Das deutsche Produktivitätsparadoxon: Eine Spurensuche

Prof. Dr. Désirée I. ChristofzikDeutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer

Dr. Steffen ElstnerBundesrechnungshof

Prof. Dr. Dr. h.c. Lars P. FeldAlbert-Ludwigs-Universität Freiburg

Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph M. SchmidtRWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung

Die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität ist von zentraler Bedeutung für den materiellen Wohlstand einer Volkswirtschaft. Daher gibt die seit Anfang der 1970er-Jahre in nahezu allen großen Industrieländern zu beobachtende Verlangsamung des Produktivitätswachstums Anlass zur Sorge. Da sich dieser Trend seit Mitte der 2000er-Jahre sogar verstärkt hat, schlussfolgern einige Kommentatoren bereits, die Welt sei in eine Ära säkularer Stagnation eingetreten (Gordon 2015, Summers 2014).

Es zeigen sich jedoch Unterschiede zwischen den entwickelten Volkswirtschaften. Deutschland ist dabei ein besonders interessanter Fall.

Zwar sind viele deutsche Unternehmen auf den Weltmärkten konkurrenzfähig und Vorreiter des technologischen Fortschritts. Dennoch wuchs die Produktivität hierzulande nur moderat – trotz erheblicher Investitionen in Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), die eigentlich als Garant für technologischen Fortschritt angesehen werden. Betrug die durchschnittliche jährliche Zuwachsrate der deutschen Arbeitsproduktivität (Stundenkonzept) in den Jahren 1995 bis 2005 noch 1,5 Prozent, so fiel sie in den Jahren 2005 bis 2019 auf 0,8 Prozent.

Dies war Anlass für uns, die Entwicklung in Deutschland genauer unter die Lupe zu nehmen und mehr über die Gründe für diese scheinbar widersprüchliche Entwicklung zu erfahren (Christofzik et al. 2021). In unserem Papier untersuchen wir drei prominente Erklärungsansätze für das Produktivitätsparadoxon. Hierbei verwenden wir moderne empirische Methoden um ein neues, aussagekräftigeres Maß für den technologischen Fortschritt in Deutschland herzuleiten und die Effekte von IKT-bedingtem technologischen Fortschritt zu analysieren.

Ein neues Maß für technologischen Fortschritt

Produktivitätsentwicklungen genau abzubilden, ist alles andere als einfach. Bekannte Maße wie die Arbeitsproduktivität und die Totale Faktorproduktivität (TFP oder Solow-Residuum) haben ihre Schwächen.[1] Sie fangen nicht nur die technologische Entwicklung auf, sondern zu einem wesentlichen Teil nicht-technologische Faktoren. Konjunkturelle Einflüsse können zudem zu verzerrten Einschätzungen führen.

Wenn die Produktion beispielsweise in einer Rezession schwach ist, passen die Unternehmen in der Regel nicht ihr Personal oder ihren Bestand an Maschinen in gleichem Maße an die Produktionslage an. Stattdessen reduzieren sie die Auslastung der Maschinen oder lassen weniger Stunden arbeiten (geringere Faktorauslastung). Mit gegebenem Personal- und Maschinenbestand wird also weniger produziert. Das Solow-Residuum erfasst somit auch Effekte, die nichts mit der Technologie zu tun haben. Es unterschätzt den technologischen Fortschritt, wenn die Faktorauslastung sinkt, und überschätzt ihn, wenn die Auslastung steigt.

Daher bestimmen wir ein neues Maß für den technologischen Fortschritt in Deutschland: die Bereinigte Totale Faktorproduktivität (PFTP – purified TFP). Sie berücksichtigt die Schwankungen der Faktorauslastung und ist damit weniger anfällig für Verzerrungen durch konjunkturelle Effekte. Das Konzept der PTFP basiert auf Arbeiten von Fernald (2014) und Comin et al. (2020). Wir nutzen dieses Maß in unseren Analysen und stellen Quartalszeitreihen für Deutschland, Frankreich, Italien und das Vereinigte Königreich zum Download zur Verfügung.[2]

Abbildung 1 vergleicht die PTFP mit zwei anderen Technologiemaßen: dem Solow-Residuum und der Arbeitsproduktivität. Mit Ausnahme von Deutschland ist in allen Ländern spätestens seit Mitte der 2000er-Jahre ein Rückgang des gesamtwirtschaftlichen Technologieniveaus zu beobachten.

