Weil nichts bleibt, wie es ist

Peter Eichhorn erinnert sich gut an den Betonriesen, der hier, auf dieser Wiese, mitten in Sonneberg, zu seiner Kindheit stand. Hoch sei der gewesen, fünf oder sechs Stockwerke, mit kleinen Fenstern, und unglaublich hässlich. Während er erzählt, malt Eichhorn mit den Händen Umrisse in die Luft. Ein paar Meter weiter rattert ein Güterzug durch den Bahnhof. „Das war hier damals eine hochmoderne Anlage. Mit eigenem Gleisanschluss. Da kam zwei- bis dreimal am Tag die Eisenbahn direkt ins Werk gefahren, um Ware abzuholen – Spielwaren, Christbaumschmuck und so weiter. Das wurde dann in alle Welt versandt.“

Der Betonriese, er war eine der ersten Niederlassungen von Woolworth in Deutschland. Die US-amerikanische Handelskette lagerte dort ab 1926 Spielwaren, die sie in den Sonneberger Manufakturen erwarb und dann in aller Welt verkaufte. Damals war Sonneberg das Weltzentrum der internationalen Spielwarenbranche, eine Boomtown am Thüringer Wald. Dann kamen die Nazis, der Krieg, die Sowjets, der Sozialismus, schließlich die Wiedervereinigung, die Globalisierung. Die Kleinstadt an der Grenze zu Bayern schaffte es dabei immer wieder, sich neu zu erfinden, über Generationen, Kriege und System brüche hinweg. Was das bedeutet, hat Peter Eichhorn selbst erlebt. Früher war der Ingenieur Produktionsleiter beim Spielzeugkombinat sonni. Nach dem Ende der DDR, dem Zusammenbruch der Sonneberger Spielzeugindustrie, verlor er seinen Job, wechselte in die Versicherungsbranche. Inzwischen ist er Rentner, ein groß gewachsener Mann mit buschigen Augenbrauen und fester Stimme, der sich als Vorsitzender des Seniorenbeirats dafür einsetzt, dass die Belange älterer Bürger in der Kommunalpolitik Gehör finden.

Eine selten erzählte Erfolgsgeschichte

Sonneberg ist eine selten erzählte Erfolgsgeschichte. Es ist die Stadt in Deutschland, die in den vergangenen Jahrzehnten die größten Wohlstandszuwächse erreichte. Mehr als verdreifacht haben sich die Durchschnittseinkommen seit 1992. Die Krise der frühen Jahre nach der Einheit ist längst vorüber. Inzwischen liegt die Arbeitslosenquote bei etwa drei Prozent, weit unter dem deutschen Durchschnitt, es herrscht akuter Fachkräftemangel. Ein Ort, an dem sich exemplarisch studieren lässt, was Strukturwandel bedeutet – und wie er funktionieren kann. Während der Sozialismus den Menschen Stabilität versprach, ist die Marktwirtschaft auf permanenten Wandel ausgerichtet. Neues entsteht, Altes stirbt – „schöpferische Zerstörung“ nannte das der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter.

Der Gegenentwurf

Gut 450 Kilometer nordwestlich liegt Leverkusen. In vielerlei Hinsicht ist die Stadt am Rhein das Gegenteil von Sonneberg. Leverkusen ist eine Retortenstadt, die es überhaupt nur gibt, weil der Bayer-Konzern sich dort ansiedelte. Der Industrieriese ist eine Ikone des Rheinischen Kapitalismus, ein Unternehmen, das sich um die Belange seiner Mitarbeiter kümmert wie kaum ein anderes, mit starken Gewerkschaften als Partner. Gemeinsam bemühen sich Kapitaleigner und Arbeitnehmervertreter seit Jahrzehnten, niemanden im Regen stehen zu lassen. Der Wandel wird moderiert und wattiert. Leverkusen ist die Stadt mit dem zweitniedrigsten Wachstum in Deutschland. Um nicht mal acht Prozent stieg die Wirtschaftsleistung pro Kopf seit 1992. Fast-Stagnation auf – zugegeben – hohem Niveau. In einer Zeit, als der Bayer-Konzern sich wandelte und globalisierte und zu einem der teuersten börsennotierten Unternehmen Deutschlands aufstieg, blieb Leverkusen stehen. Seltsam gestrig wirkt es heute. Die Arbeitslosenquote liegt bei etwa neun Prozent, deutlich über dem Bundesschnitt.

