Megatrend-Report: „In der Zukunft kritische Abhängigkeiten vermeiden“
Spätestens durch den Angriff Russlands auf die Ukraine sowie die anschließende Energiekrise ist die Frage nach der heimischen Standort-Attraktivität zurück auf der Tagesordnung. Welche Belastungsfaktoren schwächen den Industrie-Standort Deutschland und wie verändern sie sich im Zusammenhang mit dem voranschreitenden Klimawandel, dem geopolitischen Systemwettbewerb oder dem demografischen Wandel?
Der neue Megatrend-Report der Bertelsmann Stiftung zeichnet ein aktuelles Lagebild und diskutiert verschiedene wirtschaftspolitische Ansätze für eine erfolgreiche Transformation der deutschen Industrie-Nation in Richtung einer Nachhaltigen Sozialen Marktwirtschaft. Darin kommt auch Dr. Katrin Kamin, stellvertretende Leiterin des Forschungszentrums Trade Policy, zu Wort.
Der jahrzehntelange Bezug russischen Gases hat Deutschland schmerzlich die Gefahr von kritischen Abhängigkeiten aufgezeigt. Auf welche anderen Abhängigkeiten müssen wir zukünftig im Zuge des grünen Standortwettbewerbs besonders achtgeben?
Dr. Katrin Kamin: Deutschland ist aufgrund seiner exportorientierten Wirtschaft und Fokussierung auf den Verarbeitenden Sektor in verschiedenen Bereichen abhängig, insbesondere in Bezug auf Energie und Ressourcen, die für die Transformation der Wirtschaft entscheidend sind. Historisch sicherte Deutschland den Zugang zu Rohstoffen durch Käufe auf dem Weltmarkt anstatt durch eigene Direktinvestitionen im Rohstoffsektor. Dies muss angesichts aktueller geopolitischer Entwicklungen überdacht werden.
In Bezug auf kritische Rohstoffe für erneuerbare Energien wie Windkraft, Solarenergie und Batterien besteht eine hohe Abhängigkeit von bestimmten Ländern, insbesondere bei Platingruppenmetallen und Bor. Die Potenziale für Diversifizierung der Lieferländer und Substitution dieser Rohstoffe sind hier äußerst begrenzt.
Bei anderen kritischen Rohstoffen wie Seltene Erden, Graphit, Gallium, Germanium, Indium, Kobalt, Lithium, Magnesium, Niob, Strontium und Titan besteht zwar eine hohe Importabhängigkeit von wenigen Ländern, aber eine Diversifizierung der Importquellen und Substitution durch andere Materialien ist mittel- und langfristig möglich, da eine breitere Palette an Ländern über Vorkommen verfügt. Es wird erwartet, dass die Nachfrage nach diesen Rohstoffen steigt, was die Möglichkeit einer Diversifizierung der Importe erleichtern könnte. Aufgrund von geopolitischen Spannungen und schwankenden Rohstoffpreisen zeigen Europäische Unternehmen zunehmendes Interesse an Importdiversifizierung.
Ebenso wie bei Rohstoffen lag im Bereich der Halbleiter und Mikrochips der Fokus bisher auf Käufen statt auf Direktinvestitionen. Aufgrund der steigenden Nachfrage, vor allem durch die Digitalisierung und den Strukturwandel im Verarbeitenden Sektor, sowie Unterbrechungen in den Lieferketten, wird nun verstärkt auf europäische Anbieter gesetzt, um die Abhängigkeit von wenigen asiatischen und amerikanischen Anbietern zu verringern.
Darüber hinaus hat Deutschland in Schwellenländern stark investiert und ist daher von politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in diesen Ländern abhängig. Es ist wichtig, den Erfolg auf diesen Märkten zu verteidigen, jedoch besteht die Herausforderung darin, die Kontrolle über technisches Wissen zu behalten.
Im Umgang mit Abhängigkeiten von China wird in der EU häufig von einer De-Risking Strategie gesprochen. Was beinhaltet ein solcher Ansatz und als wie realistisch ist er einzuschätzen?
Kamin: Ein De-Risking-Ansatz im Umgang mit Abhängigkeiten von China zielt darauf ab, die Risiken und Abhängigkeiten, die mit starken Verflechtungen mit der chinesischen Wirtschaft einhergehen, zu reduzieren oder zu minimieren. Im Gegensatz zum Decoupling, bei dem es darum geht, die wirtschaftlichen Verbindungen zu China stark zu reduzieren oder gar zu trennen, möchte der De-Risking-Ansatz die Risiken managen und gleichzeitig bestehende Verbindungen aufrechterhalten.