In Italien hat diese negative Entwicklung schon in den 1990er-Jahren eingesetzt. Die PTFP ist für alle Länder weniger volatil als das unbereinigte Solow-Residuum. So ist unser Technologiemaß beispielsweise während der Finanzkrise der Jahre-2008/09 weniger stark zurückgegangen. Dies spiegelt die erhebliche Anpassung der Faktorauslastung während der Krise wider, die beim bereinigten Maß herausgerechnet wird.

Abbildung 1: Produktivitätsentwicklung in ausgewählten Ländern

Anmerkungen: Die Abbildung zeigt unsere Zeitreihen für die Bereinigte Totale Faktorproduktivität (PTFP) sowie die unbereinigten Solow-Residuen und die Arbeitsproduktivität für ausgewählte Länder. Die Maße sind jeweils im logarithmierten Maßstab (Jahresdurchschnitt 2008 = 100) dargestellt. Die Arbeitsproduktivität wird als Verhältnis von preisbereinigtem Bruttoinlandsprodukt und Arbeitsvolumen bestimmt. Die blau schattierten Flächen definieren die Rezessionsphasen für die jeweiligen Länder.

Die Produktivitätsverlangsamung in den USA: Ein vernachlässigbarer Faktor für die deutsche Entwicklung

Als ersten prominenten Erklärungsansatz für das deutsche Produktivitätsparadoxon untersuchen wir, ob sich hinter der Entwicklung in den entwickelten Volkswirtschaften eine gemeinsame Ursache verbirgt. So gelten die USA gemeinhin als globaler Technologieführer oder globale Technologiegrenze („technology frontier“, Cette et al. 2016).

Mit Blick auf das Produktivitätsniveau sind die USA führend in den meisten Wirtschaftsbereichen und scheinen somit der Taktgeber für Produkt- und Prozessinnovationen zu sein. Es klingt daher plausibel, dass nachlassende Innovationssprünge in den USA entscheidend zum nachlassenden Produktivitätswachstum in anderen Industrieländern beigetragen haben.

Wir analysieren mögliche Übertragungseffekte des technologischen Fortschritts in den USA auf das Produktivitätswachstum in Deutschland und in anderen großen europäischen Ländern mithilfe eines empirischen Modells (eines strukturellen VAR-Modells). Hierbei tragen wir Sorge dafür, dass wir als Auslöser für die untersuchten Effekte tatsächlich nur technologische Veränderungen identifizieren, die ihren Ursprung in den USA haben.

Unsere Analyse zeigt, dass mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs die Übertragungseffekte (Diffusion) von technologischem Fortschritt aus den USA in andere europäische Länder zumindest in der mittleren Frist nicht sonderlich ausgeprägt sind. Die Produktivitätsverlangsamung in den USA seit Mitte der 2000er-Jahre hatte demnach nur geringe Auswirkungen auf die deutsche Produktivitätsentwicklung. Daher konzentrieren wir uns auf zwei weitere Erklärungsansätze, die ihren Ursprung jeweils im Inland haben:

  • strukturelle Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und
  • die Auswirkungen der Digitalisierung.

Strukturwandel hin zu Dienstleistungen: Eine teilweise Erklärung

Der deutsche Arbeitsmarkt hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten im Vergleich zu den USA und den großen europäischen Ländern positiv entwickelt. Etwa ab dem Jahr 2005 erlebte Deutschland ein „Arbeitsmarktwunder“ – einen Übergang zu einem neuen strukturellen Arbeitsmarktgleichgewicht mit einem Anstieg der Beschäftigung um über 15 Prozent von 39,3 Millionen Beschäftigten im Jahr 2005 auf 45,3 Millionen Beschäftigte im Jahr 2019. Das Arbeitsvolumen nahm derweil nur um etwas mehr als 11 Prozent zu, da viele der neuen Stellen Teilzeitbeschäftigungen waren.