Das war nicht immer so. In den frühen Jahren der Bundesrepublik bildeten das Unternehmen und sein Standort eine dynamische Symbiose sondergleichen. Bereits seit dem späten 19. Jahrhundert produzierten die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., die heutige Bayer AG, in Leverkusen. Neben Farbstoffen entstanden in den Werken nördlich von Köln auch Medikamente und Chemikalien. Das Unternehmen war 1899 durch die Erfindung von Acetylsalicylsäure bekannt geworden. Der Wirkstoff steht heute auf der Liste unentbehrlicher Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation. Besser bekannt ist er unter seinem Markennamen: Aspirin.

1925 wurde Bayer Teil der Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG (I.G. Farben), einem Zusammenschluss deutscher Chemieunternehmen. Während der NS-Zeit wurde in den I.G.-Farben-Werken – unter anderem in Leverkusen – auch für die Rüstungsindustrie produziert. Die Alliierten entschieden nach Kriegsende deshalb, die I.G. Farben in einzelne Unternehmen zu zerschlagen, um einer erneuten Aufrüstung Deutschlands vorzubeugen. 1951 wurden die Farbenfabriken Bayer AG gegründet. Sie etablierten sich schnell auf den internationalen Märkten. Medikamente wurden dringend benötigt. Es begannen hochgradig erfolgreiche Jahre.

Das einstige Industriedorf am Rhein lockte immer mehr Menschen an –mit gut bezahlten Jobs und Rundumbetreuung samt Sport- und Kulturangebot, spendiert vom Industriegiganten. Als die Hochkonjunktur Mitte der 1960er-Jahre allmählich zu Ende ging, erwies sich die Bayer-Unternehmensstruktur allerdings zunehmend als zu starr und unflexibel für das internationale Geschäft. Eine grundlegende Umorganisation musste her. Um die verschiedenen Märkte und Kunden individueller bedienen zu können, entschied man sich für Dezentralisierung und Divisionalisierung. Das Unternehmen wurde in neun Sparten gegliedert, jeder Bereich bekam ein eigenes Führungsteam. Die Vorstandsmitglieder zogen sich derweil aus dem operativen Geschäft zurück – das sollte Entscheidungsprozesse beschleunigen. Sieben Jahre dauerte es, bis sich die flexiblere, divisionale Konzernstruktur durchsetzen ließ. Groß waren die internen Widerstände, gering die Bereitschaft zum Wandel. Dennoch: Nach der Neuorganisation ging es weiter aufwärts – mit der Wirtschaft im Ganzen und mit Bayer und Leverkusen im Partiellen. Bis mit der Rezession Anfang der 1980er-Jahre eine langwierige Schwächephase begann. Plötzlich galt die Bundesrepublik, das einstige Wirtschaftswunderland, als alt, behäbig und träge. Die traditionellen Industriebranchen – von Chemie bis Stahl – gerieten in eine Strukturkrise. Die dominierenden Großkonzerne, konzentriert an Rhein, Ruhr und Main, schienen erneut allzu schwerfällig geworden zu sein.

Eiserner Vorhang vor Sonneberg

Auf der anderen Seite der Mauer hatte zwischenzeitlich ein Strukturwandel von oben stattgefunden. Private Unternehmen, die es bis 1972 noch gegeben hatte, waren zwangsverstaatlicht worden – umgewandelt in Volkseigene Betriebe (VEB), zusammengefasst zu Kombinaten, kommandiert von einer mächtigen zentralen Planungsbehörde. Der Sozialismus in seiner voll bürokratisierten Ausbaustufe hielt Einzug, auch in Sonneberg – der einstigen „Weltspielwarenstadt“, einem Ort geprägt von industriellem Mittelstand, wo Generationen von Familien in Manufakturen und in Heimarbeit genäht, modelliert, gestopft und gestrickt hatten, wo zeitweise die Hälfte der auf dem Weltmarkt gehandelten Puppen und Plüschtiere produziert worden war, wo sich Unternehmer prächtige Villen errichten ließen, die heute dann doch eine Nummer zu groß für eine Kleinstadt in Thüringen wirken. „Es ist bemerkenswert, wie weltmännisch und global in Sonneberg schon vor hundert Jahren gedacht wurde“, sagt Heiko Voigt, heute Bürgermeister von Sonneberg. „Die Industriellen pflegten enge Kontakte in die USA, schickten ihre Kinder zum Studieren nach Amerika. Die USA wiederum eröffneten hier ein Konsulat, um die Beziehungen weiter zu intensivieren.“ Für eine so kleine Stadt absolut unüblich.

