Wir müssen umdenken und umlenken: Der Fetisch Arbeitsproduktivität gefährdet Green Deal und Vollbeschäftigung

Prof. Dr. Karl Aiginger„Querdenkerplattform: Wien Europa“

Wenn wir schwaches Wachstum und steigende Arbeitslosigkeit haben, hören wir sofort, Europa müsse seine Produktivität steigern. Das gilt zum Beispiel für Dokumente der EU, des Währungsfonds, der OECD und des Deutschen Sachverständigenrats. Und wenn man genauer liest, ist es stets die „Arbeitsproduktivität“, die gesteigert werden soll. Pro Beschäftigten oder pro Stunde sollte Europa mehr produzieren. Arbeitssparende Technologien sollen von Universitäten und Laboren bereitgestellt werden. Unternehmen sollen dies umsetzen, sicher auch Sachkapital effizient einsetzen und so auch den Arbeitnehmer:innen höhere Löhne ermöglichen.

Fokus auf Arbeitsproduktivität ist irreführend

So einhellig diese Forderung, so irreführend ist es, die Steigerung der Produktivität zu forcieren, ohne ihre Ursache (Triebkraft, Hauptkomponente) zu definieren. Zweifelsfrei ist es positiv wenn man mit begrenzten Gesamtressourcen mehr erzeugen kann. Das ist die Definition von Wirtschaftlichkeit, die wir in den Schulen lernen: mehr mit gleichen Inputs erzeugen oder einen konstanten Output mit weniger Ressourcen. Das bringt Wohlfahrt und Freizeit, je nachdem was man wünscht.

In der heutigen komplexen Gesellschaft gibt es technologische Vielfalt und Mehrdimensionalität. Es gibt den Klimawandel, der zu Dürren, Waldbränden und Gesundheitsproblemen führt. Daher sollte man alte Konzepte modifizieren oder zumindest präzisieren: Die Gesamtproduktivität kann man einerseits steigern, indem jede Person mehr erzeugt. Andererseits ist es auch produktiver, jedes Produkt mit weniger Rohstoffen, Energie und Stofflichkeit zu erzeugen. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität ist nur eine Möglichkeit (Aiginger, Rodrik 2020). Da der Anteil der Löhne am Umsatz im Industriesektor beispielsweise nur ein Viertel der Kosten ausmacht, ist die Einsparung von Rohstoffen, Energie und Umweltschäden oft sogar leichter und betriebswirtschaftlich profitabler. Mehr unternehmerischer Erfolg mit weniger Anstrengung und höherem Beitrag zum Wohlbefinden ist das Ziel modernen Wirtschaftens, höhere Arbeitsproduktivität ist nur ein Weg.

Technischer Fortschritt, der nicht nur die Arbeitsproduktivität erhöht, hat mehrere Vorteile. Erstens würde die Arbeitslosigkeit auch bei mäßigem Wachstum nicht steigen; heute zwingt eine Steigerung der Arbeitsproduktivität um 3 Prozent, auch reiche Länder weiter um 3 Prozent zu wachsen – eine Angebotsausweitung, für die oft die Nachfrage fehlt. Zweitens würde eine höhere Energie- und Ressourcenproduktivität den Reparaturaufwand für Klima- und Gesundheitsschäden senken, da weniger fossile oder chemische Ressourcen verwendet würden. Drittens würde es weniger Unfälle bei Energiegewinnung und -transport geben (etwa Havarien von Öltankern, Plattformen, oder Lagerexplosionen). Immer tiefer und mit Überdruck zu bohren wäre nicht notwendig, wenn die Energieproduktivität steigt.

Ist das nicht ein unerlaubter Markteingriff?