Abbildung 2: Beschäftigungsentwicklung und Arbeitsproduktivität für ausgewählte Wirtschaftsbereiche

Anmerkungen: Die linke Abbildung zeigt die akkumulierte Veränderung der Beschäftigung in den einzelnen Wirtschaftsbereichen seit dem Jahr 2005. Die rechte Abbildung stellt die Veränderung der Beschäftigung zwischen 2005 und 2019 auf der linken Achse und den Unterschied der Arbeitsproduktivität in ausgewählten Wirtschaftsbereichen im Vergleich zur durchschnittlichen Arbeitsproduktivität („Produktivitätslücke“) im Jahr 2005 auf der rechten Achse dar. Quelle: Christofzik et al. (2021).

Die linke Seite von Abbildung 2 zeigt, in welchen Wirtschaftsbereichen der kräftigste Beschäftigungsaufbau stattgefunden hat. Neue Arbeitsplätze wurden vor allem in den arbeitsintensiven Dienstleistungssektoren geschaffen, in denen die Arbeitsproduktivität deutlich niedriger ist als etwa im hochproduktiven Verarbeitenden Gewerbe. Dies verdeutlichen die sektoralen Produktivitätsunterschiede („Produktivitätslücken“), die auf der rechten Seite in Abbildung 2 abgebildet sind. Es ist damit zu einem dämpfenden Kompositionseffekt auf die Produktivitätsentwicklung gekommen. Nun stellt sich jedoch die Frage, wie stark dieser ausgefallen ist.

Dafür halten wir die sektorale Zusammensetzung zwischen 20 einzelnen Wirtschaftsbereichen seit dem Jahr 2005 in einer empirischen Analyse künstlich konstant. Die Diskrepanz zwischen dieser kontrafaktischen (künstlichen) Situation und der tatsächlichen Entwicklung misst im Wesentlichen die Effekte des Strukturwandels, sprich, den verstärkten Beschäftigungsaufbau in niedrigproduktiven Dienstleistungsbereichen. Es zeigt sich, dass sich nahezu die Hälfte des jährlichen Rückgangs der Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität (Stundenkonzept) auf den Strukturwandel zurückführen lässt.

Schwache Produktivitätseffekte durch IKT: Ein wichtiger Mosaikstein

Damit bleibt jedoch noch ein wesentlicher Teil des Produktivitätsparadoxons in Deutschland unerklärt. Wir untersuchen daher zusätzlich, warum die massiven Investitionen in IKT, welche die wichtige Rolle deutscher Unternehmen in der vierten industriellen Revolution untermauern, nicht zu stärkeren Produktivitätsgewinnen geführt haben. Insbesondere analysieren wir, wie sich technologischer Fortschritt, der im IKT-Wirtschaftsbereich entstanden ist, auf andere Wirtschaftssektoren übertragen hat.

IKT-Investitionen können das aggregierte Produktivitätswachstum über eine Vielzahl von Kanälen steigern: direkt durch ein höheres Produktivitätswachstum im IKT-Wirtschaftsbereich selbst oder indirekt durch die Förderung komplementärer Innovationen (Bloom et al. 2012) und die Reallokation in Richtung produktiverer Unternehmen (Foster et al. 2006) in den anderen, den Nicht-IKT-Wirtschaftsbereichen. Zunächst betrachten wir isoliert die Auswirkungen auf die Produktivität in den beiden Bereichen.

Unsere Ergebnisse zeigen, dass IKT-bedingter technologischer Fortschritt zu einer beträchtlichen und dauerhaften Steigerung der Arbeitsproduktivität im IKT-Wirtschaftsbereich selbst geführt hat. Im Nicht-IKT-Wirtschaftsbereich zeigt sich hingegen keine Reaktion der Arbeitsproduktivität. Auf den ersten Blick scheint der technologische Fortschritt, der im IKT-Wirtschaftsbereich stattgefunden hat, also keine Effekte auf die übrigen Wirtschaftsbereiche gehabt zu haben.

