Paradigmenwechsel in der Industrieproduktion nach Corona

Prof. Dr. Engelbert WestkämperUniversität Stuttgart

Die Corona-Pandemie hat der verarbeitenden Industrie die Verletzlichkeit des globalen Wirtschaftssystems deutlich gemacht. Die Mobilität von Menschen (Mitarbeitern) und Waren bzw. Gütern wurde massiv gestört, dies führte in vielen Sektoren der Wirtschaft zu einer Entschleunigung der Geschäfte oder gar zu Einbrüchen bei Aufträgen und Produktion. Sie hat zunehmende Insolvenzen aufgrund negativer Ergebnisse zur Folge. Vielfach konnten staatliche Hilfen den Unternehmen helfen, die Krise zu überleben.

Der Verlust an realer Wertschöpfung trifft nicht nur Deutschland und Europa, sondern alle Regionen mit industrieller Produktion. China hat trotz der Krise seine Wachstumsziele aufrechterhalten und entwickelt sich durch Fokussierung auf Spitzentechnologien zu einem immer stärkeren globalen Wettbewerber der hiesigen Unternehmen.

Am Ende der Krise kann die Wirtschaft einen Teil der Verluste wieder gewinnen, wenn jetzt die Zeit genutzt wird, um die Produktion zu stärken und Innovationen im gesamten Produktionssystem zu nutzen.

Im Vertrauen auf einen Wiederanstieg der Nachfrage nach technischen Gütern kann und sollte eine Veränderung der Paradigmen in Angriff genommen werden, um neue Potentiale für Wertschöpfung zu erschließen.

Neue Potentiale für Wertschöpfung

Der strategische Ansatz für die Produktion der Zukunft liegt in der Optimierung des gesamten Systems „Produktion“ durch Digitalisierung und technische Intelligenz im Lebenslauf der Produkte. Damit kann die verarbeitende Industrie einen essentiellen Beitrag zur Lösung sozialer, ökologischer und gesellschaftlicher Herausforderungen leisten.

Die in der Corona-Pandemie in der Wirtschaft zu beobachtenden Symptome unterscheiden sich graduell von der Finanzkrise vor rund 10 Jahren, die Deutschlands verarbeitende Industrie hart getroffen hatte, aus der viele Unternehmen aber neue dauerhafte Wachstumsimpulse schöpfen konnten.

Am Ende der Krise war die schnelle Reaktion auf Marktanforderungen und eine hohe technische Innovationsrate – verbunden mit der Fähigkeit zur Individualisierung bzw. zur Lösung von Produktionsproblemen durch Qualität und Zuverlässigkeit – mitentscheidend für das schnelle Wachstum.

Strukturelle Defizite

Allein die auf direkter Kommunikation von Herstellern und Kunden beruhenden Geschäftsmodelle erlebten sogar in der Krise ein hohes Wachstum, sofern die Logistik zuverlässig funktionierte. Heute zeigen sich strukturelle Defizite der Wirtschaftsregionen und ihre große Wirkung auf die Industrieproduktion deutlich:

  • Überregulierung, Bürokratisierung und staatliche Einflussnahme auf die Technologieentwicklung insbesondere in den Bereichen Fahrzeugbau, Maschinenbau und technische Konsumgüter.
  • Trägheit bei der Adaption des „Systems der Produktion“ in Bezug auf Wandlungstreiber aus Technologien und Märkten.
  • Opportunität staatlicher Subventionen und Gewinnmaximierung anstelle risikobehafteter Innovationen in neue Geschäftsmodelle.
  • Abhängigkeit von der ökonomischen Vernetzung und Globalisierung der Unternehmen einschließlich globaler Erwartungen an Wachstum und Profit.

Lebenslauf von Produkten betrachten

Die Wirtschaft lernt jetzt wieder die Bedeutung von Unsicherheit und Resilienz in ihren Operationen. Sie erkennt, dass das „System Produktion“ nicht nur die Prozessketten im eigenen Unternehmen umfasst (Entwicklung, Herstellung und Vertrieb), sondern den gesamten Lebenslauf der Produkte von ihrer Entstehung bis zu ihrem Ende.

Wertschöpfung entsteht durch die Summe aller Prozesse im Produktlebenslauf nach Abzug fremder Leistungen. Sie muss man heute als Wertschöpfung eines Systems verstehen, das auch Systemsynergien kennt und wandlungsfähig bzw. flexibel ist.

Es zeigt sich, dass die Wege von Waren und immateriellen Leistungen kurz sein sollten, um eine hohe System-Effizienz und Resilienz zu erreichen. So ist bekannt, dass Unternehmen im Südwesten Deutschlands die regionalen Vorteile kurzer Wege (Entfernung <500 Km) sowie eine hohe Technologiebandbreite und kompetente Serviceleistungen aus der Region für Kosten- und Zeitvorteile nutzen.

Regionale Infrastrukturen

In allen Prozessen sollte das beste Wissen um Wirkzusammenhänge und Optimierung angewendet werden. In der Praxis heißt das, Nähe zu Wissensquellen (Forschung) und unterstützenden Institutionen nutzen, um das jeweilige System schnell und sicher zu adaptieren. Alle Einflussfaktoren auf Prozesse – insbesondere der regionalen Umgebung – haben Auswirkungen auf die Produktivität und Wertschöpfung eines Systems, das den gesamten Lebenszyklus (Life Cycle) umfasst.