All das verschwand nun endgültig im engen Raum hinter dem Eisernen Vorhang. Der VEB sonni Spielwaren wurde zum Stammbetrieb des Kombinats Spielzeug, zu dem außerdem die VEBs Plüti (Plüschtiere) und Piko (Modelleisenbahnen) gehörten. Was und wie viel produziert wurde, entschieden die Lenker der Planwirtschaft in Berlin-Mitte. Immer noch war ein Großteil der Produktion für den Export bestimmt, nun allerdings überwiegend in die sozialistischen Bruderländer.

Mit dem Mauerfall änderte sich in Sonneberg erneut alles. Für die großen Spielzeugmacher der Stadt bedeutete das Ende der DDR letztlich den Ruin. Die Sowjetunion, bis dato wichtigster Abnehmer von Spielwaren, zerfiel und versank in einer Wirtschaftskrise. Die deutsch-deutsche Währungsunion verteuerte Ostwaren drastisch. Sonneberg, der Ort, der fast ein Jahrhundert lang vom Export gelebt hatte, war plötzlich nicht mehr konkurrenzfähig. Viele der Arbeitnehmer aus Sonneberg wurden nach dem Ende der DDR von bayerischen Betrieben abgeworben. Die konnten die Fachkräfte gut gebrauchen. Für die Menschen war das gut, sie wurden so nicht arbeitslos. „Der Stadt aber ging dadurch extrem viel Know-how verloren“, sagt Voigt. Auch Peter Eichhorn verlor damals seine Stelle als Produktionsleiter bei sonni.

„Mutter“ kümmert sich

1989, im Jahr des Mauerfalls, war Rolf Wissem ausgelernt. Der Leverkusener hatte bei Bayer 1986 eine Ausbildung zum Chemikanten begonnen. „Aus wirtschaftlichen Gründen“, sagt er. „Damals war ganz klar: Wenn du einmal bei Bayer bist, bleibst du da für den Rest deines Berufslebens.“ Deswegen nannte man das Unternehmen in Leverkusen zu dieser Zeit auch „Mutter“. Trotz seiner Familiengeschichte – sein Vater und die drei Brüder schafften bereits bei Bayer – sei es nie sein Ziel gewesen, beim Chemie- und Pharmakonzern einzusteigen, sagt Wissem. Er wollte seinen eigenen Weg gehen. Wissem lernte nach der Schule zunächst Maler und Lackierer, wurde damit aber nicht glücklich. Auch als stellvertretender Filialleiter eines Einrichtungshauses in Leverkusen fühlte er sich nicht wohl. Einer seiner Brüder besorgte ihm daraufhin die Ausbildung bei „Mutter“.

Rolf Wissem war Chemikant bei Bayer. © Besim Mazhiqi, Schloß Holte-Stukenbrock

Als Chemikant arbeitete Wissem fortan an der Herstellung von Latex für die Auto- und die Schuhbranche. Zu seinen Aufgaben zählte unter anderem, Chemikalien zu mischen und die Kessel zu bestellen. „Die Arbeit hat mir Spaß gemacht. Chemikant zu sein, ist sehr abwechslungsreich, das war mir wichtig.“

Gesundheit, Landwirtschaft, Kunststoffe und Chemie – das Angebot des Leverkusener Konzerns konzentrierte sich zu dieser Zeit auf vier Säulen. Insbesondere die Teilbereiche Pharma und Pflanzenschutz hatten sich während der Rezessionen in den 1970er- und 1980er-Jahren als robust erwiesen. Arzneimittel werden schließlich immer benötigt und Landwirte bestellen die Felder auch in Zeiten von Wirtschaftskrisen. Gleich nach dem Millenniumswechsel riss ausgerechnet ein Medikament den Konzern in die größte Krise seiner Geschichte.

