Sind die Kleinen und Armen in Deutschland immer die Dummen?
Martin Krause von der „Neuen Westfälischen“ über den Film „Germanomics“, der im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung den Zustand der Sozialen Marktwirtschaft beleuchtet.
Es gibt erheblichen Handlungsbedarf. Der Kitt unserer Gesellschaft wird bröckelig. Die Unzufriedenheit mit der ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen und mangelnden Aufstiegschancen wächst. Viele Bürger sind von der Sozialen Marktwirtschaft enttäuscht.
Sie glauben, dass sie nicht von dem System profitieren, von dessen Vorteilen jedermann in Deutschland jahrzehntelang überzeugt zu sein schien. Das ist die Ausgangslage eines Films von Mike Friedrich und Philipp Stachelsky mit dem Titel „Noch zukunftsfähig? Germanomics“, der sich um den Zustand der Sozialen Marktwirtschaft dreht.
Die Bertelsmann-Stiftung hat das ambitionierte Projekt mitfinanziert, und das knapp 80 Minuten lange Ergebnis ist bei Youtube kostenlos zu sehen. „Er knirscht und knarzt im System, es liegt vieles im Argen“, fasste Regisseur Friedrich seinen Eindruck nach jahrelanger Beschäftigung mit dem Thema jetzt bei einer virtuellen Podiumsdiskussion zusammen.
Doch im Prinzip überwiege bei den Ökonom:innen und Wirtschaftsmacher:innen, mit denen er gesprochen habe, die grundsätzliche Zufriedenheit – und die Überzeugung, dass die gegenwärtigen Probleme sich beheben lassen.
Die Probleme sind vielfältig
Aber: Die Probleme sind vielfältig. Einige lassen sich auf die Formel zuspitzen, dass die Armen, Kleinen und Benachteiligten am Ende immer die Dummen sind. Weil sie weniger Gehör finden, schlechter vertreten werden und relativ sogar mehr zahlen müssen als die Bessergestellten. Und das, obwohl die Soziale Marktwirtschaft doch das System des sozialen Ausgleichs sein soll. Wie konnte es dazu kommen?
Der Film analysiert, welche politischen Entscheidungen und wirtschaftlichen Entwicklungen den deutschen „Exportartikel“ (Wirtschaftsminister Peter Altmaier, CDU) verändert haben:
- Zum Beispiel die Auflösung der „Deutschland AG“ – der gegenseitigen Verflechtungen vieler deutscher Konzerne – und der Verkauf der Beteiligungen an internationale Investmentfirmen wie Blackrock und Co.
- Die so begünstigte Ausbildung monopolartiger Branchenstrukturen im Zuge der Globalisierung.
- Die Privatisierung von Bereichen, die einst als Staatsaufgaben galten.
- Steuerreformen, die sich eher zu Gunsten großer Unternehmen und vermögender Bürger auswirkten.
- Sozialreformen, die zu einem wachsenden Niedriglohnsektor führten – aus dem ein Aufstieg nur noch für eine Minderheit möglich ist.
Es gibt auch positive Ansätze
Während auf der einen Seite die Bürokratie immer ausufernder wird und sich als Hürde für Firmengründer erweist, scheint der Staat auf der anderen Seite kaum handlungsfähig zu sein – Vertrauensverluste sind die Folge.
Etwa, wenn Autokonzerne betrügerisch die Technik manipulieren und der Eindruck entsteht, die Manager könnten machen, was sie wollen. Oder wenn die Infrastruktur verkommt, weil trotz hoher Steuereinnahmen zu wenig in Schulen oder Verkehrswege investiert wird.
Als Beispiel für Handlungsbedarf nennt der Mannheimer Ökonom Tom Krebs im Film die Erhebung der Sozialabgaben: Denn durch die Beitragsbemessungsgrenzen sei der relative Beitrag von Geringverdienern zur Kranken- und Rentenversicherung höher als der von Besserverdienenden. Aber auch Steuerreformen sind überfällig.
Immerhin, es gibt positive Ansätze: Etwa den Vorstoß für eine globale Mindeststeuer für multinationale Konzerne. Damit die Giganten der Weltwirtschaft ihre Steuerlast nicht mehr durch Gewinnverschiebungen in vielen Ländern gegen Null drücken können. Damit Marktwirtschaft wieder sozialer werden kann.
Dieser Artikel von Martin Krause ist zuerst bei der Neuen Westfälischen erschienen. Wir danken der Redaktion dafür, dass wir ihn auf unserem Blog veröffentlichen dürfen.
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