Das nachlassende Produktivitätswachstum als Gefahr für unseren Wohlstand?

Dr. Thorsten LangIW Consult

Als Max Mustermann im Jahr 1970 anfing, in der Industrie zu arbeiten, musste er jährlich noch 1.900 Stunden im Betrieb sein. Die Arbeitnehmer verdienten durchschnittlich 4,45 Euro je Arbeitsstunde. Kurz vor dem Ruhestand im Jahr 2017 musste Max Mustermann nur noch 1.440 Stunden in den Betrieb und verdiente 39,11 Euro in der Stunde, das 8,8-Fache von 1970 (Statistisches Bundesamt, 2018).

Mehr bekommen und weniger arbeiten – wer wünscht sich das nicht? All das wäre ohne eine Steigerung der Arbeitsproduktivität nicht möglich gewesen. Das Produktivitätswachstum gilt als Schlüssel zu mehr Wohlstand (Krugman, 1994). Zwar führt auch der Einsatz von mehr Arbeitskraft oder Kapital zu mehr Wachstum. Aber erst durch eine steigende Produktivität kann mit den vorhandenen Ressourcen mehr erreicht werden. Im Jahr 1970 erwirtschaftete jeder Erwerbstätige im Produzierenden Gewerbe durchschnittlich 13.000 Euro, 2017 waren es durchschnittlich 92.400 Euro, eine Steigerung um das 7‑Fache (Statistisches Bundesamt, 2018).

Der Produktivitätszuwachs hat starken Einfluss auf das nominale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (BIP pro Kopf), einem klassischen Wohlfahrtsmaß. Im Jahr 1970 lag das BIP pro Kopf noch bei 5.693 Euro. Bis zum Jahr 1990 stieg das BIP pro Kopf auf 20.658 Euro und bis zum Jahr 2017 auf 39.454 Euro. Damit erreichte das BIP pro Kopf 2017 fast das 7-Fache des Wertes von 1970. Die Preise stiegen zwar auch, aber nur um das Zweieinhalbfache (Statistisches Bundesamt, 2018).

Schwäche beim Produktivitätswachstum bereitet Sorge

Die Arbeitsproduktivität wächst in der deutschen Industrie und den industrienahen Dienstleistungen langsamer als noch vor der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise in den Jahren 2008/2009. In den Jahren 2001 bis 2007 wuchs die Arbeitsproduktivität im deutschen Verarbeitenden Gewerbe durchschnittlich um jährlich 2,5 Prozent, in den Jahren 2012 bis 2017 dagegen nur noch um 0,8 Prozent (Lang/Grömling/Kolev, 2019). Aufgrund ihrer wesentlichen Funktion für Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand wird diese Entwicklung mit Sorge betrachtet. Daher haben die IW Consult GmbH und das Institut der deutschen Wirtschaft im Auftrag des Bundesverbands der Deutschen Industrie untersucht, welche Ursachen hinter der nachlassenden Dynamik des Produktivitätswachstums stehen und wie das Wachstum der Arbeitsproduktivität gesteigert werden kann (Lang/Grömling/Kolev, 2019).

Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene zeigt sich, dass die nachlassende Dynamik der Arbeitsproduktivität über die meisten Branchen hinweg in hohem Maße auf die Beschäftigungsdynamik zurückgeht. Die Unternehmen haben nach der Krise deutlich Beschäftigung aufgebaut, ohne dass die Wertschöpfung in gleichem Maße gestiegen ist. Treiber des Beschäftigungsaufbaus sind im Verarbeitenden Gewerbe in erster Linie die großen Unternehmen ab 250 Beschäftigten und dort vor allem die Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie. Bei den industrienahen Dienstleistungen haben dagegen die mittleren Unternehmen mit 50 bis 249 Beschäftigten den höchsten Beschäftigungszuwachs zu verzeichnen.

Geringere Umsatzdynamik und Beschäftigungsaufbau bremsen das Produktivitätswachstum der Unternehmen

Für die einzelwirtschaftliche Ebene wurde für diese Studie im IW-Zukunftspanel eine Unternehmensbefragung durchgeführt, um Näheres über die Hintergründe zu erfahren. Die zentralen Ergebnisse (Lang/Grömling/Kolev, 2019):

