„Auch im Osten gibt es wirtschaftliche Zentren, die sich sehr gut entwickelt haben“

Prof. Dr. Joachim Ragnitzifo Niederlassung Dresden

Seit nunmehr 30 Jahren gehören die neuen Länder zur Bundesrepublik Deutschland. Noch immer liegt die ostdeutsche Wirtschaftskraft unter dem gesamtdeutschen Niveau, hinkt dem Westen unter anderem im Hinblick auf die Produktivität hinterher. Woran liegt das? Wo gibt es noch politischen Handlungsbedarf? Und: Wie realistisch ist es, dass Ostdeutschland wirtschaftlich irgendwann zum Westen aufschließt? Prof. Dr. Joachim Ragnitz ist stellvertretender Leiter der ifo Niederlassung Dresden und beschäftigt sich im Rahmen seiner Forschung intensiv mit der ostdeutschen Wirtschaft und den Folgen der Wiedervereinigung. Ein Interview anlässlich des Tags der Deutschen Einheit am 3. Oktober.

Ben Schröder: Herr Prof. Dr. Ragnitz, im Rahmen Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich intensiv mit der ostdeutschen Wirtschaft und den Folgen der Wiedervereinigung. Am kommenden Samstag feiert Deutschland zum 30. Mal die Einheit. Was konnte in den vergangenen drei Jahrzehnten – gerade im Hinblick auf die wirtschaftliche Integration des Ostens in den Westen – erreicht werden?
Prof. Dr. Joachim Ragnitz:
Wenn man die aktuelle Situation mit dem Zustand im Jahr 1990 vergleicht, so sind die Fortschritte für jedermann sichtbar: Der Osten konnte riesige Produktivitäts- und Lohnzuwächse verzeichnen, die marode Infrastruktur konnte erneuert und die Umweltsituation deutlich verbessert werden. Die ostdeutsche Wirtschaft ist mittlerweile stark in die überregionale Arbeitsteilung eingebunden und viele Unternehmen aus Westdeutschland haben im Osten investiert. Diese Entwicklung hat auch dazu geführt, dass sich viele Ostdeutsche heute gut integriert fühlen. Natürlich gibt es auch heute noch Menschen, die sich als Bürger:innen zweiter Klasse fühlen, aber gerade für die junge Generation ist die DDR Geschichte. Junge Ostdeutsche fühlen sich heute als Bundesbürger:innen, genau wie Westdeutsche das auch tun.

Trotz der Erfolge liegt die ostdeutsche Wirtschaftskraft immer noch unter dem gesamtdeutschen Niveau. Im jüngsten Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit heißt es dazu: „Auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer hat noch kein Flächenland der neuen Bundesländer das Niveau des westdeutschen Landes mit der niedrigsten Wirtschaftskraft erreicht.“ Wodurch ist diese Diskrepanz Ihrer Meinung nach hauptsächlich zu begründen?
Dies ist vor allem durch die strukturellen Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland zu erklären. In Ostdeutschland gibt es kaum Großunternehmen. Großunternehmen sind üblicherweise produktiver als kleine und mittlere Unternehmen, da sie zum Beispiel mehr in Forschung und Entwicklung investieren können. Begründet ist dies zudem auch durch Kostenvorteile in der Produktion. Die Unternehmenslandschaft in Ostdeutschland ist vor allem in der Industrie in erster Linie von reinen Produktionsstätten geprägt, was zu erheblichen Rückständen bei der Produktivität und damit auch der Wirtschaftskraft führt.

Wirtschaftskraft in Deutschland. Quelle: Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit (2020, S. 17).

Sie sprechen es an: Auch hinsichtlich der Produktivität gibt es weiterhin große Unterschiede zwischen Ost und West. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung mit dem DIW aus dem Jahr 2019 hat gezeigt, dass Unternehmen in Ostdeutschland in etwa 80 Prozent des Effizienzniveaus der Unternehmen in westdeutschen Bundesländern erreichen …
Das ist richtig. Hier muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass wir von Durchschnittswerten sprechen. Der Osten ist nicht homogen. Auch in Ostdeutschland gibt es wirtschaftliche Zentren, die sich sehr gut entwickelt haben und die durchaus vergleichbar mit Regionen im Westen sind. Auf der anderen Seite gibt es im Osten sehr viel ländlichen Raum, viel mehr als im Westen. In ländlichen Räumen beobachten wir in der Regel eine geringere Produktivität als das in urbanen Regionen der Fall ist. Diese siedlungsstrukturellen Unterschiede sind sicherlich wichtig, um die Ost-West-Unterschiede im Hinblick auf die Produktivität zu begründen.