Die Umlenkung des technischen Fortschrittes von Arbeitsproduktivität zu Energie- und Ressourcenproduktivität klingt planwirtschaftlich. In einer Marktwirtschaft sollte man in die „natürliche Entwicklung“ nicht ohne Beweis von Marktversagen eingreifen. Die Ökonom:innen haben den Begriff des neutralen technischen Fortschrittes erfunden, weil es nicht selbstverständlich schien, dass dieser einseitig einen Faktor begünstigt, etwa Kapital oder Grundbesitz. Aber der heutige technische Fortschritt ist primär arbeitssparend gestaltet, nicht weil die Natur das verlangt, sondern weil die Steuern und Abgaben den Faktor Arbeit stark verteuern und Investitionen, Energie und Rohstoffverbrauch weitgehend steuerfrei sind. Steuervermeidung erhöht den Börsenwert von Firmen und verlegt Headquarters nach Irland, die Niederlande oder Delaware. Alles geht zulasten der Beschäftigten, sie sind weniger mobil und werden von Gewerkschaften vordergründig geschützt. Wenn die Klimaschäden zunehmen und die gesunde Lebenserwartung der sozial Benachteiligten sinkt, wird das von Aktienmärkten nicht bewertet, und von Arbeitnehmervertretungen nicht thematisiert.

In der gegenwärtigen Gesundheits- und Wirtschaftskrise mit dem starken Anstieg von Arbeitslosigkeit ist Umdenken noch wichtiger. Europa bräuchte keine Konjunkturprogramme, die Zombie-Firmen vor Konkurs retten, nur um Langzeitarbeitslosigkeit zu senken. Impulse, Energie und Rohstoffe einzusparen, würden Arbeitsplätze schaffen und gleichzeitig die Kosten des Klimawandels senken. Wenn Dorn et al. (2020) vom Ifo Institut beklagen, dass Konjunkturprogramme, das Problem eingeschränkter Produktivität nicht aus der Welt schaffen und daher keine großen Wachstumswirkungen haben, denken sie nur an Arbeitsproduktivität.

Der Green Deal braucht höhere Energie- und Ressourcenproduktivität

Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen macht einen Europäischen Green Deal und Klimaneutralität 2050 zum Zentrum ihres Programms. Die Bürokratie in Brüssel – wahrscheinlich die besten Experten, die für einen Wirtschaftsraum weltweit arbeiten – hat das auf den ersten Blick verstanden. In der „Annual Sustainable Growth Strategy“ wird diagnostiziert, dass ein neues Wachstumsmodell, das auch Klimaneutralität beinhaltet, Kern des Europäischen Semesters sein solle.

Doch was folgte, zeigt alte Wege. Das Problem eines sinkenden Produktivitätswachstums wird als zentrales europäisches Problems bezeichnet. Das Dokument verwendet den Begriff „Produktivität“ zehnmal, ohne ein einziges Mal zu erwähnen, dass hier alternativ Arbeit oder Ressourcen eingespart werden könnten. So kann der Green Deal und ein soziales Europa nicht funktionieren.

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Der Deutsche Sachverständigenrat schätzt das Wachstumspotential

Im Jahresgutachten 2020 wird der wirtschaftliche Schock und die notwendige Finanzpolitik dargestellt. In der folgenden mittelfristigen Projektion wird das Wachstumspotential nach der EU-Methode dargestellt. Die Grundlage ist eine Produktionsfunktion in der das potenzielle Arbeitsvolumen, das Sachkapital und der Trend der totalen Faktorproduktivität abgeschätzt werden. Kein Hinweis folgt darauf, dass die Totale Faktorproduktivität keine unerklärliche und unbeeinflussbare Restgröße sein muss, sondern durch Energie- oder Ressourcenpolitik beeinflussbar sein könnte. Das Residuum wird dann noch präzise als jener Teil erklärt, der nicht durch mengenmäßigen Einsatz von Sachkapital und Arbeit erklärt werden kann.

OECD nennt Hindernisse für Erholung

Der jüngste OECD Bericht (Interim Forecast September 2020) betont, dass in allen Ländern zielgerichtete strukturelle Reformen nötig seien, was bei diesem Think Tank meist Deregulierungen am Arbeits- oder Produktmarkt bedeutet. Sollten diese nicht erfolgen, würde das die aggregierte Produktivität und die wirtschaftliche Erholung verhindern. Wieder gibt es keine Aussage darüber, dass Regulierungen unterschiedliche partielle Produktivitäten betreffen kann.