In den USA traten 2001 Probleme mit dem Cholesterinsenker Lipobay auf. In Kombination mit anderen Medikamenten verursachte es erhebliche Nebenwirkungen. Die Konzernführung in Leverkusen entschied im August 2001, Lipobay in Europa und den USA vom Markt zu nehmen. Aus Unternehmenssicht ein Desaster. Imageverlust, Umsatzeinbruch. Nur wenige Tage später steuerten Terroristen zwei Flugzeuge in das World Trade Center in New York, die internationalen Börsen kollabierten. Die Bayer-Aktie fiel unter zehn Euro. Der Konzern musste handeln. Man entschied sich zu einem radikalen Schritt: der Ausgliederung der Kerngeschäftsbereiche. Die Segmente Gesundheit (HealthCare), Pflanzenschutz (CropScience), Polymere (Polymers) und Chemie (Chemicals) gingen in rechtlich eigenständige Tochtergesellschaften über.

Lanxess entsteht

Unter dem Dach einer neu geschaffenen Holding gehörten sie aber weiter zum Konzern. Zunächst. Denn vom Bereich Chemie und etwa einem Drittel des Polymergeschäfts trennten sich die Leverkusener zwei Jahre später vollständig. Das Unternehmen Lanxess entstand. Damit endete bei Bayer die Zeit der klassischen Chemie, die das Unternehmen einst groß gemacht hatte. Ein heftiger Einschnitt. Die Umstrukturierungen brachten gleichzeitig den größten Personalabbau in der Unternehmensgeschichte mit sich. Zwischen 2002 und 2005 musste der Konzern weltweit rund 12.000 Stellen streichen, davon allein 2.000 in Deutschland. „Mutter“, sie musste Härte zeigen. Astrid Geissler war damals an den Verhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern beteiligt. Heute verantwortet sie die Personalpolitik von Bayer in Deutschland. „Wir waren uns der sozialen Verantwortung bewusst und wollten unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Krise nicht im Stich lassen. Wir alle, sowohl die Konzernführung als auch die Betriebsräte, haben in konstruktiven Verhandlungen darum gerungen, eine für alle Parteien tragfähigeLösung zu finden.“

Mit zwei sogenannten Standortsicherungsvereinbarungen verpflichtete sich Bayer unter anderem, auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten und den notwendigen Stellenabbau sozial verträglich zu gestalten. Heißt: Diejenigen, die gehen, sollten das freiwillig tun. Zum Beispiel durch großzügige Abfindungszahlungen. Außerdem richtete Bayer gesellschaftsübergreifende Beschäftigungspools ein, aus denen heraus Mitarbeiter, deren Arbeitsplatz weggefallen war, in andere Bereiche und Standorte verteilt werden konnten. Das verhinderte Kündigungen.

Im Endeffekt könne man zufrieden sein, wie der Konzern die Krise mit den Mitarbeitern bewältigt habe, sagt Geissler. Das bestätigt auch Rolf Wissem, obwohl er sagt: „Nach der Ausgliederung waren wir erst mal sauer. Da war dieses Gefühl, verkauft worden zu sein.“ Das Vertrauen in „Mutter“ wankte, Existenzängste machten sich breit. „Als Ehemann und Vater muss man immer schauen, dass es irgendwie weitergeht. Und es war ja erst mal gar nicht klar, wie es bei Lanxess laufen wird.“ Es lief gut. Am 31. Januar 2005 wurde die Lanxess-Aktie erstmals gehandelt. Gegen Börsenschluss betrug der Kurs rund 14 Euro. Im Mai 2017 kostete eine Aktie knapp fünfmal so viel. Rolf Wissem wurde während der Jahre nach der Gründung in den Lanxess-Betriebsrat gewählt; er blieb bis 2014 im Unternehmen. Seitdem befindet er sich im Vorruhestand.

