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„Das stagnierende Produktivitätswachstum könnte ein Treiber für viele Ungleichheitsdynamiken sein“

Armando García SchmidtBertelsmann Stiftung

Dr. Torben StühmeierMonopolkommission

Dr. Marcus WortmannBertelsmann Stiftung

Seit rund zwei Jahren beschäftigt sich die Bertelsmann Stiftung im Projekt „Produktivität für Inklusives Wachstum“ mit der Frage, wieso die Produktivität in entwickelten Industriestaaten wie Deutschland kaum mehr wächst und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Wo steht das Projekt zurzeit? Wieso ist es so wichtig, sich mit den Themen Produktivität und inklusives Wachstum zu beschäftigen? Und: Wieso sollte das Thema Produktivität in Deutschland in Zukunft neu gedacht werden? Fragen wie diese beantworten Armando García Schmidt, Dr. Torben Stühmeier und Dr. Marcus Wortmann im Interview auf unserem Blog.

Ben Schröder: Herr García Schmidt, seit rund zwei Jahren beschäftigt sich die Bertelsmann Stiftung im Projekt „Produktivität für Inklusives Wachstum“ mit der Frage, wieso die Produktivität in entwickelten Industriestaaten wie Deutschland kaum mehr wächst und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Wie ist die Idee zum Projekt damals entstanden?
Armando García Schmidt: Das Projekt ist aus dem Vorgängerprojekt „Inklusives Wachstum für Deutschland“ hervorgegangen. In diesem hatten wir uns bereits mit Wachstums- und Verteilungsfragen und Ungleichheitsdynamiken beschäftigt. Dabei sind wir immer wieder auf die Frage gestoßen, wie es sein kann, dass in einem Land wie Deutschland – das seit vielen Jahren hohe Wachstumszahlen aufweist – die Ungleichheit zunimmt oder zumindest auf einem gewissen Niveau stagniert. Wir haben dazu geforscht und mit vielen Expert:innen gesprochen. Letztlich sind wir zu der Überzeugung gekommen, dass das in Deutschland seit vielen Jahren stagnierende Produktivitätswachstum ein Treiber für viele Ungleichheitsdynamiken sein könnte. Wir haben in den vergangenen zweieinhalb Jahren geschaut, ob sich diese Hypothese durch Studien erhärten lässt.

Wieso ist es Ihrer Einschätzung nach so wichtig, sich mit den Themen Produktivität und inklusives Wachstum zu beschäftigen?
Armando García Schmidt: Inklusive Produktivität bedeutet für uns, dass auf der einen Seite möglichst viele Unternehmen – egal ob groß oder klein und egal, wo sie angesiedelt sind – die Impulse, die vor allem durch die Digitalisierung kommen, aufgreifen können und in Produktivitätsfortschritte übersetzen können und dass dann auf der anderen Seite möglichst viele Menschen von den Wohlstandszuwächsen, die sich daraus ergeben, profitieren. Zurzeit ist das in Deutschland nicht der Fall. Wir beobachten wachsende Divergenzen in der Produktivitätsentwicklung zwischen Unternehmen, Branchen und ganzen Regionen. Und dies übersetzt sich in Einkommensdivergenzen und zunehmende regionale Disparitäten. Das birgt unserer Meinung nach die Gefahr einer Wirtschaft der zwei Geschwindigkeiten: Große, hochproduktive Unternehmen auf der einen Seite, die ihren Mitarbeiter:innen hohe Gehälter zahlen können und kleine, mittelständische Unternehmen auf der anderen Seite, die deutlich weniger produktiv arbeiten und damit irgendwann den Anschluss verlieren. Ein solche Wirtschaft der zwei Geschwindigkeiten sollte unbedingt vermieden werden.

Dadurch könnten unserer Einschätzung nach gleich zwei positive Effekte erreicht werden: Einerseits könnte eine breitere Teilhabe die Produktivität im Aggregat erhöhen, was schon alleine notwendig ist, um die Folgen des Einbruchs des Erwerbspersonenpotenzials durch den demographischen Wandel abzufedern. Andererseits, wenn kleine und mittlere Unternehmen – vor allem in ländlichen Regionen – produktiver sind, könnten damit auch bestimmte Ungleichheitsdynamiken angepackt werden.

Produktivität war in der Vergangenheit ein Garant für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen. Welche ökonomischen Folgen hätte es, wenn die Produktivität weiterhin stagniert?
Dr. Torben Stühmeier: Herr García Schmidt hatte es gerade bereits angedeutet: Wir beobachten, dass die Produktivität in Deutschland zunehmend ungleich verteilt ist. Große Unternehmen sind  in aller Regel weitaus produktiver als kleine und mittelständische Unternehmen. Gleichzeitig ist das Gros der Arbeitnehmer:innen bei Mittelständlern beschäftigt. Wenn die den Anschluss verlieren und irgendwann nicht mehr wettbewerbsfähig sind, hat das direkte Konsequenzen für Millionen von Menschen in Deutschland. Hinzu kommt, dass bestimmte Regionen in Deutschland stark von mittelständischen Unternehmen abhängen. Wenn diese Unternehmen ins Hintertreffen geraten, geraten ganze Regionen ins Hintertreffen, was regionale Ungleichheit befeuert.

