Wirtschaftliche Produktivität braucht soziale Produktivität
Unter „sozialer Produktivität“ verstehe ich die Fähigkeit einer Gesellschaft, einen gemeinsamen Meinungsbildungsprozess so zu gestalten, dass er zu einer hinreichend großen Akzeptanz von kollektiven Entscheidungen beiträgt.
„Akzeptanz“ kann dabei entweder bedeuten, dass man einer Entscheidung inhaltlich beipflichtet, oder dass man eine Entscheidung, der man inhaltlich nicht beipflichtet, dennoch als verbindlich anerkennt, weil man das Zustandekommen der Entscheidung als legitim betrachtet
Wirtschaftliche Produktivität ist auf gesellschaftliche Akzeptanz und damit soziale Produktivität angewiesen.
Insbesondere, wenn es um einen effizienten Umgang mit natürlichen Ressourcen als Voraussetzung für den Wandel zu einer nachhaltigen Wirtschaft geht.
Bedingungen für soziale Produktivität
Wesentliche Bedingungen für soziale Produktivität sind:
- Vertrauen in politische Institutionen, in Informationsmedien, in das Bildungssystem und die Wissenschaft sowie in das grundsätzliche Wohlwollen von Mitbürger:innen.
- Öffentliche Diskursräume, in denen Politik diskutiert, Informationen rezipiert, Erfahrungswissen und wissenschaftliche Erkenntnisse verarbeitet und eine Verständigung mit Mitbürger:innen stattfindet.
- Kooperative Kommunikation, die gegenseitigen Respekt und Wahrhaftigkeit, eine gemeinsame Suche nach Lösungen und das deliberative Austragen von Konflikten und Meinungsverschiedenheiten ermöglicht.[1]
Wir erleben zur Zeit in Deutschland, dass unsere soziale Produktivität im Zusammenhang mit der Corona-Krise ernsthafte Defizite aufweist: zu viel Misstrauen in Politik, Medien, Wissenschaft und die Motive von Mitbürger:innen, polarisierte Teilöffentlichkeiten und zu wenig Bereitschaft zur argumentativen Auseinandersetzung und Verständigung.
Als Konsequenz fehlt eine hinreichende Akzeptanz wichtiger kollektiver Entscheidungen – wobei „hinreichend“ sich in diesem Fall über eine hinreichende Impfquote tatsächlich ziemlich genau quantifizieren lässt.
Not In My Backyard!
Nachhaltiges Wirtschaften braucht soziale Produktivität, weil kollektive Entscheidungen in diesem Bereich häufig mit einem notorischen Problem konfrontiert sind: Während der allgemeine Nutzen nachhaltigen Wirtschaftens ein öffentliches Gut ist, von dem alle profitieren, können die Kosten ungleich verteilt sein und konzentriert bei einer Minderheit anfallen.
Klassische Beispiele sind Müllverbrennungsanlagen mit Risiken für benachbarte Gemeinden, die Schließung von Kraftwerken mit einem Verlust von regionalen Arbeitsplätzen, der Bau von Umgehungsstraßen oder Bahntrassen mit Belastungen für die Anrainer. Aktuelle Beispiele sind die Errichtung von Windkraftanlagen oder Überlandleitungen mit Nachteilen für die Lebensqualität an den jeweiligen Standorten.
Solche Problemkonstellationen erzeugen Anreize, anfallende Kosten und Belastungen nach Möglichkeit auf andere abzuwälzen. Das ist die Logik des NIMBY-Prinzips: Not In My Backyard! Es verkörpert die selbstbezogene Haltung, dass man zwar bestimmte Maßnahmen im Allgemeinen und auch im eigenen Interesse grundsätzlich befürwortet, man aber nicht bereit ist, einen individuellen Kostenbeitrag zu übernehmen.
Ein soziales Dilemma droht
NIMBY kann zur Folge haben, dass auch Vorhaben, die in einer Gesellschaft als insgesamt wichtig und sinnvoll angesehen werden, scheitern können, weil lokaler Widerstand sie jahrelang blockiert oder endgültig verhindert. Obwohl alle in der Bilanz profitieren würden, können individuelle Vermeidungsstrategien am Ende allen schaden.
