Mehr Mut bei der Reformierung digitaler Organisationen
Dass sich die Geschäftswelt in Deutschland in eine Welt verwandelt hat, in der vieles flüchtig ist, nichts sicher, vieles komplex und die Dinge mehrdeutig, ist vielen Führungskräften bewusst. Doch was genau heißt es für die praktische Gestaltung zukunftssicherer und digitaler Organisationen?
Wenn Organisationen bei der Digitalisierung versagen
Nicholas Negroponte prognostizierte 1995 das Ende der zentralistischen Organisation (Negroponte 1995). Er war damals bereits der Überzeugung, dass der Einfluss digitaler Technologien zu unumkehrbaren Veränderungen in der Architektur von Organisationsstrukturen führen wird.
Aus heutiger Sicht sind seine Prognosen nahezu prophetisch. Heute wissen wir, dass nicht mehr hierarchische, auf Verlässlichkeit und Stabilität angelegte Organisationsformen die Antwort auf die Digitalisierung sind, sondern fluide, prozessorientierte und anpassungsfähige Organisationen.
Abbildung: Ausgaben für Technologien und Services zur digitalen Transformation weltweit von 2017 bis 2024 (in Billionen US-Dollar); Quelle: Statista 2020
Ein Blick in die Wirtschaftswelt aber verrät, dass 30 Jahre nach dieser gedanklichen Vorarbeit Unternehmen und Institutionen nur vorsichtige Reformen zur Digitalisierung anstoßen.
Während auf der einen Seite immense Summen in die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle, den Aufbau neuer digitaler Geschäftseinheiten, in Company-Builder oder digitale Acceleratoren und ähnliche Vehikel investiert werden, sieht es auf der organisatorischen Seite ganz anders aus.
Dem jährlichen Investitionsvolumen von rund 2,5 Billionen US-Dollar stehen auf der anderen Seite starre und teils überholte Führungs- und Managementsysteme gegenüber, deren Wurzeln bis in die vorindustrielle Zeit zurückreichen.
Organisatorische Altlasten
Die Design-Prinzipien dieser Managementsysteme gründen sich immer noch auf Prinzipien der bürokratischen Organisation nach Weber (Weber 1922). Und dies hat Folgen:
- Durch eine streng hierarchische Arbeitsteilung leidet in vielen Organisationen häufig die Kommunikation zwischen den Hierarchieebenen. Entscheidungen treffen diejenigen, die die Legitimation dazu haben, nicht zwingendermaßen das Wissen über die digitalen Innovationen.
- Kreative Veränderungen im täglichen Handeln sind nicht gewünscht. Eine rasche Reaktion auf digitale Veränderungen ist kaum möglich, da die Arbeitsaufgaben vieler Mitarbeitender in ein Korsett aus Anweisungen, Konzernrichtlinien, Workflows oder Prozess-Diagrammen eingebunden sind.
- Die höchste digitale Fähigkeit wird an der Spitze des Unternehmens vermutet. Über Fragen der Digitalisierung entscheiden nicht diejenigen, die Kontakt mit Wettbewerbern, Technologien oder Kunden haben, sondern oft die Top-Funktionen. Dies steht in Kontrast zum oft geringen Stand in Sachen digitaler Führungskompetenz.
All dies sind organisatorische Altlasten, die eine Organisation an der Digitalisierung hindern.
In der Realität verstecken sich die Hürden oft in Prozessen, Routinen und Praktiken und sind dadurch kaum zu erkennen oder zu verändern.
Nicht selten sind von diesen “Legacy-Strukturen” tausende Mitarbeiter an vielen Standorten eines Unternehmens betroffen.
Digitale „Inflexibilität“ hat Kosteneffekte
So verwundern auch nicht die Ergebnisse einer Studie zur Digitalisierung europäischer Unternehmen, die ein Warnsignal für Entscheider sein sollten: Studien zeigen, dass 70 Prozent der befragten europäischen Unternehmen (n = 375) nicht in der Lage sind, die angestrebte digitale Reife zu entwickeln (IDC 2020).
Es zeigt sich, dass “digitale Nachzügler” es nur selten schaffen, die organisatorische Legacy zu überwinden: Sie scheitern beim Aufbau von Kompetenzen zur Datenanalyse neuer Marktbedingungen, bei der Digitalisierung ihrer Produktionsprozesse oder auch bei der Digitalisierung von Kundenstrategie oder -segmentierung.
Als Hindernis geben 45 Prozent der Unternehmen an, dass die organisatorische Komplexität zu hoch sei. 28 Prozent sehen die fehlende Transparenz bei den Geschäftsprozessen oder auch unzureichendes Engagement der Führungskräfte und den Mangel an Kompetenz als Grund an.
Diese “digitale Inflexibilität” ist aber nicht nur rein qualitativ zu verstehen, sondern hat echte Kosteneffekte.
Durch die organisationale Trägheit scheitern in den Organisationen die Versuche der Umsetzung digitaler Projekte oder Programme.
Im besten Fall werden diese Vorhaben durch die Beteiligten ignoriert; im schlimmsten Fall kommt es zu Boykotten oder Manipulationen. Dies erklärt, warum lediglich 30 Prozent aller digitalen Transformationsinitiativen zum Ziel führen und jährlich weltweit rund 900 Milliarden US-Dollar an Investitionen in digitale Veränderungsvorhaben einfach verpuffen. (Tabrizi et al. 2019).
Wie Organisationen ihre digitale Reife verbessern
Sucht man auf Unternehmensseite nach Gründen für das Scheitern, so wird häufig auf den harten Wettbewerb mit digitalen Mitbewerbern und Online-Plattformen – wie Amazon, Zalando, Google, Apple oder Tesla – verwiesen. Dieses Klischee wird häufig und gern gepflegt. Dies ist aber nur die halbe Wahrheit.
