Das Neue Magische Viereck: Ökonomische Stabilität und ökologische Nachhaltigkeit

Dr. Tom BauermannInstitut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK)

In Zeiten des Klimawandels, der Transformation unserer Wirtschaft und der damit verbundenen Verlustängste sowie zunehmender politischer Polarisierung reicht eine Wirtschaftspolitik nicht aus, die sich allein auf das Wirtschaftswachstum konzentriert.

Es braucht einen umfassenderen Blick, um die Zukunftsfähigkeit des deutschen Wirtschaftssystems zu ermöglichen. Das Neue Magische Viereck bietet einen solchen Blick und zeigt, wie gut ökonomische Stabilität mit sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit verbunden wird. Im aktuellen Bericht zum Neuen Magischen Viereck zeigen Lindner und Tiefensee allerdings auch, dass Konflikte zwischen seinen Zielen bestehen.

Über das Neue Magische Viereck

Das Neue Magische Viereck wurde ursprünglich von Dullien und van Treeck entworfen und wird seitdem kontinuierlich weiterentwickelt. Nahezu jährlich blickt es auf die soziale, ökologische, fiskalische und ökonomische Entwicklung der vergangenen Jahre.

Das klassische Magische Viereck zielt auf Preisniveaustabilität, angemessenes Wirtschaftswachstum, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und einen hohen Beschäftigungsstand. Das Neue Magische Viereck erweitert den Blick und stellt Nachhaltigkeit in den Vordergrund wirtschaftspolitischen Handelns. Seine Ziele sind materieller Wohlstand und ökonomische Stabilität, Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und der Staatsfinanzen sowie soziale und ökologische Nachhaltigkeit.

Inwiefern diese Ziele erreicht werden, wird mithilfe von drei bis fünf Indikatoren pro Dimension gemessen. Sie orientieren sich dabei größtenteils an den Zielen, die sich Bundesregierungen im Laufe der Zeit selbst gegeben haben.

  • Die Dimension „materieller Wohlstand und ökonomische Stabilität“ hat weitgehend ähnliche Indikatoren wie das klassische Magische Viereck.
  • Die Armutsrisikoquote, die sogenannten „Frühen Schulabgänger:innen“, das Verhältnis der obersten zu den untersten 20 Prozent der Einkommen und der Verdienstabstand zwischen Frauen und Männern sind Indikatoren der sozialen Nachhaltigkeit.
  • Die Treibhausgasemissionen, der Primärenergieverbrauch und der Ausbau der Erneuerbaren sind wesentliche Indikatoren der ökologischen Nachhaltigkeit.
  • Die öffentliche Schuldenstandquote ist einer von mehreren Indikatoren für die Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und der Staatsfinanzen.

Erfreulicherweise ist das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz der Idee nachgekommen, den Jahreswirtschaftsbericht um mehrere Wohlfahrtsindikatoren jenseits des BIP zu ergänzen, ähnlich wie es Dullien und van Treeck vorgeschlagen haben. Allerdings fehlt dem Jahreswirtschaftsbericht eine Analyse zu möglichen Konflikten zwischen den Zielen.

Entwicklung sozialer und ökologischer Indikatoren

Im Juli erschien der aktuelle Bericht zum Neuen Magischen Viereck von Lindner und Tiefensee, der sich den Jahren 2019 bis 2023 widmet. Er zeichnet ein durchwachsenes Bild. Die meisten Ziele des Neuen Magischen Vierecks wurden verfehlt.

Allerdings muss dies vor dem Hintergrund einer historisch einmaligen Situation mehrerer aufeinanderfolgender Krisen betrachtet werden. Die Regierung konnte mithilfe von Unterstützungsmaßnahmen die Auswirkungen der Krisen für Wohlstand und soziale Nachhaltigkeit dämpfen.

Der vorliegende Beitrag widmet sich vorrangig der Entwicklung der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitsindikatoren, basierend auf dem aktuellen Bericht. Ein Indikator der sozialen Nachhaltigkeit ist die Armutsrisikoquote, also der Anteil der Personen unter der Armutsrisikoschwelle. Die Quote stieg 2020 auf über 16 Prozent an und liegt seitdem über diesem Wert. Der Zielwert gemäß Lindner und Tiefensee ist 13,5 Prozent und lehnt sich an den Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte an, den Deutschland unterstützt. Die Quote steigt seit Anfang der 2000er Jahre langsam an und konnte in den bisherigen Berichten zum Neuen Magischen Viereck nicht die Zielmarken erreichen.

Zweiter Indikator der sozialen Nachhaltigkeit ist die Einkommensungleichheit, gemessen als Verhältnis der verfügbaren Einkommen der einkommensstärksten 20 Prozent gegenüber einkommensschwächsten 20 Prozent der Haushalte. Aktuell sind die oberen Einkommen 4,4-mal so hoch (Stand: 2022) und überschreiten damit den Zielwert von 4. In den späten 1990-iger Jahren lag das Verhältnis bei 3,5.

