-Handwerk hat sich somit als relativ krisenfest erwiesen, was auch daran liegt, dass es im Hinblick auf die Kundengruppen und Einsatzbereiche sehr breit aufgestellt ist. Mehrere Standbeine zu haben, war sicherlich sehr hilfreich.
Was sind die Themen, die das E-Handwerk in den kommenden Jahren am stärksten beschäftigen werden?
Die derzeitigen Treiber für unsere Betriebe sind vor allem die Themen Digitalisierung und Energiewende. Das sind Herausforderungen, die unsere Branche vermutlich auch in den kommenden Jahrzehnten tragen werden. Auch die E-Mobilität springt immer mehr an. Gerade im privaten Bereich sehen wir eine hohe Nachfrage nach Ladeinfrastruktur.
Interessant ist auch das Thema Smart Home. Da entstehen für das E-Handwerk gerade ganz neue Dienstleistungsmöglichkeiten. Denken Sie einmal daran, wie viele Daten in einem vernetzten und intelligenten Gebäude produziert werden. Da wird Ihnen im ersten Moment schwindelig. Die Frage ist aber: Was passiert mit diesen Daten? Wer darf sie nutzen? Die E-Handwerke können Kunden bei Fragen wie diesen beraten, denn anders als die Hersteller sind die E-Handwerke produktneutral. Sie können objektiv beraten und stellen die Interessen des Kunden in den Mittelpunkt. Wir setzen uns daher dafür ein, dass der Kunde die Hoheit über seine Daten behält und selbst entscheiden kann, wem er sie für Dienstleistungen wie Wartung, Reparatur, Analyse oder zusätzliche Services zur Verfügung stellt.
Weitere Blog-Beiträge, die bisher im Rahmen unserer Unternehmensserie erschienen sind:
Roland Bent (Phoenix Contact): „Aus dem Labor heraus kann man nur begrenzt innovativ sein“
Christoph Geyer (Saertex): „In vielen Branchen konkurriert man heute nicht mehr mit Produkten, sondern mit Technologien“
Martin Lundborg (Mittelstand-Digital): „Die Digitalisierung bietet gerade für den Mittelstand Potenziale“
Diana Scholl („Gerade für eine Zeit nach Corona braucht der Mittelstand wieder mehr Handlungsspielräume“
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