Lieferketten nach der COVID-19-Pandemie resilienter gestalten: Erkenntnisse aus deutschen Unternehmensdaten
Die deutsche Volkswirtschaft ist in einem großen Maße in internationale Wertschöpfungsketten integriert und profitiert wie kaum eine andere von offenen Weltmärkten.
Die Globalisierung wurde jedoch während der Corona-Krise auf den Prüfstand gestellt.
Der internationale Handel erwies sich zu Beginn der Pandemie als anfällig für die Krise. Viele Lieferketten brachen im zweiten Quartal 2020 aufgrund von Lockdowns und Grenzkontrollen zusammen. Das Handelsvolumen des Euroraums erreichte im April 2020 mit einem Rückgang von rund 25 Prozent seinen Tiefpunkt.
Allerdings bewies der internationale Warenhandel im Gegensatz zu vielen Prognosen im Verlauf der Pandemie auch seine Widerstandsfähigkeit: Bereits im Oktober 2020 übertraf das (preisbereinigte) Welthandelsvolumen an Waren das Niveau vor der Pandemie. Im Oktober 2021 lag das Welthandelsniveau saisonbereinigt sogar um 6 % höher als im Dezember 2019 (Baur und Flach, 2022).
Die rasche Erholung des Welthandels mit einem starken Anstieg der Nachfrage nach Konsumgütern in Verbindung mit geringeren Produktionskapazitäten und Störungen in der Containerschifffahrt führte im Verlauf der Pandemie zu immer größeren Lieferengpässen.
Forderung nach einer Renationalisierung der Lieferketten
Eine monatliche Umfrage des ifo Instituts von rund 9.000 Unternehmen in Deutschland zeigt, dass der Anteil der Unternehmen, die negativ von Materialengpässen betroffen sind, im Jahr 2021 über mehrere Monate hinweg stetig anstieg und Ende 2021 einen historischen Höchststand erreichte. So meldeten im Dezember 2021 81,9 Prozent der deutschen Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe Produktionseinschränkungen aufgrund von Materialengpässen – ein historischer Höchststand.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass seit dem Ausbruch der Pandemie die Forderung nach einer Renationalisierung der Lieferketten in der öffentlichen Diskussion an Bedeutung gewonnen hat, um die Abhängigkeit von ausländischen Zulieferer zu verringern.
Wird die Globalisierung nach der Pandemie also wie bislang voranschreiten oder sollte man sich vielmehr auf eine Phase der De-Globalisierung einstellen? Und wie planen Unternehmen, ihre Beschaffungsstrategie in Zukunft zu ändern, um die Widerstandsfähigkeit der Lieferketten zu erhöhen?
Andere Pläne als Reshoring
Die konkrete Ausgestaltung von Lieferketten basiert letztlich auf den Beschaffungsentscheidungen von Firmen, die ein ständiges Abwägen von Kosten und Risiken erfordern. Aus diesem Grund hat das ifo Institut im Rahmen des ifo Konjunkturtests eine Online-Befragung durchgeführt, in der eine repräsentative Stichprobe von über 5.000 deutschen Unternehmen im Mai 2021 gezielt zu ihrer zukünftigen Sourcing-Strategie befragt wurde.
Zunächst wurden die Unternehmen gefragt, ob sie planen, ihre Beschaffungsstrategie in Zukunft zu ändern. Im Falle einer positiven Antwort wurden Unternehmen auch nach der Art des Strategiewechsels befragt. Rund 41% der Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes planen eine Anpassung ihrer Beschaffungsstrategie (vgl. Flach et al. 2021). Bei der Frage nach den konkreten Plänen ist eine stärkere Diversifizierung der Zulieferer der am häufigsten genannte Aspekt.
Die befragten Unternehmen planen
- eine stärkere Diversifizierung bei Lieferanten (29,5 %)
- eine bessere Überwachung der Lieferketten (25,9 %)
- eine größere Lagerhaltung (23,4 %)
Weitere Optionen wie die verstärkte inländische Beschaffung (Reshoring) oder die verstärkte Beschaffung aus anderen EU-Mitgliedstaaten (Nearshoring) sowie die eigene Produktion (In-Sourcing) werden dagegen von den Unternehmen relativ selten genannt.
Lieferketten resilienter gestalten
In Flach et al. (2021) haben wir mit Hilfe des ifo Handelsmodells die Auswirkungen einer Renationalisierung von Lieferketten für Deutschland quantifiziert. Wir zeigen, dass Reshoring zu einem Rückgang des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von fast 10 Prozent führen würde.
Nearshoring in Nachbarländer hätte ebenfalls einen deutlich negativen Effekt. Angesichts der hohen Kosten einer Rückverlagerung der Produktion ist es daher wenig überraschend, dass nur sehr wenige Unternehmen Reshoring oder Nearshoring planen, wie unsere Unternehmensbefragung zeigt.
Die Diversifizierung von Lieferketten ist ein zentrales Element, um ihre Robustheit zu steigern. Auch der Aufbau von strategischen Reserven auf nationaler oder europäischer Ebene können kostengünstigere Alternativen darstellen, um die Versorgungssicherheit von Gütern zu gewährleisten, die aus sicherheits- oder gesundheitspolitischen Gründen als kritisch betrachtet werden.
Zudem ist eine gewisse Lagerhaltung von kritischen Vorprodukten in vielen Fällen der Just-in-Time-Produktion vorzuziehen. Insbesondere bei einem hohem Automatisierungsgrad kann der Nutzen den möglichen Schaden durch Lieferausfälle überkompensieren.
Politik sollte „einseitige“ Abhängigkeiten verringern
Wirtschaftspolitisches Ziel sollte in jedem Fall nicht die Feinjustierung von internationalen Wertschöpfungsverflechtungen sein. Stattdessen sollten die politischen Entscheidungsträger daran arbeiten, sogenannte „einseitige“ Abhängigkeiten gegenüber einzelnen Ländern zu verringern, die bei kritischen Gütern besonders problematisch sein können.
Noch wichtiger ist es, ein klares und verlässliches Geschäftsumfeld zu schaffen, dass es den Unternehmen ermöglicht, in die Robustheit ihrer Lieferketten langfristig zu investieren.
Die deutschen Lieferketten sind grundsätzlich im internationalen Vergleich gut diversifiziert.
- Nur 5 Prozent der deutschen Einfuhren lassen sich als Güter mit starker Abhängigkeit gegenüber einzelnen Ländern einstufen (siehe Flach et al. 2021).
- 73 Prozent dieser Güter werden dabei aus anderen EU-Ländern importiert.
Besonders aber für kritische Güter, die von Ländern außerhalb der EU bezogen werden, ist es angesichts der derzeitigen globalen Spannungen von entscheidender Bedeutung, Abhängigkeiten zu reduzieren und die entsprechenden Lieferketten stärker zu diversifizieren.
Die große Herausforderung in der Außenwirtschaftspolitik der kommenden Jahre besteht somit darin, die Robustheit von Lieferketten zu erhöhen, ohne dabei aber die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren.
Referenzen
Baur, A. und L. Flach (2022), »Die Globalisierung als Sündenbock? Internationale Lieferketten in der Corona-Pandemie«, ifo Schnelldienst 75(1), 3–8.
Flach, L., J. Gröschl, M. Steininger, F. Teti und A. Baur (2021), »Internationale Wertschöpfungsketten – Reformbedarf und Möglichkeiten«, Studie im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V..
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