Die Produktivitätslücke Ostdeutschlands ist längst geschlossen

Dr. Heike BelitzDIW Berlin

Dr. Alexander SchierschDeutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)

Prof. Dr. Martin GornigDeutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)

Der Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer liegen dreißig Jahre zurück. Dies wird zum Anlass genommen, in gesellschaftspolitischen Bereichen Bilanz zu ziehen. In der Diskussion um den Angleichungsprozess zwischen Ost- und Westdeutschland spielen ökonomische Faktoren eine große Rolle. Im Fokus stehen zumeist die wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Menschen. Viele Studien beziehen sich daher insbesondere auf das Pro-Kopf-Einkommen (Braml und Felbermayr 2018) oder die verfügbaren Einkommen (Fuest und Immel 2019).

Der vorliegende Beitrag stellt hingegen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen in den Vordergrund. Unberücksichtigt bleiben also direkte staatliche Transfer- und Ausgleichszahlungen. Der zentrale Indikator für die ökonomische Leistungsfähigkeit ist die Produktivität.

Ausgangspunkt der Untersuchungen ist die Arbeitsproduktivität – das Verhältnis von Wertschöpfung zum Arbeitseinsatz. Darüber hinaus werden in der vorliegenden Studie regionale Unterschiede in der Totalen Faktorproduktivität (TFP) analysiert. Sie misst die Produktivität des gesamten Faktoreinsatzes (von Arbeit und Kapital).

Räumliche Entwicklungsprozesse verlaufen zunehmend heterogen. Ländliche Regionen drohen vielfach abgehängt zu werden, während städtische Räume oftmals als Innovationszentren gelten. Wenn also die Unterschiede in der ökonomischen Leistungsfähigkeit zwischen Ost- und Westdeutschland bewertet werden sollen, sind dabei vor allem siedlungsstrukturelle Unterschiede zu berücksichtigen (Hüther et al. 2019). Entsprechend werden im Folgenden auch die räumlichen Differenzierungen innerhalb Ost- und Westdeutschlands betrachtet. Die Zuordnung zu städtischen, verstädterten und ländlichen Regionen erfolgt dabei auf der Basis der Systematisierungen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) nach Raumordnungsregionen.

Zunehmende regionale Heterogenität bei der Arbeitsproduktivität

Wie u.a. Gropp und Heimplod (2019) zeigen, kam es unmittelbar nach der Vereinigung in Ostdeutschland zu einem starken Produktivitätssprung. Etwa ab der Jahrtausendwende setzte sich dann der Anpassungsprozess deutlich langsamer fort. Dies gilt gerade auch für die Industrie, die sowohl im Osten als auch im Westen ein Motor des Wachstums und der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft ist. Ein genauerer Blick auf die regionale Produktivitätsentwicklung in der Industrie offenbart, dass einige Regionen in der Lage waren, sich deutlich von den anderen abzusetzen (Abbildung 1). Im Jahre 2017 gab es bereits acht solcher Regionen mit außergewöhnlich hoher Arbeitsproduktivität, im Jahr 2000 war es lediglich eine. Sie können in Anlehnung an die aktuelle Diskussion um die Polarisierung der Firmenproduktivität als „Superstar-Regionen“ bezeichnet werden. Alle diese besonders produktiven Regionen befinden sich in Westdeutschland und sind zentrale Standorte industrieller Großunternehmen. Sechs „Superstar-Regionen“ sind großstädtische Regionen, an der Spitze stehen mit den Automobilstandorten Ingolstadt und Braunschweig allerdings auch zwei Raumordnungsregionen, die zu den verstädterten Regionen zählen.

Starke Stadt-Land-Unterschiede bei der Totalen Faktorproduktivität

Unterschiede im technologischen Effizienzniveau von Arbeit und Kapital drücken sich in der Totalen Faktorproduktivität (TFP) aus. Die TFP ist keine unmittelbar beobachtbare Größe, sondern kann nur mithilfe ökonometrischer Verfahren geschätzt werden. In der vorliegenden Untersuchung werden hierfür die Unternehmensdaten der amtlichen Statistik verwendet. Die Daten erlauben es, die durchschnittliche Produktivität der Industrieunternehmen für städtische, verstädterte und ländliche Räumen Ost- und Westdeutschlands zu ermitteln.