  • Die Arbeitsproduktivität wächst heute in mehr Unternehmen als noch vor der Krise. Was nachgelassen hat, ist die Wachstumsgeschwindigkeit.
  • Die nachlassende Dynamik beim Umsatzwachstum und ein im Vergleich dazu höherer Personalaufbau stehen bei den Unternehmen hinter der nachlassenden Dynamik der Arbeitsproduktivität.
  • Hinter der nachlassenden Wachstumsgeschwindigkeit des Umsatzes steht in erster Linie die Absatzmenge des Kernprodukts.
  • Unternehmen mit nachlassender Produktivitätsdynamik waren häufiger Exportschwankungen und Auftragsrückgängen ausgesetzt als Unternehmen mit schneller wachsender Arbeitsproduktivität.
  • Hinter dem überproportionalen Personalaufbau stehen mehrere Ursachen, allen voran die Digitalisierung. Sie ist in den größeren Industrieunternehmen Haupttreiber für den Personalaufbau. Zwar lässt sich in digitalisierten Unternehmen bereits eine positive Wirkung auf die Arbeitsproduktivität identifizieren, allerdings ist erst ein Bruchteil der Unternehmen digitalisiert. Daher hat der Personalaufbau derzeit eher noch Investitionscharakter, dessen positiven Produktivitätseffekte erst in Zukunft eintreten.
  • In Industrieunternehmen drücken zudem Dienstleistungstätigkeiten auf das Produktivitätswachstum. In Unternehmen, die Personal in den Bereichen Forschung und Entwicklung, produktnahe Dienstleistungen oder begleitende Tätigkeiten für Auslandsproduktionsstandorte aufgebaut haben, wuchs das Personal häufiger schneller als der Umsatz. In der Industrie findet eine weitere Tertiarisierung der Tätigkeiten statt. Das Leistungsportfolio der Unternehmen erweitert sich zunehmend um Dienstleistungsaspekte, wobei Dienstleistungen ein Stück weniger produktiv sind als die industrielle Produktion. Außerdem können die Dienstleistungen zu Untererfassungsproblemen führen, da sie häufig nicht gesondert abgerechnet, sondern im Produktpreis berücksichtigt werden.
  • Gleichzeitig haben Unternehmen trotz Auftragsrückgängen ihr Personal nicht angepasst. Sie horten Personal, um für die zu erwartenden Personalengpässen gerüstet zu sein. Hier ist aber nicht ein geändertes Verhalten die Ursache, sondern eher sind die Möglichkeiten aufgrund des Auftragsrückgangs. Es sind vor allem die kleinen Unternehmen, die auf Anpassungen verzichtet haben.
© Carlos Irineu da Costa – unsplash.com

Politik, Unternehmen und Bürger sind gefordert

Max Mustermann hat während seines Arbeitslebens eine erhebliche Verbesserung des Wohlstands erfahren. Können seine Enkelkinder ebenfalls damit rechnen? Voraussetzung dafür ist eine weitere Steigerung der Arbeitsproduktivität. Damit dies gelingt, sind Politik, Unternehmen und Bürger gefordert:

  • Unternehmen sind gefordert, Chancen zum Umsatzwachstum zu nutzen, beispielsweise über eine weitere Diversifikation der Absatzmärkte.
  • Die Politik kann die Unternehmen dabei unterstützen, indem sie protektionistischen Tendenzen entgegentritt sowie durch weitere Freihandelsabkommen oder entsprechende Bürgschaften.
  • Unternehmen müssen sich mit Innovationen neue temporäre Vorteile im internationalen Wettbewerb erarbeiten. Vielfältige Ansatzpunkte liefert hier die Digitalisierung, wobei in den Unternehmen noch viele Herausforderungen zu meistern sind, um die technischen und organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen.
  • Die Politik kann bei der Digitalisierung Impulse setzen, indem sie den Transfer bewährter Konzepte und Best-Practice-Lösungen in die Breite der Unternehmen weiter fördert und durch eine steuerliche Förderung des erforderlichen FuE-Personals. Der Ausbau des Breitbandnetzes und die Einführung des 5G-Standards sind Voraussetzungen für die Nutzung der Digitalisierungspotenziale. Hier gibt es weiterhin großen Verbesserungsbedarf.
  • In der Aus- und Weiterbildung sind die Digitalisierungsbedarfe stärker zu berücksichtigen. Dabei sind vor allem die Fähigkeiten der Beschäftigten zu stärken, damit diese die digitalen Herausforderungen meistern können. Mit den neuen Fähigkeiten können sich die Beschäftigten neu auf dem Arbeitsmarkt positionieren.

Insgesamt hängt das zukünftige Wachstum der Arbeitsproduktivität und des Wohlstands von einer Vielzahl von Hebeln ab, die von Politik, Unternehmen und Beschäftigten bewegt werden. Hier können die richtigen Weichenstellungen den zukünftigen Wohlstand für die Enkelkinder von Max Mustermann in Deutschland sichern.

Literatur

Krugman, 1994, The Age of Diminishin Expectations

Lang/Grömling/Kolev, 2019, Produktivitätswachstum in Deutschland, Gutachten der IW Consult GmbH und des Instituts der deutschen Wirtschaft im Auftrag des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e.V. (BDI)

Statistisches Bundesamt, 2018, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen: Inlandsprodukberechnung – Lange Reihen, Fachserie 18, reihe 1.5



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