Um den Mechanismus hinter diesen Ergebnissen zu verstehen, betrachten wir die Reaktionen von weiteren makroökonomischen Größen. Diese detailliertere Auswertung zeigt, dass sowohl die Bruttowertschöpfung als auch die Beschäftigung nach einem IKT-bedingtem technologischen Fortschritt deutlich angestiegen sind, und dies in nahezu gleichem Ausmaß. Da die Arbeitsproduktivität als Verhältnis von Bruttowertschöpfung und Beschäftigung bestimmt wird, ist der resultierende Nettoeffekt auf die Arbeitsproduktivität nahezu null.

Dies zeigt: Auch in Deutschland ist die Digitalisierung ein Motor des wirtschaftlichen Wohlstands.

Sie hat die Beschäftigung und die Bruttowertschöpfung erhöht. Ihre Nettowirkung auf das Wachstum der Arbeitsproduktivität war dadurch aber moderat.

Schlussfolgerungen

Während das rückläufige Produktivitätswachstum eine gemeinsame Erfahrung der fortgeschrittenen Volkswirtschaften ist, spiegeln die Entwicklungen in Deutschland nicht einfach nur die Verlangsamung des Technologiefortschritt in den USA wider. Stattdessen können zwei heimische Entwicklungen das Paradoxon zum Teil erklären:

  • Erstens wurde das Produktivitätswachstum als Nebeneffekt des Strukturwandels hin zu arbeitsintensiven und niedrig produktiven Dienstleistungsbereichen gebremst.
  • Zweitens führten technologische Fortschritte in IKT gleichzeitig zu einer höheren Produktion und mehr Beschäftigung. Dies hat das Produktivitätswachstum gedämpft, da sich beide positiven Effekte nahezu aufgehoben haben.

Der Beitrag basiert auf Christofzik, D  I, S Elstner, L P Feld und C M Schmidt (2021), „The German Productivity Paradox: A Homegrown Affair“, VoxEU.org, November 22. https://voxeu.org/article/german-productivity-paradox-homegrown-affair

 

Literatur

Bloom, N, R Sadun und J Van Reenen (2012), “Americans do IT better: US multinationals and the productivity miracle”, American Economic Review 102: 167–201.

Comin, D A, J Q Gonzalez, T G Schmitz und A Trigari (2020), “Measuring TFP: The role of profits, adjustment costs, and capacity utilization”, NBER Working Paper 28008.

Cette, G, J Fernald und B Mojon (2016), “The pre-Great Recession slowdown in productivity”, European Economic Review 88: 3–20.

Christofzik, D I, L P Feld, S Elstner und C M Schmidt (2021), “Unraveling the Productivity Paradox: Evidence for Germany”, CEPR Discussion Paper 16187.

Fernald, J G (2014), “A quarterly, utilization-adjusted series on Total Factor Productivity”, Working paper series 2012-19, Federal Reserve Bank of San Francisco.

Foster, L, J Haltiwanger und C J Krizan (2006), “Market selection, reallocation, and restructuring in the U.S. retail trade sector in the 1990s”, Review of Economics and Statistics 88: 748–758.

Gordon, R J (2015), “Secular stagnation: A supply-side view”, American Economic Review 105: 54–59.

Summers, L H (2014), “Reflections on the ‘New secular stagnation hypothesis’”, in C Teulings and R Baldwin (eds.), Secular stagnation: Facts, causes, and cures, CEPR press.

[1] Die Arbeitsproduktivität ergibt sich aus dem Verhältnis von preisbereinigtem Bruttoinlandsprodukt und der Gesamtzahl an Arbeitsstunden. Die Totale Faktorproduktivität betrachtet hingegen die Outputgröße in Relation zu allen Inputfaktoren (Arbeitsstunden, Kapital).

[2] Zeitreihen sind zu finden unter diesem Link.



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