Die Entwicklung der TFP in der Industrie unterscheidet sich in Ost und West nur wenig von der Entwicklung der Arbeitsproduktivität (Abbildung 2). Bis ins Jahr 2008 hinein ist die TFP sowohl im Osten als auch im Westen deutlich gestiegen. Dabei konnten ostdeutsche Unternehmen gegenüber dem Westen aufholen und erreichten im Jahr 2008 sie etwa 79 Prozent des westdeutschen Niveaus. Seitdem stagniert der Aufholprozess jedoch.

Zu berücksichtigen ist jedoch, dass auf die Produktivität von Unternehmen unter anderem durch sogenannte Agglomerationseffekte beeinflusst werden. Dies sind in der Regel Vorteile, die sich aus der räumlichen Ballung wirtschaftlicher Aktivität ergeben. Die empirische Forschung zeigt auch für Deutschland, dass derartige Agglomerationseffekte die TFP positiv beeinflussen (Gornig und Schiersch 2019).

Eine regional differenzierende Auswertung zeigt, dass ein zentraler Grund für die noch immer deutlichen Produktivitätsdifferenzen die siedlungsstrukturellen Unterschiede zwischen beiden Landesteilen sind  (Abbildung 3). Vergleicht man gleichartige Regionen in West und Ost, schmilzt die Produktivitätslücke auf ein Minimum. Sowohl in ostdeutschen Großstädten als auch in ländlichen Regionen setzen Industrieunternehmen Arbeit und Kapital ähnlich effizient ein wie ihre Konkurrenten in vergleichbaren Westregionen. Statistisch signifikante Unterschiede lassen sich zwischen den Unternehmen in diesen Siedlungsstrukturtypen nicht mehr ausmachen. Lediglich bei verstädterten Regionen liegt das ostdeutsche Produktivitätsniveau immer noch deutlich zurück. 2014 betrug der Rückstand rund 28 Prozent.

Industrie- und Infrastrukturpolitik gefordert

In Anbetracht dieser Erkenntnisse ergeben sich zwei konkrete Handlungsfelder zur Unterstützung der Produktivitätsentwicklung. Ein Ansatzpunkt ist die Förderung der industriellen Entwicklung insbesondere in verstädterten Regionen Ostdeutschlands. Gefragt ist hier ein industriepolitischer Mix aus Innovations-, Investitions- und Gründungsförderung. Insbesondere in den verstädterten Regionen sollten die industriellen Potentiale besser gebündelt werden, um mögliche Lokalisationsvorteile zu nutzen. Strategien der dezentralen Konzentration von Forschung und Infrastruktur gepaart mit Clusterbildungen scheinen hier angebracht.

An der grundlegenden Tatsache, dass es weniger große Städte und mehr ländliche Regionen in Ostdeutschland gibt, wird man nichts ändern können. 70 Jahre relativer Bevölkerungsverlust gegenüber Westdeutschland sind nicht einfach umkehrbar. Auch scheint es wenig erfolgversprechend, wenn Deutschland im internationalen Wettbewerb auf die Produktivitätsvorteile durch die räumliche Ballung wirtschaftlicher Aktivitäten verzichtet. Vielmehr gilt es, deutschlandweit dauerhaft einen besseren Ausgleich zwischen Stadt und Land zu organisieren und so die Entwicklungschancen des ländlichen Raumes zu verbessern. Dies wiederum schafft Potential, auch die Produktivität Ostdeutschlands insgesamt näher an den Westen heranzuführen.

Angesichts des verschärften Stadt-Land-Gegensatzes kann jedoch der traditionelle Finanzausgleich zwischen den Gebietskörperschaften allein die Ausgleichsaufgabe nicht schultern. Gefordert ist hier im Besonderen der Bund, um durch eine nachhaltige Infrastrukturoffensive die Attraktivität und Wachstumschancen des ländlichen Raumes zu stärken. Dabei geht es weniger darum, noch den letzten Feldweg zu asphaltieren, wie es in der Vergangenheit zu oft geschehen ist. Vielmehr muss vor allem eine moderne Kommunikationsinfrastruktur aufgebaut werden. Eine Industrie, die im digitalen Zeitalter wettbewerbsfähig ist, braucht eine leistungsfähige Breitbandinfrastruktur. Andernfalls werden Unternehmen nicht nur die Neuansiedlung im ländlichen Raum ausschließen. Auch bestehende Unternehmen sind benachteiligt und wandern irgendwann ab.



Kommentar verfassen