Produktivität braucht mehr Beziehungsgestalter, Dialoganreger und Sinnsucher

Wenn sich Change-Projekt an Change-Projekt reiht, führen Begriffe wie Agilität, Design Thinking und New Work zunehmend zu resigniertem Achselzucken. Auch die Start-Up Begeisterung weicht immer öfter einer Suche nach Halt und Sicherheit. Gleichzeitig steigt neben dem technologischen Veränderungsdruck auch der gesellschaftliche Druck zu einer anderen Form des Wirtschaftens.

Spätestens der pandemiebedingte Wechsel ins Home-Office und der Widerstand einfach ins Büro zurückzukehren zeigt, dass wir einen neuen sozialen und psychologischen Kontrakt zwischen Organisation und Mitarbeitern aushandeln müssen. 

Organisationen als Räume des Zusammenseins

Dafür braucht es kein neues Organisationskonzept, sondern einen anderen Blick auf das Geschehen, auf das Miteinander in Organisationen. Menschen suchen nach wie vor große Teile ihrer sozialen und persönlichen Identität in der Arbeitswelt.

Organisationen sind somit Räume des Zusammenseins mit entsprechender Reibung und Potential – egal ob Konzern, Start-Up oder Familienbetrieb. Die damit verbundene Einsicht, dass affektive Aspekte in Organisationen hochwirksam sind, eröffnet einen anderen Blick auf Strategie, Führung, Veränderungsbereitschaft und das Zusammenwirken dieser Aspekte.

Produktive Veränderung braucht generative Beziehungsarbeit

Wenn wir Organisationen als Räume kollektiven Denkens und Zusammenseins verstehen, beginnt produktive Veränderung in der Beziehung: Zwischen Mitarbeitern sowie zwischen Führungskräften und Mitarbeitern. Zwischen Altem und Neuem. Zwischen Strategie und Mensch. Zwischen Kontext und Organisation. Zwischen Innen und Außen.

Wir bewegen uns in Spannungsfeldern – wirtschaftlich, gesellschaftlich, persönlich. Gerade aus diesen Spannungsfeldern heraus entsteht Kreativität und damit neue Möglichkeiten. Wenn wir lernen, Ambivalenzen auszuhalten, uns offen darüber auszutauschen, ergibt sich die Chance auf eine echte Begegnung, eine andere Sicht und neue Ideen.

Dafür müssen wir wieder lernen, zuzuhören und in eine neugierige Auseinandersetzung zu gehen mit den nicht immer offensichtlichen Kräften, die im Inneren und Äußeren jedes Einzelnen und in der Organisation als Ganzes mit und gegeneinander wirken und interagieren, ohne das eine zu idealisieren und das andere zu entwerten.

Veränderung braucht somit Beziehungsarbeit, damit generative Beziehungen entstehen, die verbinden, eine Haltung der Ermöglichung erzeugen und Neues hervorbringen.

Die Bereitschaft zum Risiko fördern, in Beziehung zu treten

Wir sollten die Bereitschaft zum Risiko fördern, in Beziehung zu treten. Indem wir uns auch eingestehen, dass Veränderung – und Führung – selten ohne Elemente von Zurückweisung und Abwertung möglich ist. Beschädigungen sollten benannt werden dürfen, damit sie reparierbar und betrauerbar werden. Denn aus einer gelungenen, kurativen Erfahrung heraus erwächst Vertrauen, das fundamental wichtig ist für den Schritt ins Ungewisse.

Neben Prozess- und Strukturveränderungen brauchen Organisationen daher mehr reflexive Dialogräume, um zu begreifen, wie die Veränderung erlebt wird, welche alten Vorstellungen erschüttert werden, welche Handlungsmuster gegenwärtig hinterfragt werden und welche neuen Überzeugungen Platz einfordern. 1987 schreibt Oswald Neuberger „Strukturen sind beendete Dialoge“1, sie befreien von wiederholter Konsensfindung.

In der Komplexität der heutigen Organisationswelt funktioniert die Formalisierung immer weniger.

Ein Kernelement generativer Veränderung ist daher der Dialog. Ein Dialog, der über reine Höflichkeit hinaus geht, der keine harte Debatte ist und auch nicht im Reflektieren verharrt. Es braucht einen generativen Dialog, in dem aus dem dialogischen Diskurs etwas Neues entsteht2.

In Zeiten von effizienzoptimierten Kommunikationswegen durch e-Mailverteiler, kurze Stand-ups, schnelle Chatreaktionen und Sprachnachrichten, braucht es in Organisationen die Zeit und die Bereitschaft, diese Form von Dialog wieder zu kultivieren. Statt Mitarbeiter*innen passend zu machen und nach einem „Cultural Fit“ zu suchen, sollte es viel häufiger um Ergänzungen gehen, um „Cultural Adaption“.

© Christina @ wocintechchat – unsplash.com

Große Fragen, die generative Dialogräume öffnen

In Dialogen – wie in allen lebendigen Beziehungen – werden zuallererst Fragen gestellt.

Es beginnt mit der Bereitschaft der Führung, Fragen einzufordern und sich den Antworten zu stellen.

