Produktivitäts- und Innovationslücken: Deutschland droht Halbierung des Wachstums bis 2035
Immer weniger Erwerbstätige müssen immer mehr erwirtschaften. Das geht nur, wenn Produktivität und Innovationskraft hierzulande künftig stärker zulegen als bisher – denn sonst drohen erhebliche Wohlstandseinbußen in den nächsten 15 Jahren. Dabei gibt es ganz erhebliche Unterschiede zwischen den deutschen Bundesländern.
Die Baby-Boomer gehen in Rente, die Erwerbsquote sinkt. Das bedeutet, dass künftig weniger Arbeitnehmer immer mehr erwirtschaften müssten, um den heutigen Wohlstand zu erhalten. Mit anderen Worten: Deutschland muss produktiver werden. Nicht nur der demografische Wandel stellt uns dabei vor neue Herausforderungen. Auch Globalisierung und Digitalisierung verändern ganze Wirtschaftsbereiche. Je nach Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur führt dies zu ganz unterschiedlichen Herausforderungen in den Bundesländern, zeigt unsere neuste Studie „Wachstum und Produktivität 2035“, [Download] die Experten des ifo Instituts und der Bertelsmann Stiftung gemeinsam erstellt haben.
Die Gegenwart: Große Unterschiede zwischen den Bundesländern
Betrachten wir zunächst die wirtschaftliche und demografische Entwicklung der einzelnen Bundesländer von 1991 bis 2017: Als zentrales Maß wählen wir den Lebensstandard, gemessen als preisbereinigtes Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner.
Es zeigt sich, dass sich die deutschen Bundesländer schon heute deutlich im Niveau des Lebensstandards unterscheiden. So lag der bayerische Lebensstandard im Jahr 2017 um mehr als 16 Prozent über dem gesamtdeutschen Durchschnitt. Es folgen Baden-Württemberg (15 Prozent über dem Durchschnitt) und Hessen (13 Prozent über dem Durchschnitt).
Markant ist die bisherige Entwicklung Ostdeutschlands. Während die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung durch einen Aufholprozess gekennzeichnet waren, ist der Angleichungsprozess seit jeher nur marginal vorangeschritten oder gar zum Erliegen gekommen. Somit kann auch fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung von einer „Angleichung der Lebensverhältnisse“ keine Rede sein. Im Jahr 2017 lag der Lebensstandard der ostdeutschen Flächenländer um rund 29 Prozent unter dem gesamtdeutschen Niveau.
Zwei Entwicklungen sind besonders bemerkenswert wie die untenstehende Abbildung verdeutlicht. Erstens sind die Gesamtbevölkerung und die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in Ostdeutschland (mit Berlin) stärker geschrumpft als in den westdeutschen Bundesländern. In Westdeutschland ist die Bevölkerungszahl gegenüber dem Jahr 1996 merklich gestiegen, auch bedingt durch die seit 2015 verstärkt eingesetzte Zuwanderung.
Zweitens ist die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter der ostdeutschen Bundesländer insgesamt in viel stärkerem Maße geschrumpft als die Gesamtbevölkerung. In Ostdeutschland lebten im Jahr 2017 mehr als 1,3 Mio. Personen weniger als im Jahr 1996; dies entspricht einem Bevölkerungsrückgang von 7,7 Prozent. Die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter sank im gleichen Zeitraum sogar um 1,9 Mio. Personen bzw. 14,8 Prozent. Demgegenüber stieg die Bevölkerungszahl in Westdeutschland um mehr als
2,5 Mio. Personen bzw. 4,0 Prozent an; die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter stieg marginal um etwa 660.000 Personen bzw. 1,4 Prozent – wobei hier die erhöhte Zuwanderung eine maßgebliche Rolle spielt.
Noch größer sind die Unterschiede auf der Ebene der einzelnen Bundesländer. Während insbesondere die wirtschaftsstarken Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg sowie die Stadtstaaten Hamburg und Berlin in den 21 Jahren des Beobachtungszeitraums ein Bevölkerungsplus von bis zu 10 Prozent verbuchen konnten, gingen die Bevölkerungszahlen in den ostdeutschen Flächenländern um annähernd 11 Prozent, in Sachsen-Anhalt sogar um rund 18 Prozent zurück.
Ein Blick in die Zukunft: Wachstum und Produktivität bis 2035
Was lässt sich nach heutigem Stand über die künftige Entwicklung von Wachstum und Wohlstand in Deutschland vorhersagen? In unserer Studie haben wir ein Basisszenario und vier Alternativszenarien entwickelt. Wir wollen uns so der Frage nähern, wie sich das Wirtschaftswachstum in den Bundesländern in den nächsten 15 Jahren entwickeln könnte. Wir lassen hier bewusst Umverteilungsmechanismen außer Acht, die natürlich einen Teil der Unterschiede zwischen den Bundesländern kompensieren könnten. Uns geht es primär darum aufzuzeigen, wie groß der Kuchen sein wird, der überhaupt verteilt werden kann – im Lichte der gegebenen Wirtschaftsstruktur sowie der nach heutiger Sicht plausiblen Fortschreibung demografischer und technologischer Trends.
