Die Lohndynamik als Treiber der Produktivitätsentwicklung

Ziel dieses Beitrags ist es, die unterschiedlichen Erklärungsansätze in den ökonomischen Denkschulen im Hinblick auf die Bedeutung der Löhne für die Arbeitsproduktivität herauszuarbeiten und der empirischen Entwicklung in Deutschland gegenüberzustellen. Ein hoher Anteil an der Erklärung der Produktivitätsschwäche hat aus unserer Sicht der Strukturwandel in Richtung eines höheren Dienstleistungsanteils an der Wertschöpfung, der auch von einer schwächeren Lohndynamik in diesem Sektor herrührt.

Aus dem Blickwinkel der Gewerkschaften ist die Entwicklung der Löhne eine zentrale Einflussgröße für die Arbeitsproduktivität. Unter den ökonomischen Denkschulen finden sich aber auch andere Einschätzungen. Grundsätzlich lassen sich zwei unterschiedliche Erklärungsansätze erkennen, je nachdem, ob sie eher den Kosten- oder den Nachfrageaspekt der Löhne in den Vordergrund rücken:

Die neoklassische Sicht betont den Kostenaspekt. Der Preis der Produktionsfaktoren bestimmt den jeweiligen Faktoreinsatz von Arbeit und Kapital. Auf den Gütermärkten stellt sich ein Gleichgewichtspreis für die produzierte Gütermenge ein; die Märkte werden vollständig geräumt. Eine niedrige Arbeitsproduktivität führt zu niedrigen Löhnen. Der Lohn entspricht der Grenzproduktivität der eingesetzten Arbeitskraft. Sollte durch technischen Fortschritt die Arbeitsproduktivität steigen, so ergeben sich daraus eine höhere Arbeitsnachfrage und ein höherer Gleichgewichtslohn. Die Qualität der Arbeit (Produktivität) auf dem Arbeitsmarkt bestimmt folglich die Arbeitsnachfrage und damit den Lohn.

Aus keynesianischer Sicht rückt die Nachfragefunktion der Löhne in den Mittelpunkt. Die Wirtschaft tendiert aufgrund von Unsicherheit keineswegs automatisch zu einem Gleichgewichtszustand der Güter- und Arbeitsmärkte. Höhere Löhne bedeuten unter diesen Annahmen eine höhere Konsumnachfrage und damit auch mehr Produktion, denn die Güternachfrage bestimmt das Angebot auf dem Gütermarkt. Daraus resultiert ein höheres Beschäftigungsniveau. Das Wachstum führt dazu, dass es trotz gestiegener Löhne nicht zu einem Abbau der Beschäftigung kommt. Stattdessen wird in die Erweiterung der Kapazitäten investiert. Die höheren Löhne tragen zur Modernisierung und Erweiterung des Kapitalstocks bei und die Produktivität steigt.

Handlungsoptionen der Unternehmen bei gestiegenen Lohnkosten

Was passiert nun, wenn die Beschäftigten — außerhalb dieser Modellwelt — einen höheren Lohn erstreiten können, als es ihrer Produktivität entspricht (zum Beispiel durch einen Tarifvertrag)? Von der Problematik der Berechnung der Arbeitsproduktivität an einem konkreten Arbeitsplatz sehen wir einmal ab. Aus Sicht des Unternehmens gibt es drei Möglichkeiten, auf den Anstieg der Lohnstückkosten zu reagieren.

  1. Wenn es die Marktmacht der Unternehmen zulässt, kann über Preiserhöhungen ein Ausgleich durchgesetzt werden. Beschäftigung und Produktivität ändern sich dann nicht.
  2. Sollte dies nicht gelingen, sinken die Gewinne. Damit sinkt die Rendite von Investitionen am Standort und der Kapitalstock veraltet aufgrund fehlender Investitionsanreize. Das bremst die Produktivitätsentwicklung (Löhne wirken als Produktivitätskiller).
  3. Die Unternehmen könnten auch versuchen, die teurere Arbeit durch vermehrten Einsatz von Maschinen und Anlagen zu ersetzen. Damit würde zwar die Arbeitsproduktivität steigen, aber das Beschäftigungsniveau sinken (Löhne wirken als Produktivitätstreiber).

