Fünf Gründe, warum wir unsere Produktivitätsfortschritte unterschätzen könnten

Dr. Thieß PetersenBertelsmann Stiftung

Für das nachlassende Produktivitätswachstum gibt es viele Gründe: die immer größere Bedeutung des produktivitätsschwächeren Dienstleistungssektors, eine Verringerung der Investitionen, eine mangelnde Verbreitung technischer Innovationen, die Integration weniger produktiver Personen in den Arbeitsmarkt – um nur einige zu nennen. Messfehler sind daher de facto nur eine Ursache für geringe Produktivitätszuwächse. Vor dem Hintergrund der voranschreitenden Digitalisierung gewinnen sie jedoch zunehmend an Bedeutung. Folgende fünf Gründe können dazu führen, dass Produktivitätsfortschritte falsch oder unzureichend gemessen und deshalb unterschätzt werden.

#1: Falsch erfasste Preissenkungen

Ausgangspunkt aller Berechnungen der gesamtwirtschaftlichen Produktivität ist das Bruttoinlandsprodukt (im Folgenden: BIP). Das BIP entspricht dem Wert aller Sachgüter und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres in einem Land hergestellt werden. Dieser Wert ergibt sich aus der Multiplikation der Gütermengen mit den Marktpreisen.

Technologischer Fortschritt bedeutet im Normalfall eine Verringerung der Produktionskosten und damit auch eine Preissenkung. Der geringere Marktpreis bewirkt eine höhere Nachfrage der Verbraucher, an die sich die Unternehmen anpassen. Sinkt oder steigt dadurch der Beitrag des von der Preissenkung betroffenen Produkts zum nominalen BIP? Das lässt sich nicht eindeutig vorhersagen. Wenn der technologische Fortschritt zu einem starken Preisrückgang von z. B. 60 Prozent führt, die nachgefragte Gütermenge aber nur um 10 Prozent wächst, geht der mit dem Marktpreis gemessene Wert des betroffenen Produkts zurück. Hier bewirkt der technologische Fortschritt also einen Rückgang des nominalen BIP.

Zur Berechnung der Produktivität ist nicht das nominale, sondern das reale BIP relevant, schließlich ist Produktivität als das Verhältnis von mengenmäßigem Output zu mengenmäßigem Input definiert. Bei der Berechnung des realen BIP wird im Zeitablauf mit einem konstanten Preisniveau gearbeitet. Daher kommt es, wenn die durch den technologischen Fortschritt ausgelöste Preissenkung nicht richtig herausgerechnet und die neue Gütermenge mit einem Preis bewertet wird, der geringer ist als der ursprüngliche alte Preis, zu einem Messfehler, der den Produktivitätszuwachs unterschätzt.

#2: Nicht erfasste Qualitätsverbesserungen

Der technische Fortschritt verbessert häufig die Qualität von Produkten. Eine Qualitätsverbesserung wirkt für sich genommen ebenfalls wie eine Preissenkung: Bleibt der Preis eines Produkts bei verbesserter Qualität konstant, erhält der Verbraucher für die gleiche Geldmenge eine bessere Qualität. Umgekehrt bedeutet dies, dass der Verbraucher für eine unveränderte Qualität einen geringeren Preis zahlen muss. Werden diese Qualitätsverbesserungen bei der Berechnung der Produktivität unterschätzt, kommt es zu einem Messfehler und die Produktivitätszuwächse werden unterschätzt.

Besonders gravierend sind diese Qualitätsverbesserungen, wenn dadurch andere Produkte vom Markt verdrängt werden. Dazu ein Beispiel: Ein Handy oder Smartphone ist zunächst einmal ein Kommunikationsgerät, dass die Menschen zusätzlich zu ihrem Festnetzanschluss nutzen. Allerdings können Zusatzfunktionen nach und nach für das Verschwinden anderer Güter und Dienstleistungen sorgen. Dabei handelt es sich um Fotoapparate, Videokameras, Filme, deren Entwicklung sowie Fotoalben, Straßenkarten für Autofahrer und öffentliche Telefonzellen, um nur einige zu nennen. Um die Produktivitätsentwicklung im Zeitablauf vergleichen zu können, müssten all diese Produkte in die Messung des BIP einbezogen werden. Geschieht dies aber nicht vollständig, weist das BIP eine zu geringe wirtschaftliche Wertschöpfung aus, was dann zu einer Unterschätzung der Produktivitätsfortschritte führt.

#3: Tendenz zur kostenlosen Bereitstellung von Produkten

Die Digitalisierung ersetzt zunehmend Produkte, für die Verbraucher einen Preis zahlen müssen (Zeitungen, Bücher, CDs, Beratungen im Reisebüro etc.), durch kostenlose digitale Produkte (Online-Portale, Wikipedia, kostenlose Apps etc.). Da die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (im Folgenden: VGR) aber nur Produkte erfasst, für die ein Marktpreis gezahlt wird, werden die kostenlosen digitalen Produkte nicht erfasst. So werden der mengenmäßige Output und damit auch die Produktivitätsfortschritte der digitalen Technologien unterschätzt.

