Migrantisches Unternehmer:innentum – Neubetrachtung eines Konzeptes
Vielfach übersehen leistet eine sehr spezifische Gruppe von Menschen in Deutschland einen enormen Beitrag zu Innovationen und Unternehmensgründungen, für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt. Aber wer sind sie genau und was treibt sie an? Wo könnte Politik ansetzen, um ihre Potenziale zielgenau noch besser zu heben?
2021 wurde vielfach an das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei von 1961 erinnert. Dieses und weitere Abkommen hatten ein klares Ziel: Sie sollten den Mangel an Arbeitskraft in der auf Hochtouren laufenden Wirtschaft der noch jungen Bundesrepublik kompensieren.
Der Weg in die deutsche Industrie – als „Gastarbeiter:in“
Der Weg der Männer und Frauen, die auf Grundlage der Anwerbeabkommen nach Deutschland kamen, war vorgezeichnet: er führte in eine Beschäftigung in der deutschen Industrie.
Tausende arbeiteten fortan an Fließbändern und Hochöfen oder fuhren in den Schacht ein. Sie sorgten dafür, dass das deutsche Wirtschaftswunder nicht in sich zusammenfiel, weil die Arbeitskräfte fehlten. Einen besseren Begriff als den der „Gastarbeiter:in“ hatte man für diese zweite Aufbaugeneration damals nicht parat.
Deutschland hat sich in den 60 Jahren, die seither vergangen sind, verändert. Die deutsche Gesellschaft ist heterogen. In vielen westdeutschen Großstädten haben mehr als 40 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund (das heißt, sie sind selbst zugewandert oder eines ihrer Elternteile ist zugewandert).
Und auch in Zukunft wird es weitere Zuwanderung geben – und geben müssen. Zwar hat sich auch das Wirtschaftsmodell Deutschlands gewandelt. Es ist weniger von arbeitsintensiver Industrie geprägt als damals. Aber auch heute suchen viele Betriebe händeringend nach Fachkräften.
Der demographische Wandel wird den Bedarf in den kommenden Jahren weiter anwachsen lassen.
Wenig beachtet wird, dass es die deutsche Wirtschaft auch an anderer Stelle unter einen wachsenden Mangel leidet, der bedrohlich ist: Der Wirtschaft gehen die Unternehmer:innen aus. Seit Jahren sinken Selbständigenquote und Unternehmensbestand. Allein im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen ist der Gesamtbestand an Unternehmen zwischen 2011 und 2018 um 8.500 Unternehmen geschrumpft. Eine Gefahr für Wohlstand und wirtschaftliche Dynamik!
In einer Marktwirtschaft muss es immer wieder Menschen geben, die ins unternehmerische Risiko gehen. Ohne sie gibt es keine Unternehmen, keinen funktionierenden Arbeitsmarkt, keine Innovationen, kann kein Wohlstand erarbeitet werden.
Wesentlicher Beitrag für das Innovationsgeschehen
Es gibt eine Bevölkerungsgruppe, die sich gegen den beschriebenen Trend stemmt: Immer stärker beteiligen sich Menschen mit Migrationshintergrund am Gründungsgeschehen in Deutschland und sind als Selbständige und Unternehmer:innen aktiv.
Studien zeigen, dass Unternehmer:innen und Selbständige mit Zuwanderungsgeschichte seit den 1990er Jahren in Deutschland in wachsendem Umfang – und heute wesentliche – Beiträge zur wirtschaftlichen Dynamik in allen Branchen, zum Innovationsgeschehen und zur Beschäftigungsdynamik leisten.
Obwohl die Fakten klar sind, bleibt die öffentliche Wahrnehmung dieses Phänomens oft alten Zuschreibungen verhaftet. Seit 2015 beschäftige ich mich im Rahmen meiner Arbeit im Wirtschaftsprogramm der Bertelsmann Stiftung mit dem Thema. Und immer wieder höre ich: „Das ist doch nebensächlich. Da geht es doch nur um die Dönerbude um die Ecke!“ Das Bild der Dönerbude ist einfach und eingängig. Und für viele ist das Thema damit abgehakt: ein randständiges Phänomen, eine prekäre Art von Selbständigkeit, die ethnisch oder folkloristisch gefärbt ist – keiner Beachtung wert.
