Megatrend-Report: „Ein weltweiter Subventionswettlauf wäre fatal“

Prof. Dr. Michael HütherInstitut der deutschen Wirtschaft

Spätestens durch den Angriff Russlands auf die Ukraine sowie die anschließende Energiekrise ist die Frage nach der heimischen Standort-Attraktivität zurück auf der Tagesordnung. Welche Belastungsfaktoren schwächen den Industrie-Standort Deutschland und wie verändern sie sich im Zusammenhang mit dem voranschreitenden Klimawandel, dem geopolitischen Systemwettbewerb oder dem demografischen Wandel?

Der neue Megatrend-Report der Bertelsmann Stiftung zeichnet ein aktuelles Lagebild und diskutiert verschiedene wirtschaftspolitische Ansätze für eine erfolgreiche Transformation der deutschen Industrie-Nation in Richtung einer Nachhaltigen Sozialen Marktwirtschaft. Darin kommt auch Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, zu Wort.

Deutschlands Exportüberschüsse werden häufig als Zeichen unserer wirtschaftlichen Stärke gesehen. Ist das so? Die Kehrseite eines Exportüberschusses bei der Handelsbilanz ist ein Nettokapitalexport, also ein Kapitalabfluss. Bedroht dieser Nettokapitalabfluss den Industrie-Standort Deutschland?

Prof. Dr. Michael Hüther: Aktuell ist der Exportüberschuss so niedrig wie seit über zwanzig Jahren nicht mehr, weil sich Importe verteuern und die Weltwirtschaft schwächelt.

Gleichzeitig stellen wir negative Nettoinvestitionen von 125 Milliarden Euro in historischer Höhe fest. Nettokapitalexporte bedeuten nicht zwangsläufig Kapitalabflüsse, sondern den vermehrten Aufbau von Forderungen an das Ausland. Das ist gerade für alternde Gesellschaften empfehlenswert.

Wohin Kapital aus Deutschland fließt, hat mit der zu erwartenden Rendite und den Zukunftsaussichten des Standorts zu tun. Und da fällt der deutsche Standort zurück.

Prof. Dr. Michael Hüther

Das Potenzialwachstum – also das theoretisch mögliche BIP-Wachstum bei ausgelasteten Kapazitäten – ist in Deutschland von 1,6 Prozent im Jahr 2016 auf 0,5 Prozent im Jahr 2023 gesunken. Die goldenen Jahre zwischen Finanzkrise und Pandemie mit hohen Überschüssen waren Wachstumstreiber, doch überschatteten sie die Probleme im Land, die sich in vergleichsweise niedrigen Konsumausgaben und Investitionen in den Kapitalstock zeigten.

Die Exportüberschüsse waren wichtig, um die Nachfragelücke im Inland zu schließen. Deutsche Unternehmen investieren folglich vor allem im Ausland. Eine derartige Verlagerung kann Wachstumseinbußen für das Inland zur Folge haben, wenn die heimischen Standortbedingungen und nicht die Renditeoptionen im Ausland den Kapitalexport treiben. Fällt dann noch der Exportmarkt weg, ist eine Rezession unvermeidbar.

An welchen Standortfaktoren sollte die Wirtschaftspolitik ansetzen, damit die deutsche Industrie gestärkt aus der ökologischen Transformation hervorgeht?

Hüther: Zunächst muss man sich vergegenwärtigen, dass die grüne Transformation ein politisch verordneter Strukturwandel per Termin ist: Bis zum Jahr 2045 soll Deutschland die Treibhausgasneutralität erreichen. Dies ist nicht nur mit Ansprüchen an die Wirtschaft verbunden, sondern verändert auch die Rolle und das Verständnis des Staates:

Erstens ist ein zügiger Ausbau der Erneuerbaren Energien und der dazugehörigen Leitungs- und Transportinfrastruktur die notwendige Bedingung für die grüne Transformation. Die überbordende Bürokratie sowie zu lange Planungs- und Genehmigungsverfahren sind dabei seit Jahren ein Problem. Zur Sicherung des Industrie-Standortes Deutschland ist darüber hinaus eine Konstanz der Wirtschaftspolitik und die Garantie wettbewerbsfähiger Energiepreise notwendig. Der Brückenstrompreis – wie er derzeit in Bezug zum Börsenstrompreis diskutiert wird – würde für die bereits bei der besonderen Ausgleichsregelung des EEG berücksichtigten, unter Abwanderungsdruck stehenden Branchen, einen zeitlich begrenzten, aber verlässlichen Strompreispfad ausweisen, der die benötigte Elektrifizierung fördern und gleichzeitig die deutsche Wettbewerbsfähigkeit bis 2030 sichern würde.