Es stellt sich aber die Frage, wie leicht Arbeit und Kapital substituierbar sind. Das führt zu der schon früh von Wassily Leontief ketzerisch gestellten Frage: Wie viel weniger hätten denn die Pferde fressen und saufen müssen, um nicht durch die Dampfmaschine ersetzt zu werden. Manchmal führen technologische Umbrüche zu sehr radikalen Veränderungen und Pfadwechseln mit grundsätzlich anderen Faktoreinsatzverhältnissen. Kurz- und mittelfristig sind die Pfadabhängigkeiten sehr hoch und eine beliebige Substituierbarkeit von Arbeit und Kapital ist nicht mehr gegeben.

Der Blick zurück

In der frühen Geschichte der Bundesrepublik lässt sich ein Entwicklungsmuster erkennen. Das Wachstum war hoch, Arbeitskräfte wurden knapp. Starke Gewerkschaften erstritten in dieser Situation kräftige Lohnsteigerungen. Das führte zu zwei Effekten:

  1. Die Unternehmen versuchten, durch Rationalisierung die wachsenden Lohnstückkosten zu begrenzen. Sie förderten Innovationen und investierten in neue Maschinen und Anlagen.
  2. Die höheren Löhne führten zu einer stärkeren Güternachfrage, die Wirtschaft wuchs weiter.

Diese Entwicklung wird in der Debatte jener Jahre als „Produktivitätspeitsche“ der Löhne beschrieben. Die höheren Löhne treiben die Produktivität, der technische Fortschritt wird durch Investitionen in neue Technologien beschleunigt. Gleichzeitig wird der Produktivitätsanstieg durch das Wirtschaftswachstum (über-)kompensiert, Beschäftigung wird gesichert oder aufgestockt.

Seit der Krise Mitte der siebziger Jahre waren die Zusammenhänge nicht mehr so eindeutig. Die Lohnentwicklung wurde schwächer, aber auch die Dynamik von Produktion und Produktivität schwächte sich ab. Es entstand das neue Phänomen der Massenarbeitslosigkeit.

In der jüngeren deutschen Geschichte, das heißt in der Aufschwungphase seit der großen Krise 2008/09, haben die Löhne wieder eine wichtige Rolle gespielt. Während früher der deutsche Export der Konjunkturtreiber war, gingen diesmal keine Wachstumseffekte von ihm aus. Wichtigster Wachstumsfaktor war der private Konsum, der von höheren Löhnen und wachsender Beschäftigung gespeist wurde. Die Nachfragewirkung der Löhne hat sich deutlich bemerkbar gemacht. Allerdings gab es in dieser Zeit keine großen Produktivitätssteigerungen mehr. Es zeigte sich dagegen das Produktivitätsparadoxon: eine trotz technischen Fortschritts nachlassende Produktivitätsdynamik. Neben Problemen der statistischen Erfassung der durch die zunehmende Digitalisierung erzeugten Wertschöpfung ist der parallel dazu stattfindende Strukturwandel zu beachten.

Die Bedeutung des Strukturwandels

Viele Studien zur Erklärung der schwachen Dynamik der Arbeitsproduktivität schenken dem Strukturwandel eine zu geringe Aufmerksamkeit. Der tendenziell immer höhere Dienstleistungsanteil an der Wertschöpfung, der teilweise auch Folge der Auslagerung von unternehmensnahen Diensten aus dem industriellen Sektor ist, hat auf die Produktivitätsentwicklung einen nicht unwesentlichen Einfluss.

Dienstleistungen werden mit einem relativ höheren Arbeitseinsatz als industrielle Produkte erbracht und weisen schon allein deshalb tendenziell eine niedrigere Produktivität auf. Für Deutschland lässt sich zudem zeigen, dass in der langfristigen Betrachtung die Produktivitätsdynamik der Dienstleistungen hinter der des verarbeitenden Gewerbes deutlich zurückblieb (siehe Abbildung).

Insbesondere nach dem Jahr 2003 — mit Ausnahme der Krisenjahre — wies das verarbeitende Gewerbe einen sehr viel deutlicheren Zuwachs auf als der Dienstleistungsbereich. Folglich belastet dieser Trend in der Dienstleistungsbranche die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Vor allem die Unternehmensdienstleistungen, der Verkehr und die Lagerei sowie die öffentlichen Dienstleister, Erziehung und Gesundheit mindern die gesamtdeutsche Produktivitätsdynamik.