Dritter Indikator ist der Verdienstabstand pro Stunde zwischen Frauen und Männern. Ziel der Bundesregierung war es, diesen bis 2020 auf 10 Prozent zu verringern und bis 2030 auf diesem Niveau zu halten. Der Verdienstabstand liegt aktuell bei 18 Prozent. Er sank von 23 Prozent im Jahr 2008 auf 18 Prozent im Jahr 2020 und ist seitdem konstant. Dementsprechend konnte das Ziel bisher nicht erreicht werden.

Vierter Indikator sind die frühen Schulabgänger:innen. Das ist der Anteil der 18- bis 24-jährigen, die höchstens einen Haupt- oder Realschulabschluss aber keinen weiteren Schul- oder Ausbildungsabschluss haben, an der gesamten Alterskohorte. Gemäß Zielsetzung der Bundesregierung sollte dieser bis 2020 auf 10 Prozent und bis 2030 auf 9 Prozent sinken. Der aktuelle Bericht zeigt, dass diese Ziele verfehlt wurden und die Quote im Jahr 2022 bei 12,4 Prozent lag. 2023 ist sie erneut gestiegen.

Hier zeichnet sich zudem eine bedenkliche Tendenz ab, da die Zahl der frühen Schulabgänger:innen seit 2015 langsam steigt. Betroffene sind zumeist männlich. Viele haben zwar einen Migrationshintergrund, aber die Zahl steigt auch unter denen ohne Migrationshintergrund. Neben geringeren Chancen auf soziale Teilhabe kann dies Probleme für die Fachkräftesituation bedeuten.

Indikatoren der ökologischen Nachhaltigkeit

Die Treibhausgasemissionen, der Primärenergieverbrauch und der Anteil der Erneuerbaren am Energieverbrauch sind die wesentlichen Indikatoren der ökologischen Nachhaltigkeit im Neuen Magischen Viereck.

Die tatsächliche Senkung der Treibhausgasemissionen übererfüllte in den in den letzten vier Jahren die Ziele der Bundesregierung gemäß Klimaschutzgesetz. Dies war aber weniger auf erfolgreiche klimapolitische Maßnahmen zurückzuführen als auf starke Rückgänge der Industrieproduktion während der Corona- und insbesondere während der Energiekrise. Damit ist dies nur bedingt ein Zeichen nachhaltiger Entwicklung, da es mit einem geringen Wirtschaftswachstum einherging. In den Jahren vor 2020 wurde dieses Ziel zumeist verfehlt.

In den vergangenen vier Jahren ist der Primärenergieverbrauch um knapp 16 Prozent gesunken, was teils an privaten und staatlichen Effizienzmaßnahmen und teils an den beiden Krisen lag. Ziel der Bundesregierung ist es, den Verbrauch bis 2030 um ca. 39 Prozent gegenüber 2008 zu reduzieren. Unterstellt man einen linearen Pfad bis zum Ziel, wurde dieser Pfad bisher knapp verfehlt.

Trotz Rekordzubaus im Solarbereich und damit einer Steigerung des Anteils der Erneuerbaren am Endenergieverbrauch auf 22 Prozent wurde das Ziel des dritten obengenannten Indikators leicht verfehlt. Die Bundesregierung möchte den Anteil bis 2030 auf 40 Prozentsteigern. Wird ein linearer Wachstumspfad unterstellt, wurden die Ziele gemäß den Berichten zum Neuen Magischen Viereck (z.B. Lindner 2019) bisher verfehlt.

Zielkonflikte des Neuen Magischen Vierecks

Der aktuelle Bericht zum Neuen Magischen Viereck verdeutlicht auch, dass Konflikte bestehen, wenn versucht wird, gleichzeitig die Ziele der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit, der ökonomischen Stabilität sowie der Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen (vor allem der Schuldenstandquote) zu erreichen. Der Zielkonflikt entsteht vor allem durch das Beharren auf die derzeit geltenden Schuldenregeln und ihre Priorisierung.

Die Investitionen in die ökologische und die soziale Nachhaltigkeit, um beispielsweise die Transformation voranzubringen und mehr Menschen einen berufsqualifizierenden Abschluss zu ermöglichen, werden kaum durch private Investitionen allein durchgeführt werden können. Zumindest ist dies kaum denkbar, wenn die soziale und ökologische Nachhaltigkeit mit einem angemessenen Wirtschaftswachstum, einem hohen Beschäftigungsstand und einer geringen Inflation einhergehen sollen.

Die Politik muss priorisieren, ob sie eines dieser Ziele hintanstellt oder die aktuellen Schuldenregeln anpasst. Es scheint in Zeiten der Transformation fraglich, ob dem Staatsschuldenabbau zu Lasten der anderen Ziele wirklich die Priorität eingeräumt werden muss, so wie es im Moment der Fall ist. Denn ein Degrowth-Szenario oder ein Szenario, das auf ökologische oder soziale Nachhaltigkeit verzichtet, scheinen wenig wünschenswert.

Weitere Beiträge zum Thema auf unserem Blog:

Ungelöste Herausforderungen in der Klimafinanzierung von Niklas Illenseer, MCC Berlin

Deutschland im grünen Standortwettbewerb von Dr. Marcus Wortmann, Bertelsmann Stiftung

Klassenkonflikt um die Transformation: Wenn Meinungen auseinandergehen von Judith Kiss und Dr. Martin Fritz, Universität Jena



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