Und hier zeigt sich: Der Rückgang der Erwerbsquote und die schwache Produktivitätsentwicklung könnten Deutschlands Wirtschaftswachstum im Jahr 2035 erheblich dämpfen: Lag das Potenzialwachstum des realen BIP zuletzt noch bei rund 1,1%, so wird es laut Projektion im Jahr 2035 nur noch rund 0,6% betragen und somit in etwa halbiert (im Basisszenario). Dabei gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern. Im Saarland und in Sachsen-Anhalt ist laut Berechnungen sogar eine schrumpfende Wirtschaft im Jahr 2035 zu befürchten. Dieses sogenannte negative Wirtschaftswachstum könnte die Wohlstandsschere zwischen strukturschwachen und -starken Regionen verschärfen, anstatt sie zu verkleinern.
Entsprechend stehen die Bundesländer vor erheblichen Anstrengungen, wollen sie keine Wohlfahrtseinbußen hinnehmen. Bis in das Jahr 2035 schrumpft die Zahl der Erwerbstätigen in der Projektion in allen Bundesländern mit Ausnahme von Berlin stärker als die Gesamtbevölkerung. Das bedeutet letztlich: Immer weniger müssen künftig immer mehr erwirtschaften – das heißt, sie müssen noch produktiver werden. Vor den größten Herausforderungen stehen dabei die ostdeutschen Regionen Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg genauso wie die strukturschwachen Regionen Saarland und Rheinland-Pfalz im Westen. Um den Rückgang der Erwerbsbevölkerung auszugleichen, müssen diese Regionen ihre Produktivität um 0,4-0,8 Prozentpunkte steigern, wollen sie das Wachstum ihres heutigen Lebensstandards zumindest konstant halten. Es wird also deutlich: Obwohl die Produktivität jedes Jahr zulegen wird, so wird jener Zuwachs nach derzeitigem Stand nicht ausreichen, um den Rückgang der Erwerbsquote aufzufangen – es ergibt sich nach heutigem Stand eine „Produktivitätslücke“.
Von einer Angleichung der Lebensverhältnisse ist bei diesen Zahlen noch gar nicht die Rede. Damit der Lebensstandard der ostdeutschen Flächenländer zum Niveau der strukturschwachen westdeutschen Länder konvergiert, muss die Wirtschaft in Ostdeutschland teils doppelt so stark wachsen wie bisher wie in der folgenden Abbildung deutlich wird.
Die größten Herausforderungen ergeben sich für Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Letzteres benötigt mehr als das Doppelte der jeweiligen historischen Zuwachsraten: Hier müsste das Wachstum der Totalen Faktorproduktivität (TFP) – ein Maß für den technologischen Fortschritt – anstatt des historischen Wachstums von 0,7 Prozent im Projektionszeitraum jahresdurchschnittlich 2,6 Prozent betragen. Etwas besser stehen Sachsen und Thüringen da, wenngleich auch hier das Wachstum der TFP fast doppelt so stark sein müsste. Vor dem Hintergrund der sich verschärfenden demografischen Rahmenbedingungen und vor allem der derzeitigen niedrigen Wachstumsraten der TFP muss dies wohl eher als unwahrscheinlich erachtet werden.
Wege nach vorn
Um diese Werte auch nur annähernd zu erreichen, muss gegengesteuert werden. Für den Faktor Arbeit liegt in der Steigerung der Erwerbsquote eine wichtige Maßnahme – welche jedoch nicht mehr unbegrenzt möglich ist, da schon heute hohe Erwerbsquoten in den Bundesländern zu beobachten sind. Jedoch könnte die derzeit diskutierte gezielte Fachkräftezuwanderung Abhilfe schaffen. Darüber hinaus sind Maßnahmen sinnvoll, die auf eine Steigerung der Arbeitsproduktivität abzielen. Besonders jene Maßnahmen sind vielversprechend, die die negativen Effekte des Rückgangs des Erwerbspersonenpotenzials abfedern oder gar kompensieren. Ein möglicher Weg besteht darin, die Qualität der eingesetzten Arbeitskräfte zu verbessern, also vermehrt in (Weiter-)Bildung zu investieren.
Der alternative Weg besteht darin, die sonstigen „Produktionsfaktoren“ – die Faktoren „Kapital“ und den technischen Fortschritt – zu stärken, etwa durch zusätzliches Sach- oder Wissenskapital. Dies wäre gleichbedeutend entweder mit einer stärkeren Kapitalintensivierung der Produktion, also einer höheren Investitionsquote, oder mit einer Stärkung des technischen Fortschritts, die letztlich das Zusammenspiel der Produktionsfaktoren zu verbessert – beide Maßnahmen würden jeweils positiv auf das Produktivitätswachstum einzahlen und somit den Rückgang des Arbeitskräftepotenzials zumindest teilweise kompensieren können.
Um dies zu erreichen, ist eine stärkere Ausrichtung der deutschen Wirtschaftspolitik auf eine Wachstumsorientierung erforderlich. Hier ist vor allem an eine Stärkung der Innovationskraft zu denken, die deshalb eine deutlich höhere politische Priorität erhalten sollte als bisher. Dies gilt gerade auch für strukturschwache Regionen, die auch laut dieser Studie künftig in erheblichem Maße Produktivitäts- und Innovationsbedarfe aufweisen werden. Eine bessere regionale Vernetzung von Unternehmen und Hochschulen (auch im Rahmen einer neuen Clusterpolitik) könnte hier zu einer höheren Innovationsfähigkeit und letztlich zu einem breiten Produktivitätswachstum beitragen.
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