Für wie realistisch halten Sie es, dass die Wirtschaftsleistung Ostdeutschlands in absehbarer Zeit zum westdeutschen Niveau aufschließt?
Das halte ich für sehr unwahrscheinlich beziehungsweise fast ausgeschlossen. Der Osten wird in den kommenden Jahren aufgrund der demografischen Entwicklung – vor allem begründet durch eine niedrige Geburtenrate zu Beginn der 90er-Jahre und die Abwanderung jüngerer Bevölkerungsschichten – einen beschleunigten Rückgang des Potenzials an Arbeitskräften erleben. Nach unseren Berechnungen wird dieser Rückgang in bestimmten Regionen bei 25 bis 30 Prozent, im Durchschnitt bei 10 Prozent bis zum Jahr 2035 liegen. In Zukunft wird es deshalb nicht viel Spielraum für Produktionsausweitungen geben. Dennoch wird der Osten weitere Produktivitätsfortschritte erleben, die sicherlich auch eine Steigerung des Wohlstands zur Folge haben werden. Dass der Osten aber das westdeutsche Niveau erreicht, erscheint zurzeit ausgeschlossen. In einzelnen Ländern wie Sachsen und Thüringen kann das durchaus gelingen, für Regionen wie Mecklenburg-Vorpommern und Teile von Sachsen-Anhalt ist vermutlich aber eher damit zu rechnen, dass wir in den kommenden Jahren eine Stagnation auf dem heutigen Niveau erleben.

Wo sehen Sie noch politischen Handlungsbedarf, um die wirtschaftliche Integration des Ostens zu unterstützen?
Die meisten ostdeutschen Unternehmen weisen im Bereich der Forschung und Entwicklung sehr schwache Quoten auf. Hier sollte man sicher Unterstützungsarbeit leisten. Gefördert werden sollte außerdem die Ansiedlung von Unternehmen. Dass das durchaus gelingen kann, sehen wir aktuell am Beispiel von Tesla. Darüber hinaus sollte dem Bevölkerungsschwund in bestimmten Regionen entgegengewirkt werden, vor allem durch eine Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge in den entsprechenden Gebieten. Ein weiterer Bevölkerungsrückgang, die Abwanderung von Erwerbspersonen, würde die zuvor angesprochenen demografischen Probleme verschärfen und die Situation zusätzlich erschweren.

Dass auch der Osten durchaus ein attraktiver Standort für Firmen sein kann, zeigt das von Ihnen angesprochene Beispiel Tesla: Der US-Konzern baut in Grünheide, einer kleinen Gemeinde in Brandenburg, momentan eine Fabrik für E-Autos. Was bedeutet ein solches Projekt für eine strukturschwache Region wie Brandenburg?
Grundsätzlich ist es so, dass Neuansiedlungen von Unternehmen in strukturschwachen Regionen sehr positive Effekte haben. Tesla plant, in Grünheide auf mittlere Sicht rund 12.000 Arbeitsplätze zu schaffen. Ein Teil der Arbeitskräfte wird sicherlich auch aus anderen strukturschwachen Regionen rekrutiert werden, zum Beispiel aus der Lausitz. Hinzu kommt, dass sich durch die Präsenz eines Unternehmens wie Tesla in Zukunft unter Umständen auch Zulieferunternehmen in der Region ansiedeln werden, was die positiven Effekte noch einmal verstärkt.

Nun muss man allerdings auch sagen, dass Grünheide am Stadtrand von Berlin liegt. Tesla hat den Standort wohl vor allem wegen der Nähe zur Hauptstadt gewählt und nicht, weil er in einer strukturschwachen Region liegt. Dennoch bietet sich durch die Präsenz von Tesla sicher die Möglichkeit, dass im Osten im Hinblick auf die Elektromobilität ein neuer Produktionsschwerpunkt entsteht.

Welche Chancen könnte eine Fokussierung auf zukunftsweisende Technologien wie Elektromobilität für die ostdeutsche Wirtschaft im Hinblick auf die Produktivität, die Innovationskraft und das Wachstum von strukturschwachen Regionen bieten?
Wenn es gelingt, einzelne Regionen als Zentren für zukunftsweisende Technologien wie Elektromobilität zu etablieren, wird das sicher erhebliche Produktivitätsfortschritte auslösen, gar keine Frage. In einem solchen Fall wäre außerdem zu erwarten, dass die Löhne noch einmal deutlich steigen. Dies hätte allerdings zur Folge, dass auch andere Unternehmen in der Region ihren Mitarbeiter:innen mehr bezahlen müssten. Unternehmen, die dabei nicht mithalten können, würden vom Markt verschwinden.

Hinzu kommt, dass fast alle Länder – sowohl national als auch international – versuchen, eine Vorreiterrolle im Bereich der Elektromobilität einzunehmen. Die Konkurrenz ist somit groß, sodass zumindest fraglich ist, ob der Osten sich hier nachhaltig als Zentrum einer solchen Industrie etablieren kann. Wenn es aber gelingt, würde dies dem Osten einen enormen Produktivitätsschub verleihen und die negativen Prognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft in den kommenden Jahren sicherlich obsolet machen.



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