Dr. Marcus Wortmann: Hinsichtlich der internationalen Wettbewerbsfähigkeit kann man noch ergänzen: Ein breites Produktivitätswachstum ist wichtig, damit deutsche Unternehmen auch an den Weltmärkten preislich wettbewerbsfähig bleiben. Ist diese Wettbewerbsfähigkeit nicht gegeben, entsteht ein Kostendruck auf den Inputfaktor Arbeit. Das heißt: Um preislich wettbewerbsfähig zu sein, müssten die betreffenden Unternehmen die Arbeitskosten senken, zum Beispiel durch geringere Löhne. Das hätte dann wiederum Wohlfahrtseinbußen und mögliche Einkommensungleichheiten zur Folge. Durch technologischen Fortschritt und eine entsprechende Diffusion könnte ein solches Szenario vermieden werden.

Wie gehen Sie im Projekt methodisch vor, um Ursachen und Folgen der schwächelnden Produktivität deutscher Unternehmen zu untersuchen?
Dr. Marcus Wortmann: Da sind wir vielfältig aufgestellt. Die wichtigste Säule ist natürlich der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn über die Produktivitätsentwicklung in Deutschland und im internationalen Vergleich, den wir in Zusammenarbeit mit verschiedenen Forschungsinstituten realisieren. Zumeist in Form von Studien zu einzelnen Fragestellungen, aber auch durch kürzere Policy Briefs, in denen wir aus den Projekterkenntnissen abgeleitete politische Standpunkte ausdrücken. Unsere Aufgabe als Stiftung ist es dann, diesen Fundus an Erkenntnissen und Wissen für die Öffentlichkeit und Fachwelt zugänglich zu machen und politische Handlungsempfehlungen abzuleiten. Das tun wir zum Beispiel über diverse Veranstaltungsformate wie Podiumsdiskussionen und Workshops und auch diesen Blog.

Sie sprechen wissenschaftliche Studien als eine der Säulen des Projekts an. Welche Studien sind im Rahmen des Projekts bisher erschienen?
Armando García Schmidt: Im Bereich der wissenschaftlichen Studien haben wir uns auf vier Themenkomplexe konzentriert, die unserer Meinung nach Treiber der schwächelnden Produktivitätsentwicklung in Deutschland sind. Erstens: Wettbewerb ist ein wichtiger Treiber für Innovationen und Produktivität. Das haben wir in unserer Studie „Price Markups, Innovation, and Productivity: Evidence for Germany“ gezeigt.

Das Erfolgsmodell der deutschen Wirtschaft beruht auf Wettbewerb. Mehr noch: Ein funktionierender Wettbewerb hat auch darüber hinaus gehende makroökonomische und verteilungspolitische Effekte. Internationale Studien zeigen etwa, dass die Lohnquote – also der Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen – in stärker konzentrierten Märkten zurückgeht. Das gilt auch für Deutschland, wie wir in unserer Studie „Unternehmenskonzentration und Lohnquote in Deutschland“ zeigen.

Zweitens nimmt die Diffusionsgeschwindigkeit neuer Technologien ab. Große und digitalisierte Unternehmen heben sich immer mehr von kleinen und mittleren Firmen ab, die technologische Errungenschaften schleppender adaptieren und weniger investieren. Unter anderem nachzulesen in unserer Studie „Produktivität von kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland“.

Diese Entwicklung beobachten wir auch regional: Wenige große Metropolen vereinen einen großen Anteil der Patentanmeldungen auf sich, mit weitem Abstand zum Rest. Dieser Trend hat sich in den letzten 20 Jahren auch angesichts fortschreitender Digitalisierung noch verstärkt, nachzulesen in der Studie „On the Concentration of Innovation in Top Cities in the Digital Age die wir gemeinsam mit Kolleg:innen aus der OECD geschrieben haben.

Und viertens: Seit Jahren werden in Deutschland im internationalen Vergleich sehr wenige Unternehmen gegründet. Unternehmensgründungen beeinflussen auch die Produktivität etablierter Unternehmen, da sie Wettbewerbsdruck auslösen und Innovationsanreize setzen. In der Studie „Migrantenunternehmen in Deutschland“ haben wir untersucht, welchen Beitrag Menschen mit Migrationshintergrund zum Gründungsgeschehen in Deutschland leisten.