Darüber hinaus ist vermehrt festzustellen, dass in der Industrie der Anteil von Serviceleistungen zugenommen hat, was den funktionalen Strukturwandel der ausgeübten Tätigkeiten beschreibt. So wurde beispielsweise im Maschinenbau nicht nur der Anteil des Personals in Forschung und Entwicklung gestärkt, sondern eben auch aufgrund der zunehmenden Digitalisierung das Angebot an Software-Lösungen und Updates sowie Wartungsarbeiten. Wegen weniger Standardisierungsmöglichkeiten des teilweise sehr spezialisierten Maschinenbaus mit Losgröße 1 lassen sich solche Aufgaben schlechter auslagern als in anderen Branchen des verarbeitenden Gewerbes. Der Aufbau dieser Serviceleistungen ist aber auch Teil einer Geschäftsstrategie mit dem Ziel, die gewandelte Nachfrage zu bedienen, die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und zusätzliche Wertschöpfungsanteile zu binden. Dies erklärt die im Maschinenbau im Vergleich zum verarbeitenden Gewerbe insgesamt — rein rechnerisch — schwächere Produktivitätsentwicklung, die aber keineswegs aus einer geringeren Leistungsfähigkeit resultiert.

 

Der wachsende Wertschöpfungs- und Beschäftigungsanteil von Branchen mit einem höheren Arbeitseinsatz ist nicht allein Ursache für die Produktivitätsschwäche. Die ungleiche Entgeltentwicklung ist die andere Seite der Medaille: Arbeitsstunden im Dienstleistungssektor werden — und wurden in den letzten Jahren zunehmend — überwiegend schlechter bezahlt als in der Industrie, was zur gesellschaftlichen Spaltung beiträgt. Da Entgelte in die Berechnung der Wertschöpfung einfließen, resultiert daraus — rein rechnerisch — eine weitere „Produktivitätsschwäche“.

Folgen der schwachen Lohndynamik

Für den öffentlichen Dienst, der keiner Gewinnerzielungsabsicht unterliegt, ist dieser Zusammenhang offensichtlich: Hier werden mangels Marktpreise für die Berechnung der Wertschöpfung und damit der Produktivität überwiegend die Entgelte angesetzt. Aus einer schwachen Lohndynamik folgt somit eine schwächere Produktivitätsdynamik. Hier führte das langjährige Spardiktat zu einer verlangsamten Lohnentwicklung und drängte zudem vormals gut bezahlte Arbeit in den weniger gut entlohnten und sozial abgesicherten privaten Bereich. Bei den privaten Dienstleistungen sind es der im Vergleich zum verarbeitenden Gewerbe sehr viel schlechtere gewerkschaftliche Organisationsgrad und die Folge schwacher Tarifbindung sowie die Zunahme der prekären Arbeitsverhältnisse, die die Lohndynamik bremsen.

Die regionale Konzentration besser entlohnter Industrie- und Dienstleistungsarbeit sowie die Verbuchung von (höheren) Kapitalerträgen in den Konzernzentralen und in den Metropolregionen führt dazu, dass ländliche Gebiete rein rechnerisch eine schlechtere Produktivitätsentwicklung aufweisen. Zugleich verzerrt dieses Phänomen den Blick auf die ostdeutsche Produktivitätsentwicklung, die zu Unrecht tendenziell unterschätzt wird.

Auch wenn es sehr unterschiedliche Sichtweisen und Schwerpunkte bei der Ursachenforschung für die Produktivitätsschwäche gibt, so herrscht doch große Einigkeit in der Notwendigkeit der Förderung von Innovationen sowie von (Weiter-)Bildung und Qualifizierung. Dies gilt vor allem jetzt, da die fundamentale Transformation von Ökonomie und Gesellschaft aufgrund von disruptiven technologischen Neuerungen für massive Verunsicherung sorgt. Die Digitalisierung verspricht Produktivitätszuwächse, die mit dem Verlust von Arbeitsplätzen einhergehen, während neue Arbeitsplätze in anderen Bereichen mit neuen Anforderungen entstehen.

Die Menschen dürfen angesichts der anstehenden enormen Veränderung der Arbeitswelt nicht überfordert werden. Sie müssen die Chance bekommen, sich im strukturellen Wandel neu zu orientieren und sich durch den Erwerb entsprechender Qualifikationen bei gleichzeitiger sozialer Absicherung ihren Platz in der Gesellschaft zu sichern.

Was hilft die Produktivitätsschwäche zu überwinden? Klar ist, die Lohnhöhe ist nicht nur Ausdruck der Produktivität, sondern die Lohndynamik treibt auch die Produktivitätsentwicklung. Aufgrund des hohen Wettbewerbsdrucks im Zeitalter der Globalisierung setzt eine starke Lohnsteigerung auch eine entsprechende Dynamik bei technologischem Fortschritt und Innovation voraus.

Nur über gute Arbeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt gelingt zugleich Produktivitätsfortschritt und wirkliche Wohlstandsmehrung.



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