Ein wesentlicher Aspekt des De-Risking ist die Diversifizierung von Lieferketten hin zu anderen Lieferanten außerhalb Chinas. Dies bedeutet, dass Unternehmen und Länder alternative Produktionsstandorte und Zulieferer suchen, um ihre Abhängigkeit von einem einzigen Markt zu verringern. Dies kann die Sicherstellung von kritischen Komponenten und Materialien erleichtern, selbst wenn es in einem bestimmten Markt zu Störungen kommt.
Die fortschreitende Autokratisierung weltweit kann durch das häufig erratische Verhalten autokratischer Staatsoberhäupter wirtschaftliche Beziehungen beeinflussen und die Notwendigkeit einer Strategie zur Risikominderung verstärken. Es ist daher wichtig, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten politische und wirtschaftliche Risiken genau bewerten und entsprechende Maßnahmen ergreifen.
Da viele kritische Rohstoffe in wenigen Ländern, oft mit autokratischen Regierungen, konzentriert sind, besteht hier ein besonders hohes Risiko für Lieferengpässe und Preisinstabilität. Ein De-Risking-Ansatz erfordert daher Maßnahmen wie verstärktes Recycling, Exploration neuer Lagerstätten und die Entwicklung von Substitutionsmöglichkeiten.
Die Realisierbarkeit eines De-Risking-Ansatzes hängt von verschiedenen Faktoren ab. Die Komplexität der globalen Wirtschaft und die starken Verflechtungen machen es schwierig, Abhängigkeiten von einem bestimmten Markt vollständig zu eliminieren. Technologische Abhängigkeiten, insbesondere bei Schlüsseltechnologien wie Halbleitern, können die Umsetzung erschweren.
Internationale Kooperation und enge Zusammenarbeit mit Handelspartnern sind entscheidend, um alternative Lieferketten und Märkte zu erschließen. Zudem können Interessenkonflikte und Widerstand von Unternehmen und Interessengruppen auftreten, die von den bestehenden Handelsbeziehungen profitieren.
Insgesamt ist ein De-Risking-Ansatz eine sinnvolle Strategie, um die Abhängigkeit von China zu reduzieren und Risiken zu managen. Jedoch erfordert dies eine langfristige und koordinierte Anstrengung auf internationaler Ebene, um effektiv umgesetzt zu werden.
Welche praktischen Maßnahmen können Deutschland und die EU umsetzen, um zukünftige kritische Abhängigkeiten zu reduzieren oder zu vermeiden?
Kamin: Verschiedene praktische Maßnahmen sind notwendig, um zukünftige kritische Abhängigkeiten zu vermeiden. Zunächst ist es wichtig, die Informationsbasis über kritische Rohstoffe und Energieträger zu verbessern. Dies beinhaltet ein Monitoring und die Einrichtung von nationalen Expertenkommissionen, um wichtige Informationen zu sammeln und zu koordinieren.
Des Weiteren sollte die Rohstoffdiplomatie intensiviert werden, indem verlässliche Rahmenbedingungen für die Rohstoffversorgung durch Handels-, Investitions- und Rohstoffabkommen mit potenziellen Lieferländern geschaffen werden.
Forschungsförderung spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle, um die Effizienz von Materialien zu steigern und kritische Rohstoffe zu substituieren. Eine ausreichende Lagerhaltung von kritischen Energieträgern und Rohstoffen kann kurzfristig eine wirksame Versicherung gegen Lieferengpässe bieten, erfordert jedoch klare staatliche Vorgaben. Differenzverträge zur Diversifizierung der Rohstofflieferanten könnten ebenfalls in Betracht gezogen werden.
Darüber hinaus sollten gesetzliche Regelungen im Hinblick auf Hemmnisse für die Importdiversifizierung überprüft werden, vor allem im Kontext des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes. Eine aktive Bindung von Lieferanten durch langfristige Lieferverträge, insbesondere für besonders kritische Rohstoffe, könnte die Versorgungssicherheit stärken. Zudem könnten bilaterale Rohstoffpartnerschaften zur Entwicklungszusammenarbeit mit Fokus auf die Erweiterung der Produktionskapazitäten in den Förderländern eingegangen werden.
Wichtig ist eine schrittweise Umsetzung der genannten Maßnahmen. Zunächst sollten Anreize für Unternehmen geschaffen und die Entwicklungen durch regelmäßiges Monitoring begleitet werden. Erst bei Bedarf sollten weitergehende staatliche Maßnahmen ergriffen werden. Eine ausgewogene Betrachtung von Kosten, Nutzen und Risiken der heimischen Förderung von Rohstoffen ist dabei ebenso wichtig wie die Berücksichtigung der Resilienz des Dekarbonisierungsprozesses. Eine vermehrte inländische Produktion von Technologien zur Dekarbonisierung allein reicht nicht aus, wenn die dafür benötigten Rohstoffe weiterhin importiert werden müssen.
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