#4: Tendenz zur Sharing Economy

In vielen Bereichen bewirkt die digitale Entwicklung eine Tendenz zur Sharing Economy. Dies bedeutet, dass die Verbraucher bestimmte Produkte nicht mehr selbst kaufen, sondern für eine bestimmte Zeit mieten. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Carsharing, das folgendermaßen funktioniert: Interessenten werden zu Mitgliedern in einem Carsharing-Netzwerk, das eine bestimmte Anzahl von Automobilen erwirbt. Die Mitglieder können diese Automobile dann gegen die Zahlung eines Mitgliedsbeitrags und/oder einer nutzungsabhängigen Gebühr benutzen. Diese Art Sharing-Netzwerke gibt es auch für Fahrräder, Werkzeuge, Haushaltsgeräte, Spielzeug, Designerkleider und Handtaschen sowie in den Bereichen Medien und Entertainment.

Für die VGR bedeutet dies einen Rückgang des BIP: Wenn sich mehrere Personen, die vorher alle ein eigenes Auto besaßen, nun einen Pkw teilen, geht die nachgefragte und produzierte Menge an Automobilen zurück. Das BIP sinkt, obwohl nicht zwingend weniger Kilometer mit motorisierten Fahrzeugen zurückgelegt werden.

Der gleiche Effekt ergibt sich, wenn die Verbraucher digitale Technologien nutzen, um Sachgüter und Dienstleistungen zu konsumieren, ohne dabei die üblichen Kanäle des Marktes zu nutzen. Beispiele sind die Nutzung privater Wohnungen über Airbnb oder Mitfahrgelegenheiten über Uber. Da die Nutzung dieser Angebote günstiger ist, als Hotel- und Taxipreise zu zahlen, sinkt die in der VGR erfasste Wertschöpfung – und auch die gesamtwirtschaftliche Produktivität wird geringer. Dies ist besonders gravierend, wenn solche Angebote kommerzielle Angebote ersetzen. Die Menge der in Anspruch genommenen Dienstleistungen bleibt dann konstant, aber der in der VGR erfasste Wert sinkt.

#5: Technologisch bedingte Zeitersparnisse

Ein wesentlicher Produktivitätseffekt der digitalen Technologien ist die Zeitersparnis für Informationsbeschaffung und -verarbeitung sowie Kommunikation. Zeit ist jedoch eine Dimension, die in der VGR keine Relevanz hat. Wenn die eingesparte Zeit nicht genutzt wird, um zusätzliche Produkte herzustellen, kommt es logischerweise zu keiner Output-Steigerung. Der Produktivitätsfortschritt äußert sich in einer höheren Freizeit, die bei der Berechnung des BIP jedoch keine Rolle spielt.

Wirtschaftspolitische Implikationen

Alle hier skizzierten Entwicklungen steigern die Menge bzw. die Qualität der von den Verbrauchern konsumierbaren Güter und Dienstleistungen. Doch die VGR erfasst diese Verbesserungen häufig aber gar nicht (Freizeit, kostenlos bereitgestellte Produkte, wirtschaftliche Aktivitäten jenseits der traditionellen Märkte) oder nur unzureichend (Preissenkungen und Qualitätsverbesserungen). Die Folge: Der tatsächliche Wert der geschaffenen Güter und Dienstleistungen wird unterschätzt, was unweigerlich auch zu einer Unterschätzung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität führt.

Sind derartige Messfehler ein neuartiges Phänomen? Ganz und gar nicht, technologisch bedingte Preissenkungen und Qualitätsverbesserungen begleiten uns von jeher. Die offiziellen Statistiken reagieren darauf mit methodischen Verbesserungen. Ein Beispiel ist die sogenannte „hedonische Preismessung“. Dieses Verfahren wendet z. B. das Statistische Bundesamt seit geraumer Zeit an, um bei der Messung des realen BIP Qualitätsunterschiede angemessen zu berücksichtigen.

Wie bereits eingangs erwähnt, erklären statistische Messfehler nur einen Teil des nachlassenden Produktivitätsfortschritts. Wie stark diese Messfehler ins Gewicht fallen, ist unter Ökonomen umstritten. Für die USA schätzt beispielsweise Chad Syverson, dass sie maximal 30 Prozent der nachlassenden Produktivität erklären können. Die voranschreitende Digitalisierung verschärft jedoch den Druck auf die statistische Erfassung der wirtschaftlichen Wertschöpfung, vor allem, wenn sie bisher kostenpflichtige Angebote durch kostenlose ersetzt. Selbst wenn Nutzer dabei mit ihren Daten „bezahlen“, bleibt dies im BIP unberücksichtigt, weil es dafür keine Marktpreise gibt. Auch Sharing-Netzwerke und Plattformen, die einen Austausch zwischen privaten Akteuren ermöglichen, entziehen dem Marktgeschehen wirtschaftliche Aktivitäten. Dementsprechend wird es immer fragwürdiger, an dem traditionellen Indikator der wirtschaftlichen Wertschöpfung – dem BIP – festzuhalten.

Hinweis

Diese Überlegungen basieren auf dem Aufsatz „Mögliche Effekte der Digitalisierung für die Inflationsrate“, erschienen im Wirtschaftsdienst, 100. Jg., 2020, Heft 3, S. S. 220–222.



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