Die Wirkung einer hochentwickelten regionalen Infrastruktur auf die Innovations- und Wandlungsfähigkeit sowie Resilienz und auf die Wertschöpfung einzelner Unternehmen zeigt sich vor allem dann, wenn Interdisziplinarität und Kooperation für Spitzenleistungen vernetzter Lösungen und ein Maximum an Nutzen aus jeder materiellen Ressource gezogen werden muss.

Technische Intelligenz ermöglicht Einsparungen

In der Zukunft steigt die Bedeutung von Spitzenleistungen aus dem Gesamtsystem mit der Anwendung der sogenannten technischen Intelligenz in allen technischen und organisationalen Prozessen im Lebenslauf der Produkte noch weiter. Technische Intelligenz basiert auf der Fähigkeit zur real-time Anwendung von digital verfügbarem Wissen und Erfahrung.

Das Wissen steckt in Prozessmodellen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden, die Bezug nehmen auf aktuelle Situationen – erfasst durch Multi-Sensor-Netzwerke zur Beobachtung der Zustände, der Historien und Trends, einer Lernfähigkeit sowie einer dynamischen Simulation der kommenden Ereignisse infolge des Handelns bzw. einer automatischen Ausführung z. B. durch Computer, Maschinen, Roboter oder Menschen.

Schlüsseltechnologien sind prozessnahe Messtechnik (Sensoren), schnelle Datenübertragung und Kommunikation, Signalanalytik, Simulationstechnik, Roboter und Automatisierungstechnik. Die Verwendung wissenschaftlich fundierter Prozessmodelle ermöglicht eine Operation in Leistungsbereichen, die bisher durch die taktilen Eigenschaften begrenzt waren.

So lassen sich Grenzen der Leistung und der Präzision überwinden und Prozesse mit höchster Effizienz führen. Technische Intelligenz ermöglicht Energie- und Materialeinsparungen (Miniaturisierung der technischen Komponenten) ebenso wie längere Nutzungszeiten.

Deutsche Industrie gerät ins Hintertreffen

Die deutsche Industrie verfügt im Grundsatz noch über die notwendigen Kompetenzen, gerät aber bei den Spitzentechnologien der Halbleiter-, der Kommunikations- und Informationstechnik zunehmend ins Hintertreffen gegenüber globalen Lieferanten.

Die Aus- und Weiterbildung macht aufgrund der Akademisierung und Ferne von den realen Anforderungen sowie fehlender Interdisziplinarität Sorgen: Duale Systeme haben sich als vorteilhaft für die Fähigkeit zur zuverlässigen Arbeit und präzisen Durchführung erwiesen, zeigen aber Defizite im Bereich der Hochschulen und im Hinblick auf Selbständigkeit und Eigenverantwortung.

Infrastruktur der Regionen verbessern

In der Corona-Krise hat sich die verfügbare Kommunikationstechnik als äußerst vorteilhaft erwiesen. Sie verkürzte die Wege zwischen Hersteller und Anwender auch in der Kommunikation von Arbeitsgruppen in Entwicklung, Produktion und Logistik. Zahlreiche IT-Systeme haben die Produktivität einzelner Prozesse und Prozessketten kräftig erhöht, ihre globalen Standards verschaffen aber einzelnen Unternehmen keine Vorteile.

Die Digitalisierung zeigt bereits vielfach Wirkung und wird weiterhin zur Reduzierung der Beschäftigung und zur Veränderung der Handelswege beitragen, wenn sie nicht stärker für die Individualisierung der Produkte und Dienstleistungen genutzt werden kann.

Die Zukunft benötigt schnelle und zuverlässige Infrastrukturen für die Geschäftsmodelle entlang des Lebenslaufs der technischen Produkte und zur Aktivierung energetischer und materieller Potentiale. Die Politik ist gefordert, die Infrastruktur der Regionen auf die digitale Welt vernetzter Produktion und die Anwendung technischer Intelligenz nach Corona zu verbessern.

Produktivität neu definieren

Regionen mit hoher Bandbreite an technologischen Fähigkeiten, mit flexibel operierenden Unternehmen und mit hoher Qualifikation des Ingenieurbereichs sind in der Lage, auch globale Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen.

Wenn in den Industrie-Regionen auch noch die Schlüsseltechnologien der Zukunft zu finden sind wie beispielsweise der Halbleiter- Technologie, KI und AI sowie wissenschaftlich fundierte Prozessmodelle und ein auf Systemeffizienz und Qualität ausgerichteter Ingenieurbereich, dann wird es in der Zukunft möglich, Leistungssprünge im gesamten Lebenszyklus technischer Produkte mittels technischer Intelligenz zu erwirtschaften.

Die traditionelle Definition der Produktivität muss auf die Effizienz im gesamten Lebenslauf und das Modell der vernetzten globalen Wirtschaft auf Nachhaltigkeit ausgerichtet werden.



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