Lohnquote sinkt bei Orientierung an der Arbeitsproduktivität

Lohnverhandlungen und die Verringerung der Spreizung der Gehälter zwischen Topeinkommen und Subsistenzlöhnen sind Teil der Sozialen Marktwirtschaft. Wenn aber Arbeitnehmervertretungen immer nur versuchen, den Lohn entsprechend der Arbeitsproduktivität zu erhöhen, würden erfolgreiche Klimainvestitionen und höhere Energieeffizienz eine sinkende Lohnquote bewirken. Ein nachhaltiges Europa benötigt eine neue Latte für die jährlichen Lohnverhandlungen, die auch die gestiegene Energie- und Ressourcenproduktivität berücksichtigt. Das würde die steigende Ungleichheit eingrenzen, das weitere Sinken der Lohnquote verhindern und die Gewerkschaften von ihrer Skepsis gegenüber Klimapolitik befreien.

Produktivität ist wichtig, ihre Steuerung noch wichtiger

Der Europäische Green Deal benötigt sowohl die Bepreisung der Emissionen als auch ordnungspolitische Instrumente. Europa muss eine verantwortungsbewusste Globalisierung forcieren, in der sich weltweit Standards an anspruchsvollen Vorbildern orientieren. Das Umdenken muss die Richtung der Forschung bestimmen, die heute wegen der hohen Steuerbelastung auf Arbeit auf Arbeitseinsparung ausgerichtet ist. Die OECD, die EU und der Sachverständigenrat dürfen den Begriff der Produktivität nicht mehr als unbeeinflussbar akzeptieren und damit die Arbeitsproduktivität als wichtigste Komponente darstellen. Sie sollten in der mittelfristigen Prognose auch Energie- und Ressourcenproduktivität abschätzen und analysieren, ob deren Entwicklung mit dem Klimaabkommen kompatibel ist.

Zurzeit ist weder Europa noch die Welt auf dem Weg, den Pariser Vertrag zu erfüllen, das enge Produktivitätskonzept ist ein wichtiger Hemmschuh. Die Wirtschaftswissenschaft, die OECD und der Sachverständigenrat sind Mitschuld daran, indem sie das Konzept der Produktivität fast ausschließlich mit Arbeitsproduktivität gleichsetzen und Energie- und Rohstoffeinsparungen weder prognostizieren noch berichten. Prognosen sind aber Planungsgrundlagen, die steuern und die Politik bestimmen.

Umdenken und Umlenken

Fassen wir zusammen: Die Produktivität zu steigern ist positiv, das bringt Freizeit oder höhere Einkommen. Aber die meisten Analysen verstehen darunter explizit oder implizit Arbeitsproduktivität sei es per Beschäftigten oder Stunde. Arbeitsproduktivität ist zweischneidig: sie kann Löhne und Gewinne erhöhen, aber sie kann auch zu mehr Arbeitslosigkeit führen oder den Wachstumszwang erhöhen. Und wenn der Ressourcenverbrauch nicht sinkt und Energieproduktivität nicht steigt, erhöht das Emissionen; der Green Deal oder das Paris Abkommen werden nie erfüllt. Eine Umlenkung von der Arbeitsproduktivität in Richtung Energie- und Ressourcensparen klingt planwirtschaftlich, ist aber in der Realität nur der Abbau einer Fehlsteuerung durch den allmächtigen und geheimen „großen Bruder“ Staat, der bisher Arbeit hoch besteuert und fossile Energie und Rohstoffe wenig oder sogar subventioniert. Wir müssen umdenken, der technischer Fortschritt ist kein unerklärbares und hoffentlich großes Residuum, sondern kann auch von staatlichen Steuern und den Prognosen der Think Tanks beeinflusst werden.

Literatur

Aiginger, K. (2019), Europa muss globale Klimapolitik anführen (Europe´s obligation to take the lead in fighting Climate change, Policy Crossover Center: Vienna-Europe, Policy Paper 3/2019).

Aiginger, K. Rodrik D., (2020) Rebirth of Industrial policy and an agenda for the 21st century, Journal of Industry, Competition and Trade (JICT),  2/2020.

Dorn.F, Fuest C. Neumeier Florian: Nach dem großen Einbruch, ifo Schnelldienst 7/2020 S 3-12.

European Commission (2019), Annual Sustainable Growth Strategy 2020, COM 2019\ 650, final.

OECD 2020: Interim Economic Assessment: Coronavirus: living with uncertainty. OECD, September 2020.

Sachverständigenrat: Gemeinschaftsdiagnose 1/2020: Wirtschaft unter Schock; Finanzpolitik hält dagegen, München April 2020.

Von der Leyen, U.: A Union that strives for more, Commission Work Program, 2020 COM (2020) 37 final.



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