Wiederaufbau und Widerstandsfähigkeit von Europa müssen zusammen gedacht werden
Die Verhandlungen um das neue europäische Instrument “Next Generation EU” (NGEU) und dem darin enthaltenen Wiederaufbaufonds (“Recovery and Resilience Facility”, RRF) laufen auf die Zielgerade zu. In den kommenden Jahren soll – unabhängig vom Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) – eine bisher einmalige Summe von 672,5 Mrd. Euro für die Erholung von der Corona-Krise und Stärkung Europas ausgegeben werden. Es stellt sich deshalb die Frage, wie dieses Geld am besten ausgegeben werden kann, um eine kurz- bis mittelfristige Erholung zu fördern und gleichzeitig die Resilienz der europäischen Wirtschaft nachhaltig zu verbessern.
Der RRF wurde mit dem Ziel konzipiert, den negativen Auswirkungen der Pandemie auf Europas Wirtschaft entgegenzuwirken. Dabei soll vor allem eine rasche Erholung von der Krise ermöglicht, aber auch in die langfristige Stabilität und Widerstandsfähigkeit der EU und ihren Mitgliedstaaten investiert werden, um zukünftigen Krisen besser standzuhalten. Doch genau hier entsteht ein Trade-Off, da bislang ergriffene Maßnahmen meistens nur eines dieser Ziele abdecken und im schlimmsten Fall sogar die Erreichung des anderen behindern könnten. Als Beispiel dafür lassen sich in der aktuellen Krise die Finanzhilfen für die Luftfahrtbranche in Deutschland ohne jegliche umweltschonenden Bedingungen oder der Vorschlag eines europäischen Zugs anführen. Bei der ersten Maßnahme werden zwar kurzfristig Arbeitsplätze gesichert, aber nicht für deren langfristigen Erhalt und nachhaltigen Wandel der Branche gesorgt. Es wird dadurch nicht gewährleistet, dass die Branche effizient und produktiv bleibt. Der zweite Vorschlag hingegen führt zu einer deutlich umweltbewussteren und effizienteren Vernetzung Europas, bräuchte jedoch Jahre bis Jahrzehnte von der Planung bis zur vollständigen Umsetzung.
Es wird deutlich, dass wir uns weder auf den schnellen, aber kurzfristigen Erhalt veralteter Strukturen fokussieren noch die tiefen Einschnitte und Auswirkungen von COVID-19 vernachlässigen dürfen. Vor allem ein Umdenken von der reinen Steigerung unserer Arbeits- oder Kapitalproduktivität hin zu einer Steigerung unserer Ressourcenproduktivität sollte stattfinden, um beides einfacher vereinen zu können. Generell sollten sich alle Wiederaufbauprogramme daran messen lassen, wie sie nachhaltiges Wachstum in Europa fördern können.
Die Bedingungen und Reformvorschläge des RRF bleiben in dieser Hinsicht jedoch recht vage und allgemein. Kurz vor dem endgültigen Beschluss des NGEU Pakets sind die einzig klar definierten Vorgaben, dass 50 Prozent der Ressourcen in die “Modernisierung” der EU fließen sollen und 30 Prozent in die Bekämpfung des Klimawandels. Um die Debatte zu konkretisieren und sowohl eine kurzfristige Erholung von der Krise als auch ein langfristig nachhaltiges Europa zu schaffen, schlagen wir drei Maßnahmen vor:
- Großflächige Gebäuderenovierungen
40 Prozent des europäischen Energieverbrauchs stammt aus dem Gebäudesektor. Gerade ungedämmte alte Gebäude sind höchst ineffizient und verbrauchen enorme Mengen an Heizenergie. Im Sinne einer nachhaltigen Erholung sollte ein Fokus der Maßnahmen auf der flächendeckenden Sanierung von Gebäuden liegen. Zurzeit liegt die Gebäuderenovierungsrate in Europa bei mageren 1 Prozent pro Jahr. Um die europäischen Klimaziele 2050 zu erreichen, müsste diese Rate bei 3 Prozent liegen. Es ist also noch viel Luft nach oben. Gleichzeitig könnten diese Maßnahmen schnell umgesetzt werden, da es in vielen europäischen Städten bereits Sanierungspläne für bestimmte Stadtgebiete gibt, die hochskaliert werden könnten. Weiterhin könnte damit der stagnierenden Produktivität in der Baubranche entgegengewirkt werden. Laut einer Studie von McKinsey von 2017 befindet sich das Level der Produktivität auf demselben Stand, wie vor 80 Jahren. Hier könnten die staatlichen Maßnahmen ansetzen. Groß angelegte Sanierungen können dabei helfen, die Lieferketten anzukurbeln und effizienter zu gestalten. Auch der Einsatz neuster Technologie, wie 3D-Druckern oder die Überwachung von Baufortschritten in Echtzeit über eine Cloud auf der Baustelle, rentiert sich besonders bei Großprojekten. Damit die Produktivität aber wirklich steigt, muss gerade der Staat bei der Vergabe der Aufträge diesen Schritt mitbedenken.
