Ungleichheit und Wirtschaftswachstum – kein eindeutiger Zusammenhang

Dr. Judith NiehuesInstitut der deutschen Wirtschaft in Köln

Die mediale und politische Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wachstum geht vor allem auf zwei zeitlich nah aufeinanderfolgende Veröffentlichungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der OECD im Jahr 2014 zurück. Beide Studien kamen gleichermaßen zu dem Ergebnis, dass eine steigende Einkommensungleichheit ein geringeres Wirtschaftswachstum impliziere und ebenso, dass von höherer Umverteilung eher keine wachstumshemmenden Effekte zu erwarten wären (Cingano, 2014; Ostry et al., 2014).

Die OECD-Studie prognostizierte für Deutschland beispielsweise, dass das Wirtschaftswachstum zwischen 1990 und 2019 um fast 6 Prozentpunkte hätte höher ausfallen können, wenn die Ungleichheit nicht gestiegen wäre. Die Ergebnisse der Studien stellten somit den bis dahin weitläufig vermuteten Trade-off zwischen Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit in Frage. Ein wesentlicher Zielkonflikt der Wirtschaftspolitik wäre gelöst, da von ungleichheitsreduzierenden Umverteilungsmaßnahmen keine negativen Anreiz-Effekte ausgingen, sondern die geringere Ungleichheit zu einem höheren Wachstum führe.

Diese neu entfachte Facette in der Verteilungsdebatte erweckte bisweilen den Eindruck, Ökonomen hätten gerade erst begonnen, sich dem Zusammenhang von Ungleichheit und Wachstum zu widmen. Gleichwohl war ebendieser Zusammenhang bereits in den 1990er Jahren Gegenstand einer großen Anzahl empirischer Analysen. Eine Meta-Studie von Neves et al. (2016) zeigt, dass der geschätzte Koeffizient für die Auswirkung zunehmender Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum in einer recht großen Bandbreite zwischen -0,135 und 0,156 Prozentpunkten liegt. Die gefundenen Effekte folgen dabei einem zeitlichen Zyklus mit eher negativen Koeffizienten in den 90er-Jahren, positiven Effekten zu Beginn des neuen Jahrtausends und dann wieder stärker negativen Effekten ab den 2010er-Jahren.

Landesspezifische Faktoren entscheidend

Theoretisch lässt sich sowohl ein positiver als auch ein negativer Zusammenhang zwischen beiden Größen begründen. Für einen positiven Wachstumseffekt sprechen beispielsweise Leistungs- und Innovationsanreize, die aus erwartenden Einkommensvorteilen hervorgehen. Ein negativer Einfluss kommt beispielsweise dann zustande, wenn Menschen mit geringen Einkommen einen schlechteren Zugang zum Bildungssystem haben und dadurch eine optimale Entfaltung der Bildungschancen verhindert wird. Ein wachstumshemmender Effekt kann sich ebenfalls ergeben, wenn das Ausmaß der Ungleichheit so hoch ist, dass sie mit sozialen Unruhen und politischer Instabilität einhergeht.

Die beispielhaft diskutierten theoretischen Zusammenhänge zwischen Ungleichheit und dem Wirtschaftswachstum zeigen eines sehr deutlich: Der Einfluss hängt zentral von landespezifischen Faktoren ab. Ein negativer Zusammenhang ist beispielsweise eher in Ländern mit niedrigem Wohlstand zu erwarten, wenn vielen Menschen der Zugang zum Bildungssystem verwehrt bleibt. Ebenso werden ungleichheitsbedingte und wachstumshemmende soziale Unruhen wahrscheinlicher, wenn das Ausmaß der Ungleichheit bereits sehr hoch ist.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen sind die Befunde der OECD-Studie und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen überraschend. Aus den Hauptergebnissen der Studie geht hervor, dass der wachstumshemmende Effekt steigender Einkommensungleichheit in den skandinavischen Ländern Schweden, Finnland und Norwegen erkennbar stärker ausfiel als beispielsweise in den USA, obwohl die USA zu den OECD-Ländern mit besonders hoher Einkommenskonzentration zählen (Cingano, 2014). Das Ergebnis ist insbesondere auch deswegen überraschend, da die skandinavischen Länder nicht nur durch eine deutlich geringere Ungleichheit gekennzeichnet sind, sondern auch bei Analysen zur Bildungsmobilität im Vergleich zu anderen Ländern regelmäßig sehr gut abschneiden.

Von der Theorie her wäre also gerade für diese Länder zu erwarten, dass die wachstumshemmenden Effekte steigender Ungleichheit vergleichsweise gering ausfallen müssten. Da in der OECD-Studie nur lineare Einflüsse untersucht werden, spielt das Ausgangsniveau der Ungleichheit für den Einfluss auf das Wachstum allerdings keine Rolle.

Werden hingegen auch nicht-lineare Einflüsse berücksichtigt, zeigt sich, dass der negative Effekt zunehmender Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum entscheidend von dem bereits vorliegenden Niveau an Ungleichheit abhängt (Kolev/Niehues, 2016). Im weltweiten Vergleich von 113 Ländern ist bis zu einem Schwellenwert des Gini-Koeffizienten von 0,35 eher von einem positiven Zusammenhang auszugehen. Erst wenn dieses „gute Maß“ an Ungleichheit überschritten wird, ist mit negativen Folgen der zunehmenden Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum zu rechnen. Auch der Entwicklungsstand der Länder spielt eine entscheidende Rolle. In weniger entwickelten Volkswirtschaften – oder genauer, in Ländern deren BIP pro Kopf 9.000 US-Dollar nicht übersteigt – zeigt sich in den Schätzungen ein negativer Effekt zunehmender Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum.