Solche dilemmatischen Strukturen drohen national bei dem Bau von Windkraftanlagen oder Stromtrassen, markieren aber auch international ein grundlegendes Problem bei dem Kampf gegen den globalen Klimawandel.[2]
Gemeinsames Vorgehen ist notwendig
Standortbezogene Maßnahmen für Nachhaltigkeit benötigen das Einverständnis der lokal Betroffenen, um soziale, politische und rechtliche Konflikte und andauernden Widerstand zu vermeiden. Es sind Bedingungen, die soziale Produktivität erfordern und gleichzeitig erschweren. Ein Appell an individuelle Einsicht allein hilft in solchen Situationen nicht weiter.
Notwendig ist die gemeinsame Erarbeitung von verbindlichen Vereinbarungen über die Auswahl und Realisierung von Vorhaben, eine Ausbalancierung divergenter Interessen und eine angemessene Verteilung von Nutzen und Kosten.
Ein solcher kooperativer Meinungsbildungsprozess ist möglich durch eine institutionalisierte und frühzeitige Einbeziehung und Partizipation der Betroffenen bei der Planung, Konzeption und Umsetzung von Vorhaben.[3]
Beteiligungsformate können dabei einen zunehmenden Impact haben:[4]
- Information. Vermittlung von validen Fakten über ein Vorhaben, über Nutzen und Kosten und mögliche Alternativen.
- Konsultation. Öffentliches Feedback zu den Zielen, Nutzen, Kosten und Alternativen eines Vorhabens.
- Einbindung. Kontinuierliche Berücksichtigung der Sichtweisen, Präferenzen und des lokalen Wissens der Betroffenen während des gesamten Verfahrens.
- Kollaboration. Aktive Mitarbeit der Betroffenen bei der Entwicklung der Ziele, der Konzeption, der Planung und Realisierung eines Vorhabens und bei der Recherche von Alternativen.
- Übertragung von Entscheidungskompetenz an die Betroffenen, von operativen Einzelentscheidungen bis hin zu einer finalen Gesamtentscheidung.
Bürgersinn und Vertrauen
Ein Verfahren, das auf der aktiven Beteiligung aller Betroffenen, vertrauenswürdigen Informationen und geteiltem Wissen, transparenten und sachgerechten Begründungen und einem erkennbaren Bemühen um faire Ausgewogenheit bei der Verteilung von Nutzen und Lasten und angemessene Kompensationen beruht, erhöht die Chancen für eine explizite inhaltliche Zustimmung zu einer Entscheidung.
Inklusion und institutionalisierte Mitwirkung bei einem Entscheidungsprozess können aber auch eine unterliegende Minderheit dazu bewegen, eine demokratische Mehrheitsentscheidung und damit möglicherweise verbundene Sonderkosten zu akzeptieren.
Eine potenziell wichtige Rolle spielt die Motivation, freiwillig einen persönlichen Beitrag zu einem öffentlichen Gut zu leisten.[5] Ein solcher Bürgersinn setzt voraus, dass man von der Wichtigkeit eines Vorhabens für das Gemeinwohl überzeugt ist und sich mit der Gemeinschaft identifiziert.
Und man muss Vertrauen in soziale Reziprozität haben, dass andere Menschen in vergleichbaren Situationen ebenfalls bereit sind, persönliche Lasten für gemeinsame Ziele zu akzeptieren. Dieses Vertrauen kann durch die sozialen Interaktionen und interpersonalen Erfahrungen bei kooperativen Beteiligungsprozessen aufgebaut und gestärkt werden.
Was ist mit Digitalisierung?
Analoge Partizipationsformate sind bereits erfolgreich erprobt, als Bürgerversammlungen, Bürgerräte, Mini-Publics oder Townhall-Meetings. Aber welche Rolle spielt die Digitalisierung für soziale Produktivität?
Zunächst eine scheinbar vorwiegend destruktive. Entgegen den Blütenträumen einer umfassenden Demokratisierung durch Digitalisierung haben sich digitale Medien – zuletzt besonders drastisch im Kontext der Corona-Pandemie – als Treiber für eine Fragmentierung der Öffentlichkeit herausgestellt, als Brutkästen für Polarisierung und Radikalisierung, Desinformation und Verschwörungstheorien, als Brandbeschleuniger für Verleumdung und Hass und als Nährboden für Misstrauen gegen Politik, Medien und Wissenschaft.