Doch dieses Bild hat Risse bekommen.
Spätestens seit das Ehepaar Uğur Şahin und Özlem Türeci als Gründer und Gründerin und Köpfe eines erfolgreichen – deutschen – Biotechunternehmens ins Scheinwerferlicht getreten sind.
Die Wahrnehmung von „migrantischen“ Unternehmer:innentum
Aber reicht das nun? Können wir ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Phänomen, bei dem wir von rund 800.000 Personen mit 1,5 Millionen Beschäftigen sprechen, mit Verweis abhaken, dass es sich irgendwo zwischen Dönerbude und BioNtech abspielt? Ganz sicher nicht.
Deswegen bin ich der Einladung einer Gruppe von Wissenschaftler:innen gefolgt, gemeinsam ein Diskussionspapier zu schreiben, dass grundlegende Fragen angehen sollte: Wie steht es in Deutschland um die Wahrnehmung des Phänomens „migrantischen“ Unternehmer:inentums? Was kann Wissenschaft zu einer differenzierten Wahrnehmung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beitrags Migrant:innen beitragen? Wo kann Politik ansetzen, um Potenziale zielgenau zu heben?
Alexandra David und Judith Terstriep (beide IAT), Kristina Stoewe (IW Köln), Alexander Ruthemeier (Steinbeis Institute for Global Entrepreneurship & Innovation), Maria Elo (University of Southern Denmark) und ich schildern in dem Papier den aktuellen Forschungsstand zur Selbständigkeit von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und schlagen vor diesem Hintergrund vor, das öffentliche Bild aber auch wissenschaftliche Herangehensweisen an das Phänomen zu aktualisieren.
Es braucht vor allem einen differenzierten Blick auf dieses facettenreiche Phänomen.
Sehr diverse Motive, Ressourcen, Branchen oder Geschäftsmodelle
In zukünftiger Forschung aber auch beim Aufsetzen zielgerichteten Unterstützungsmaßnahmen sollte klar differenziert werden, denn relevante Faktoren, Hindernisse und Bedürfnisse sind unterschiedlich. Es sollten persönliche Merkmale des bzw. der Unternehmer:in aber auch Charakteristika des Unternehmens in den Blick genommen werden.
Beim Blick auf die Person sind die Fragen des Zuwanderungsmotivs (freiwillig oder erzwungen) und die Zughörigkeit zur ersten oder zweiten Generation relevant. Aber auch die Ausstattung mit Ressourcen spielt eine entscheidende Rolle. Beim Blick auf das Unternehmen sollten Merkmale wie die Branchenzugehörigkeit aber auch der Aktionsradius des Geschäftsmodells Beachtung finden.
Der Politik empfehlen wir, migrantischen Unternehmer:innen in Deutschland endlich den Stellenwert in der öffentlichen Wahrnehmung zu geben, den sie aufgrund ihres heute schon immensen Beitrags haben sollten. Darüber hinaus sollten Gründungsförderung und Beratungsinstrumente zielgruppenspezifischer zugeschnitten werden.
So hat die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag zugesichert, den Zugang zu Gründungsförderung für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte zu vereinfachen. Wird dieses Vorhaben angegangen, könnte dieses Prinzip bereits Anwendung finden. So könnte zum Beispiel das besondere Potenzial internationaler Studierender an deutschen Hochschulen hier gezielt gehoben werden. Sie in Deutschland zu halten und ihnen den Weg zu erfolgreichem Unternehmer:innentum zu öffnen, ist alle Mühe wert, wenn wir die Innovationskraft stärken wollen.
Die Analyse über migrantisches Unternehmer:innentum und weitere Informationen auf der Website der Bertelsmann Stiftung
Ebenfalls in diesem Kontext zur vertiefenden Lektüre empfohlen: eine jüngere Studie über innovative Gründer:innen mit Migrationserfahrung in Deutschland
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