Auch bei dem ebenfalls in der Debatte diskutierten Einfluss staatlicher Umverteilung auf das Wirtschaftswachstum ist davon auszugehen, dass etwaige negative Anreizeffekte mit der bereits bestehenden Höhe von Abgaben, Steuern und Transfers zusammenhängen. Im Einklang mit dieser Hypothese findet die IWF-Studie bei Berücksichtigung nicht-linearer Effekte tatsächlich Evidenz dafür, dass in den Ländern, in denen die Umverteilung bereits sehr hoch ist, eine weitere Steigerung der Umverteilung schädlich für das Wirtschaftswachstum ist, wie von der verbreiteten Hypothese des Trade-offs zwischen Effizienz und Gerechtigkeit vorhergesagt (Ostry et al., 2014, 23).

Wachstumshemmende Effekte in Deutschland eher unwahrscheinlich

Die Auswertungen legen nahe, dass für Länder mit hohem Entwicklungsstand und vergleichsweise geringer Ungleichheit eher ein positiver Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wirtschaftswachstum zu erwarten ist. Mit einem Gini-Koeffizienten von 0,29 ist das Ungleichheitsniveau in Deutschland im internationalen Vergleich eher gering, gleichzeitig ist das Wohlstandsniveau deutlich überdurchschnittlich. Wie auch viele andere EU-Staaten sortiert sich Deutschland mit diesen Kennziffern in den Kreis der Länder ein, in dem ein wachstumshemmender Effekt steigender Ungleichheit eher unwahrscheinlich ist. Gleichzeitig muss jedoch betont werden, dass es sich hierbei allenfalls um einen beobachteten empirischen Zusammenhang und keinesfalls um eine kausale Beziehung zwischen den beiden Größen handelt. Selbst bei Berücksichtigung nicht-linearer Beziehungen bleiben weiterhin viele Einflussfaktoren von Ungleichheit und Wachstum unberücksichtigt.

Ob das Ungleichheitsniveau eines Landes zu Unruhen und Instabilitäten führt, hängt nicht zuletzt auch davon ab, wie die Ungleichheit innerhalb des Landes wahrgenommen wird und welche Gerechtigkeitsvorstellungen in der Gesellschaft vorherrschen. In Deutschland halten beispielsweise mehr als 80 Prozent eine Gesellschaft dann für gerecht, wenn hart arbeitende Menschen mehr verdienen als andere (Adriaans et al., 2019). Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist die Zustimmung zum Leistungsprinzip in Deutschland besonders ausgeprägt. Einkommensunterschiede sind somit durchaus gewünscht, sofern sie durch unterschiedliche Leistungen gerechtfertigt sind. Vorteile, die einzig auf Privilegien aus familiären Umständen zurückgehen, werden hingegen weitgehend als ungerecht empfunden. Für den Einfluss von Ungleichheit auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und andere Faktoren ist es somit auch von zentraler Bedeutung, wie die beobachtete Ungleichheit zustande gekommen ist.

Der Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wirtschaftswachstum ist somit weitgehend komplexer, als es sich durch ländervergleichende Studien mit wenigen aggregierten Variablen abbilden lässt. Weder führt eine höhere Ungleichheit mechanisch zu einem höheren Wirtschaftswachstum, noch lässt sich dieses zwangsläufig durch die Reduktion von Ungleichheit erreichen. Aus der Beobachtung, dass im weltweiten Vergleich ein hoher Entwicklungsstand tendenziell mit einem niedrigeren Ungleichheitsniveau einhergeht, lässt sich gleichwohl ableiten, dass sich beide Größen gleichzeitig erreichen lassen. Hierfür spielt aber nicht nur die Ausgestaltung des sozialen Sicherungssystems eine entscheidende Rolle, sondern auch stabile und glaubwürdige Institutionen, eine befähigende Bildungspolitik sowie eine kluge und zukunftsweisende Investitionspolitik.

Literatur

Adriaans, Jule / Eisnecker, Philipp / Liebig, Stefan, 2019, Gerechtigkeit im europäischen Vergleich: Verteilung nach Bedarf und Leistung in Deutschland besonders befürwortet, 86. Jg, Nr. 45, S. 818-824

Cingano, Federico, 2014, Trends in income inequality and its impact on Economic growth, OECD SEM Working Paper 163

Kolev, Galina / Niehues, Judith, 2016, The Inequality-Growth Relationship: An Empirical Reassessment, IW-Report Nr. 7

Neves, Pedro Cunha / Afonso, Óscar / Silva, Sandra Tavares, 2016, A MetaAnalytic Reassessment of the Effects of Inequality on Growth, in: World Development, Vol. 78, No. C, S. 386−400

Ostry, Jonathan D. / Berg, Andrew / Tsangarides, Charalambos, 2014, Redistribution, Inequality, and Growth, IMF Staff discussion Note, February



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