- Ausbau und Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur
Mobilität ist ein weiteres Thema, wo die EU-Gelder sehr gut eingesetzt werden könnten. Mittlerweile ist allgemein bekannt, dass die Mobilität der Zukunft anders aussehen wird als die, die wir gerade haben. Verbesserte Verbindungen im öffentlichen Nahverkehr – besonders auf dem Land – eine ausgebaute Radinfrastruktur und ein stärkerer Fokus auf E-Mobilität spielen hier eine Rolle, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Auch hier gibt es schon nationale Strategien, welche durch die neuen EU-Mittel kurzfristig verstärkt werden könnten. Einige Länder in Europa gehen schon jetzt diesen Weg. Zum Beispiel werden 11 Prozent des französischen Konjunkturpakets in die nachhaltige Ausrichtung der Transportbranche fließen. Zukünftig werden weitere Entwicklungen, wie zum Beispiel das autonome Fahren die Produktivität weiter ankurbeln. Aber auch durch kleine Veränderungen, wie mehr Bus- oder Zugverbindungen, kann es zu Zeit- und Energieeinsparungen kommen, wenn dadurch vermehrt Menschen vom Individualverkehr zum Massenverkehr wechseln. Dies würde wiederum produktivitätssteigernd wirken. Lange Pendelstrecken könnten dann, genauso wie Staus, der Vergangenheit angehören. Aber bis es soweit ist, liegt es an den Mitgliedstaaten der EU, die richtigen Weichen für so einen Wandel zu stellen.
- Zukunftsfähige Energienetze und erneuerbare Energien
Als letzte Maßnahme sei hier der Ausbau und die Weiterentwicklung der Energienetze in Europa zu nennen. Zukünftig wird ein immer höherer Anteil der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien kommen. Dieser Anteil liegt zurzeit bei 32 Prozent in Europa und muss auf 80 Prozent im Jahr 2050 steigen, damit die Klimaziele der EU erreicht werden können. Damit ist klar, dass ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel auch für diesen Ausbau genutzt werden muss. Die positiven Effekte umfassen hierbei nicht nur eine bessere Klimabilanz, sondern auch steigende Produktivität aus einem dezentralen Energienetz. Großangelegte Investitionen werden vor allem den Preis von erneuerbaren Energietechnologien senken und die Leistung derer verbessern. Schon jetzt werden viele Privathäuser durch Photovoltaikanlagen ausgestattet oder Hausbesitzer:innen bauen sich kleine Windräder in den Garten. Um diesen Wandel zu begleiten, bedarf es besserer Speichertechnologie und intelligenter Stromnetze. Ersteres ist wichtig, um Tage zu kompensieren, an denen kein Wind weht oder keine Sonne scheint. Intelligente Stromnetze können hingegen die vielen individuellen Stromeinspeisungen von Haushalten managen. Hierfür ist der Einsatz von künstlichen Intelligenz- und Cloudsystemen unabdingbar.
Dieser Blogbeitrag beruht auf einem Policy Brief aus dem Projekt “Repair and Prepare: Strengthening Europe”. Den Volltext gibt es hier.
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