Zweitens erfordert die grüne Transformation in Deutschland klimafreundliche Investitionen von schätzungsweise 5 Billionen Euro. Um dies zu gewährleiten, benötigt es einen handlungsfähigen Staat mit einem geeigneten finanziellen Spielraum. Die Schuldenbremse darf dabei nicht den dringend benötigten, zukunftswirksamen Investitionen im Weg stehen.

Drittens darf die ökologische Transformation nicht allein gedacht werden, sondern muss vom Ausbau der digitalen Transformation begleitet werden. Synergieeffekte aus Digitalisierung und Dekarbonisierung kommen vor allem bei der Ressourceneinsparung zum Tragen. So können ca. 13 Prozent der Materialeinsparungen und 11 Prozent der Energieeinsparung bei Unternehmen auf die Digitalisierung zurückgeführt werden. Hinzukommt der demographische Wandel, der die doppelte Transformation beeinträchtigt und wachstumshemmend wirkt. Um den traditionellen Standortvorteil Deutschlands hinsichtlich der Verfügbarkeit qualifizierter Mitarbeiter nicht zu gefährden, sollten bildungspolitische Maßnahmen und eine qualifizierte Einwanderung verstärkt gefördert werden.

Die US-Regierung fördert die ökologische Transformation mit milliardenschweren Förderprogrammen, u. a. dem “Inflation Reduction Act”. Sollte die deutsche Wirtschaftspolitik darauf reagieren – und falls ja, was wären geeignete Maßnahmen? Und was sollte auf keinen Fall getan werden?

Hüther: Die industriepolitischen Interventionen nehmen seit Jahren deutlich zu. Zwischen 2014 und 2018 erhielten z.B. Chiphersteller weltweit staatliche Beihilfen von über 50 Milliarden Euro, was den extremen Wettbewerb der Standorte um Schlüssel-Industrien verdeutlicht. So müssen sich auch Deutschland und die EU der Frage stellen, wie die hier generierte Wertschöpfung beibehalten und gleichzeitig die Wirtschaft transformiert werden kann.

Da das deutsche Geschäftsmodell große Spillover-Effekte zwischen der Industrie und dem Dienstleistungssektor zeigt, kann die Abwanderung einzelner Industrien unkalkulierbare Risiken und Folgeeffekte für die weiteren Stufen der Wertschöpfungskette mit sich bringen.

Denn anders als z.B. in Großbritannien und den USA kommen hierzulande zu den rund 20 Prozent industrieller Wertschöpfung am Bruttoinlandsprodukt fast 9 Prozent an Verbundwertschöpfung hinzu. Um sich im Standortwettbewerb behaupten zu können, ist es daher vor allem wichtig horizontale Industrie-Politik zu betreiben und strukturelle Probleme anzugehen.

Standortnachteile wie die hohen Unternehmenssteuern, der lähmende Fachkräftemangel und die verschleppte Digitalisierung kommen zur Dekarbonisierung hinzu und drohen zu Totengräbern des Industrie-Standortes Deutschland zu werden. So belegt Deutschland beim IW-Standortindex im Bereich der Arbeits- und Energiekosten sowie Steuerbelastungen den vorletzten Platz. Diese schlechte Position resultiert aus den gesunkenen Steuerbelastungen in anderen Ländern, während die unternehmerische Steuerlast in Deutschland unverändert seit 2015 im Mittel bei 30 Prozent liegt.

Um strategische Autonomie zu fördern und einer Deindustrialisierung vorzubeugen, werden derzeit verstärkt als Schlüssel-Industrien betrachtete Branchen gefördert. Bei dieser selektiven Industrie-Politik sind eine zeitliche und anreizkompatible Begrenzung sowie klare Kriterien unerlässlich, um sicherzustellen, dass die Industrie-Politik nicht zur punktuellen Förderung politisch präferierter Branchen wird. Denn an einem weltweiten Subventionswettlauf teilzunehmen oder diesen anzuheizen wäre fatal. In einem solchen Wettbewerb, insbesondere mit China und den USA, könnte Deutschland nicht mithalten.

Weitere Beiträge zum Thema auf unserem Blog:

Deutschland im grünen Standortwettbewerb von Dr. Marcus Wortmann, Bertelsmann Stiftung

Subventionierte Strompreise zur Transformation? von Prof. Dr. Kathrine von Graevenitz, Elisa Rottner (beide ZEW) und Dr. Andreas Gerster, Universität Mannheim

Der Inflation Reduction Act – Handlungsbedarfe für die deutsche Wirtschaftspolitik von Dr. Thieß Petersen, Bertelsmann Stiftung



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