Also als das genaue Gegenteil von offenen und inklusiven Diskursräumen in einer auf Vertrauen beruhenden Demokratie, in denen im Geiste kooperativer Kommunikation einvernehmliche Lösungen auf der Basis gemeinsamer Ziele und geteilten Wissens gesucht werden.[6]
Digitalisierung kann soziale Produktivität stärken
Aber diese Fehlentwicklungen sollten nicht dazu verleiten, die Potenziale der Digitalisierung auch für eine Stärkung sozialer Produktivität zu verkennen:[7] Durch digitale Medien lassen sich Informationen schnell und umfassend verbreiten, Vorschläge, Konzepte und Pläne können von jedermann eingesehen, kommentiert und korrigiert werden, aktive Beteiligung von der Meinungsäußerung bis zur gezielten Zusammenarbeit sind mit vergleichsweise geringem persönlichem Aufwand möglich. Und viele kleine digitale Mikro-Aktivitäten können in der Aggregation Makro-Effekte an Erkenntnisgewinn, Mobilisierung und Einflussnahme produzieren.
Die Sichtbarkeit der eigenen Aktivitäten und leicht verfügbare soziale Informationen über das Verhalten anderer wirken im Netz als zusätzliche Katalysatoren. Sie können soziales und politisches Engagement stärken und Menschen aktivieren, die sich traditionell nicht beteiligt haben.[8]
Wahr ist aber auch, dass die Potenziale der Digitalisierung sich nicht von allein realisieren.
Sie müssen systematisch entfaltet und gezielt genutzt werden. Man muss etwas dafür tun: Politik muss digitale Beteiligung ernstnehmen, Verwaltung muss die Verfahren umsetzen, Wissenschaft und Forschung müssen technische Lösungen entwickeln und ihre soziale Einbettung erproben. Doch das ist ein anderes Thema.[9]
Literatur
[1] Bormann, M., Tranow, U., Ziegele, M. & Vowe, G. (2021). Incivility as a Violation of Communication Norms – A Typology Based on Normative Expectations toward Political Communication. Communication Theory. https://doi.org/10.1093/ct/qtab018.
[2] Ockenfels, A. & Schmidt, Ch. M. (2019). Die Mutter aller Kooperationsprobleme. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 68(2): 122-130. https://doi.org/10.1515/zfwp-2019-2017.
[3] Renn, O., Webler, Th. & Wiedemann, P. (Hrsg.) (1995). Fairness and Competence in Citizen Participation
Evaluating Models for Environmental Discourse. Kluwer Academic.
[4] IAP2 International Federation 2018. Spectrum of Public Participation https://cdn.ymaws.com/www.iap2.org/resource/resmgr/pillars/Spectrum_8.5x11_Print.pdf
[5] Frey, B. S. (1997). Unerwünschte Projekte, Kompensation und Akzeptanz. Analyse & Kritik 19: 3-14. https://www.analyse-und-kritik.net/Dateien/56c2e67f66d58_ak_frey_1997.pdf
[6] Baurmann, M. & Cohnitz, D. (2021). Trust No One? The (Social) Epistemological Consequences of Belief in Conspiracy Theories. In Bernecker, S., Flowerree, A. K. & Grundmann, T. (Hrsg.), The Epistemology of Fake News. Oxford University Press.
[7] Friess, T., Escher, T., Gerl, K. & Baurmann, M. (Hrsg.) (2021). Political Online Participation and its Effects: Theory, Measurement, and Results, Special Issue: P&I Policy and Internet 13(1). https://doi.org/10.1002/poi3.270
[8] Margetts, H., John, P. & Hale, S. (2015). Political Turbulence: How Social Media Shape Collective Action. Princeton University Press.
[9] Baurmann, M. (2021). Die Rückkehr des Vertrauens? Wissenschaftskommunikation.de, https://www.wissenschaftskommunikation.de/die-rueckkehr-des-vertrauens-40019/
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