Welche Studien sind noch geplant und womit werden sie sich thematisch beschäftigen?
Dr. Torben Stühmeier: Für die Restzeit des Projekts sind noch zwei weitere Publikationen geplant. Die erste Studie – „Lohneinkommensentwicklungen 2025“ – wird Anfang Dezember erscheinen. In dieser wagen wir eine Prognose, wie sich die Löhne auf Basis der Produktivitätsentwicklung in Deutschland bis zum Jahr 2025 in verschiedenen Wirtschaftssektoren entwickeln könnten. Vielleicht so viel vorab: Wir zeigen, dass sich Ungleichheitsdynamiken weiter verschärfen dürften. Die zweite Studie beschäftigt sich mit der Gründungsdynamik in Deutschland. Ökonomisch betrachtet sollten Gründungen einen positiven Effekt auf die Produktivität und Innovationstätigkeit von Unternehmen haben, da neue, innovative Konkurrenten den Wettbewerb beleben.  Das Gründungsgeschehen in Deutschland verharrt allerdings seit Jahren auf einem niedrigen Niveau. Wir fragen uns deshalb, ob dieser Mechanismus in der deutschen Wirtschaft noch greift. Die Studie wird vermutlich im Frühjahr kommenden Jahres erscheinen.

Armando García Schmidt: Zusätzlich werden wir am Ende des Projekts natürlich auch noch eine Schlussbetrachtung veröffentlichen, die die Ergebnisse der dann vergangenen drei Jahre zusammenfasst. Diese „Agenda Produktivität und Teilhabe“ wird vermutlich ebenfalls im Frühjahr erscheinen.

Wie zuvor thematisiert, ist ein Ziel, aus den Projekterkenntnissen politische Handlungsempfehlungen abzuleiten. Welche politischen Handlungsfelder haben sich bisher als besonders akut herausgestellt?
Marcus Wortmann: Da geht es sicherlich in erster Linie um eine neue Investitions- und Innovationsoffensive, aber auch um ein Update der Wettbewerbsregeln. Es wäre momentan allerdings für uns noch zu früh, hier einzelne Maßnahmen zu benennen. In den vergangenen zweieinhalb Jahren lag unser Fokus auf der Generierung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Mithilfe von Studien wollten wir ein Verständnis dafür bekommen, welche Faktoren die Produktivität in Deutschland beeinflussen und welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen das Produktivitätswachstum stimulieren könnten. Wir sind momentan dabei, diese Erkenntnisse zusammenzutragen und in ein Gesamtwerk, eine „Agenda Produktivität und Teilhabe“ in Deutschland, einzubetten.

Welchen Rolle spielt das Coronavirus für die schwächelnde Produktivitätsentwicklung in Deutschland?
Dr. Torben Stühmeier: Das Coronavirus könnte sich durchaus als eine Art Brandbeschleuniger für die von uns identifizierten Treiber der schwachen Produktivitätsentwicklung in Deutschland herausstellen. Die Folgen der Pandemie beschleunigen Entwicklungen, die wir schon vorher beobachten haben – zum Beispiel Konzentrationsprozesse. Amazon hatte schon vor dem Coronavirus eine sehr starke Marktposition, die sich nun weiter verfestigt hat. Auch die Kluft zwischen großen und kleinen Unternehmen könnte sich vergrößern. Große Konzerne verfügen in der Regel über ausreichend Liquidität und können sich im Notfall an den Kapitalmärkten leicht weitere finanzielle Mittel besorgen. Für kleine und mittlere Unternehmen gilt das nicht, was – je nachdem, wie lange die Pandemie andauert – durchaus existenzbedrohend für viele dieser Firmen sein könnte.

Muss das Produktivitätsthema in Deutschland in Zukunft Ihrer Einschätzung nach neu gedacht werden?
Dr. Marcus Wortmann: Ja, das würde ich schon sagen. Im Mittelpunkt der Produktivitätsbetrachtung stand häufig die Entwicklung der Arbeitsproduktivität. Ein großes Ziel der Wirtschaftspolitik war und ist es, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Dabei sollte in Zukunft viel stärker bedacht werden, dass in einer nachhaltigen Wirtschaft neben dem Faktor Arbeit auch andere Inputs an Bedeutung gewinnen – zum Beispiel die Faktoren Rohstoffe und Energie. Das Verhältnis von Input und Output muss sich hier substanziell verbessern, um das Wachstum vom Ressourceneinsatz zu entkoppeln. Dazu bedarf es eines veränderten Wachstums- und Produktivitätsmodells sowie eines entsprechenden Mindsets in den Wirtschaftswissenschaften und der Politik.

Hinweis: Am 15. Dezember 2020 findet die nächste Veranstaltung des Projekts „Produktivität für Inklusives Wachstum“ statt: Teilnehmer:innen der Online-Konferenz WIRtschaften 2040 – „Wachstum, Wohlstand und Teilhabe nach Corona“ sind unter anderen Sandra Detzer (Bündnis 90/Die Grünen), Michael Hüther (IW Köln) und Sebastian Dullien (IMK). Anmelden können Sie sich hier.



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