Zwar haben die großen Online-Plattformen heute eine dominante Marktposition erreicht, die durchaus kritisch zu sehen ist. Andererseits bieten sie für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) aber auch enorme Chancen für Wachstum und Erneuerung.
Aktuelle Forschungen der OECD zeigen, dass die Nutzung von Online-Plattformen weitreichende Möglichkeiten bietet, schnell zu digitalisieren sowie Produktivitätssteigerungen zu erreichen oder Betriebskosten zu senken (OECD 2021).
Mit Hilfe der Plattformen erhalten KMUs mit wenig Aufwand Zugriff auf Business Intelligence Dienste, senken Kosten für Informationsasymmetrien zwischen Kunden und Lieferanten oder weiten zügig ihre Marktreichweite aus.
Allein das Augenmerk also auf die Vermeidung der digitalen Disruption durch Technologieplattformen zu richten, führt also zum digitalen Erfolg.
Verständnis von digitaler Reife
Das eigentliche Problem liegt oft beim Verständnis der Entwicklung digitaler Reife. Digitale Reife hat nur wenig mit der Technologisierung einer Organisation zu tun. Die Einführung einer Cloud-basierten Plattform, einer neuen Software oder eines E-Commerce Geschäftsmodells sind nachgelagerte Entscheidungen und sind nicht mit digitaler Reife gleichzusetzen.
Vielmehr erfordert der Aufbau digitaler Reife, dass die gesamte Organisation auf allen Ebenen in der Lage ist, die Chancen und Möglichkeiten der Digitalisierung zu antizipieren. Die Erfahrungen aus zahlreichen Projekten zur Entwicklung digitaler Organisationen zeigt, dass sich dies durch den Aufbau von Organisationskompetenzen in drei Bereichen realisieren lässt.
Abbildung: Modell der Digital Organizational Readiness (Reinhardt, 2020)
Organizational Readiness
Zum einen geht es um die grundlegende Veränderungsbereitschaft der Organisation zur Digitalisierung. Oft haben Unternehmen zwar ein strategisches Digitalisierungsprogramm aufgelegt, s zeigt sich aber schon früh Widerstand in verschiedenen Bereichen des Unternehmens. Diese Widerstände signalisieren, dass es ursächlich an der Bereitschaft zur Veränderung mangelt.
Erst wenn eine Verbindung zwischen den Interessen der Bezugsgruppen geschaffen wurde, kann diese Bereitschaft schrittweise verbessert werden. Hierfür eignet sich beispielsweise die Entwicklung eines gemeinsamen “Purpose” im Sinne eines geteilten Verständnisses, welche Digitalisierungsziele die Organisation verfolgt.
Management Readiness
Zum anderen geht es um die Bereitschaft der Führungspersonen zur Digitalisierung. Ohne digital versierte und motivierte Schlüsselpersonen kann jedes noch so gute Digitalisierungskonzept scheitern.
Zur Verbesserung der Management Readiness können Schlüsselperson benannt werden, die als Digital-Botschafter ein solches Programm begleiten und möglichst viele der Zieldissonanzen ausgleichen. Dieses “Missionieren” führt über den Schritt des Vertrauensaufbaus dazu, Betroffene zu Beteiligten zu machen. Auch sind Multiplikatoren aus dem mittleren Management wichtig.
Operational Readiness
Nicht zuletzt geht es aber auch um die operative Bereitschaft der Organisation zur Veränderung, insbesondere der Bereitstellung ausreichender Ressourcen zur Realisierung eines Digitalisierungs-Programms. Es kann frustrierend sein, wenn kein Budget vorhanden ist, um notwendige Investitionen in neue Personen oder Systeme zu realisieren. Nur so können kompetente Experten engagiert werden, sich zu beteiligen.
Die digitale Veränderung und Transformation ist also keineswegs statisch, sondern abhängig von Einflussfaktoren der organisationalen Bereitschaft zur Veränderung.
Ein einfacher Weg, den Zustand zu bewerten, ist es, die kritischen Aspekte der Veränderungsbereitschaft auf allen drei Ebenen (organisationale Bereitschaft, Bereitschaft des Managements, operative Bereitschaft) zu identifizieren und den Status Quo im Team oder einer Gruppe zu beurteilen.
Nach der Zustandsbewertung kann damit begonnen werden, Lücken zu identifizieren, Handlungsfelder zu bestimmen und Planungen zur Veränderung zu entwickeln.
Ziel könnte es sein, im Unternehmen das Bewusstsein für den eigenen Beitrag an der digitalen Veränderung eines Projektes, einer Abteilung, eines Teams, einer Division usw. zu schärfen und die Veränderungen dort konkret anzustoßen.
Weitere Einblicke finden Sie in: Reinhardt, K. (2020): Digitale Transformation der Organisation: Grundlagen, Praktiken und Praxisbeispiele der digitalen Unternehmensentwicklung, Springer Nature, Berlin
Literatur
Negroponte, N. (1995): The Digital Revolution In: The Futurist, 1995, S. 67–68
Weber, M. (1922): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen
Statista 2020, Spending on digital transformation technologies and services worldwide from 2017 to 2024, abgerufen am 25.6.2021.
IDC (2020): European Digital Transformation Quarterly Update: 4Q20, April 2021, idc.com
Tabrizi, Behnam u. a. 2019. Digital Transformation Is Not About Technology. Harvard Business Review.
OECD (2021), The Digital Transformation of SMEs, OECD Studies on SMEs and Entrepreneurship, OECD Publishing, Paris
Reinhardt, K. (2020): Digitale Transformation der Organisation: Grundlagen, Praktiken und Praxisbeispiele der digitalen Unternehmensentwicklung, Springer Nature, Berlin
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