Wirkliche Veränderungsbereitschaft bedeutet, sich immer wieder große Fragen zu stellen. Auch die Frage: Warum bzw. wozu tun wir, was wir tun? Eine Frage, die nachrückende Generationen umso vehementer stellen. Aber auch eine Frage, die Denkräume öffnet, statt diese mit schnellen Entscheidungen zu verschließen.

In der Auseinandersetzung mit einem möglichen Zukunftssinn, mit überholten und gewollten Überzeugungen kann neue Kraft und Bindung entstehen. Denn wer in Organisationen die Frage stellt, wann sein Gegenüber das letzte Mal stolz war auf das, was er da tut und was genau er da getan hat mit welcher Wirkung, der wird zunächst in erstaunte Gesichter gucken, dann in nachdenkliche und dann wird er überraschende Motivationen hören und eine neue Energie erleben.

Das nicht Ausgesprochene besprechbar und wandelbar machen

Generative Dialogräume können starke Übergangsräume bilden, in denen auch das nicht Ausgesprochene besprechbar und damit wandelbar wird, so dass es seine positive Kraft entfalten kann. In diesen Räumen kommen Fantasie und erlebte Realität zusammen. Erst dann bewegt sich das mal mehr und mal weniger bewusste, kollektive Sinnsystem, das die Kultur einer Organisation ausmacht – ihr Denken, Handeln und Fühlen.

Otto Scharmer nennt es „Co-Sensing“, eine Form des gemeinsamen Sehens und Verstehens dessen, was im Gesamtsystem vor sich geht. Es führt weiter zum „Co-Inspiring“, eine besonders hinhörende, verbindende Form der Reflexion, um sich auch mit tieferen Quellen der Inspiration zu verbinden.

Daraus wird schließlich „Co-Creation“ ermöglicht, auch im Sinne eines Ausprobierens zukünftiger Handlungsweisen. Für diese sozialen Techniken sollten Organisationen Infrastrukturen und Orte schaffen.3

Dieser Prozess erfordert starkes Umdenken in Organisationen und ist weniger einfach umsetzbar als ein vorgegebenes Workshopkonzept. Psychodynamisch geschulte Berater eröffnen den Blick auf die Affektchoreografie der Organisationen.

Sie gestalten mit zum Teil assoziativen Methoden wie beispielsweise der sozialen Fotomatrix Räume, in denen die emotionalen Zustände in Wandlungsprozessen und die innere Logik der Gefühle sichtbar, erlebbar und damit wandelbar werden. Wenn das gelingt, ist die Gegenwart ein machtvoller Moment, der einzige Moment, in dem wir etwas ändern können, in dem wir Neues erleben.

Beziehungsgestalter, Dialoganreger und Sinnsucher fördern die Produktivität

Führungskräfte und Berater*innen werden somit Beziehungsgestalter, Dialoganreger und Sinnsucher. Sie schaffen Wirksamkeitserfahrungen und öffnen kreative Denk- und Experimentierräume, indem sie Fragen stellen, auch große Fragen und jedem einzelnen zuhören, auch den Zweiflern.

Sie machen immer wieder den Gesamtzusammenhang auf und schaffen Dialogräume, in dem das Team sich miteinander und mit Spannungsfeldern auseinandersetzt. Sie schrecken nicht vor Emotionen und Ängsten zurück, sondern erkennen sie als Informationen für das Geschehen im großen Ganzen.

Organisationen könnten Räume sein, in denen wir lernen, miteinander in Kontakt zu treten, spielerisch an Aufgaben heranzugehen und gemeinsam alternative Sichtweisen zu entwickeln.

Begegnung und emotionale Resonanz werden der Nährboden für Bindung, Kreativität und Weiterentwicklung – und damit auch für Produktivität.

Den Unternehmenszweck vorantreiben mit einer Haltung der Ermöglichung

So fördern wir die Qualitäten, die uns Menschen einzigartig machen gegenüber Maschinen und künstlerischer Intelligenz und die wir in Zukunft mehr denn je brauchen bzw. wieder erlernen müssen: Zusammenarbeit, Mitgefühl, unabhängiges Denken und Ambition. Wir schaffen gesunde, menschliche Strukturen und Beziehungen der Zusammenarbeit, die kreativ und generativ am Unternehmenszweck arbeiten. Mit einer Haltung der Ermöglichung, die den Schritt ins Ungewisse immer wieder wagt.

Literatur

1Neuberger, Oswald, „Wir, die Firma. Der Kult um die Unternehmenskultur“, 1987,  Psychologie Heute, Beltz

2William Isaacs: Dialog als Kunst gemeinsam zu denken. Die neue Kommunikationskultur in Organisationen, EHP-Organisation, 2002

3Scharmer, Claus Otto: Theorie U – Von der Zukunft her führen. Presencing als soziale Technik. 3., unveränd. Aufl. Heidelberg: Carl-Auer 2013.

Thomas Giernalczyk, Heidi Möller, Entwicklungsraum: Psychodynamische Beratung in Organisationen, 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

Hans-Joachim Gergs, Die Kunsd der kontinuierlichen Selbsterneuerung. Acht Prinzipien für ein neues Change Management, Beltz, 2016

Simon Sinek with David Mead and Peter Docker, Find your Why. A practical Guide for discovering purpose for you and your team, Portfolio/Penguin, 2017

 



Kommentare

  1. / von Ulla Keienburg

    Ich sage einfach: Danke!

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