Astrid Geissler verantwortet die Personalpolitik von Bayer in Deutschland. © Besim Mazhiqi, Schloß Holte-Stukenbrock

Für Leverkusen, das mit Bayer über Jahrzehnte gewachsen war und von der Prosperität des Unternehmens lebt, blieben die Krise und die damit verbundenen Umstrukturierungen allerdings nicht ohne Konsequenzen: In den Jahren nach Lipobay brachen die Gewerbesteuereinnahmen erheblich ein. 2003 zahlte die Bayer AG in Leverkusen „praktisch keinen Cent“, wie es der damalige Stadtkämmerer ausdrückte, im Etat klaffte ein Defizit von 90 Millionen Euro. Bis heute hängt Leverkusen an den Entscheidungen der Unternehmensführung. 2014 fehlten der Stadt rund 28 Millionen Euro – die Hälfte der geplanten Gewerbesteuereinnahmen –, weil der Konzern nach einer Investition von seinem Recht Gebrauch machte, gezahlte Steuern zurückzuverlangen. Der Haushaltsplan war so von einem auf den anderen Tag nicht mehr zu gebrauchen. Das sei  im „tiefsten Maße frustrierend gewesen“, sagt Frank Stein, Kämmerer der Stadt Leverkusen. „Da musste ich erst mal durchatmen und zwei Nächte drüber schlafen.“

Trotzdem gebe es in Leverkusen nur wenige Möglichkeiten, einen breiteren Mittelstand anzusiedeln und so die Abhängigkeit zu reduzieren, sagt Stein. „Einerseits gibt es dafür natürliche Grenzen – zum Beispiel wegen fehlender Bauflächen. Andererseits sind Unternehmensansiedlungen im größeren Stil weder politisch noch von der Bevölkerung gewollt.“ Die Strategie der Zukunft laute deshalb: Bestehendes erhalten. „Zum Beispiel über reizvolle Gewerbesteuersätze für die Unternehmen, die schon hier sind.“

Ein Hauch einstiger Internationalität

In Sonneberg produzieren nur der Modelleisenbahn-Hersteller Piko und ein paar wenige Kleinbetriebe bis heute Spielwaren. Einer von ihnen ist die Teddybären-Manufaktur von Sina Martin. Die junge Unternehmerin leitet das Sonneberger Traditionsunternehmen Martin Bären in fünfter Generation. Mit der Herstellung handgemachter Teddybären bedient Martin heute eine Nische, sagt sie. „Mit der modernen Massenproduktion – zum Beispiel in den asiatischen Ländern – kommen wir nicht mehr mit, das ist klar. Wir produzieren Spielzeug für Menschen, die Spaß am Individuellen, am Selbstgemachten, am Regionalen haben, Sammler und Liebhaber.“

Verkauft werden die Martin-Bären vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Gelegentlich flattern aber auch Bestellungen aus ferneren Ländern wie Russland, Australien und Japan herein – ein Hauch der einstigen Internationalität der Sonneberger Spielzeugindustrie. Als sie acht Jahre alt war, hat ihre Großmutter Trude, die Martin Bären nach der Ausgliederung aus dem früheren VEB wiederaufbaute, ihr gezeigt, wie die Holzwolle mit Trichter und Stopfeisen in den Bären kommt. Eine außerordentlich anstrengende Arbeit, die Erfahrung und Geschick erfordere, erzählt Martin. Auch der Schnitt der Stoffe und das Besticken von Mund und Augen müssen gelernt sein. Ein Handwerk, das in der Weltspielwarenstadt langsam ausstirbt.

Die Herstellung eines Teddybären in der Manufaktur von Sina Martin. © Besim Mazhiqi, Schloß Holte-Stukenbrock

Nach dem Fall der Mauer musste sich die Wirtschaft in Sonneberg wegen des Niedergangs der Spielzeugindustrie grundlegend neu aufstellen. Man habe sich darauf konzentriert, Mittelständlern einen guten Standort zu bieten, sagt Bürgermeister Heiko Voigt. Standortpolitik hatte Priorität: passgenaue Infrastruktur schaffen, zügig Baugenehmigungen erteilen – der Staat als Dienstleister, nicht als Obrigkeit. Offenbar mit Erfolg: Sonneberg ist heute ein beliebter Standort für Unternehmen aller Couleur. Seit Jahren punktet die Stadt mit zweistelligen Wachstumsraten. „Viele der Unternehmen in Sonneberg suchen Mitarbeiter, um weiter wachsen zu können“, sagt Marco Kuhnt, Wirtschaftsförderer von Sonneberg. Nur sei die Region nach vielen Jahren der Abwanderung gen Westen ausgedünnt. Um die Unternehmen bei der Suche nach Fachkräften zu unterstützen, wirbt die Stadt unter anderem auf Messen – bis ins Ruhrgebiet. „In Sonneberg gibt es genug Arbeit, in anderen Regionen von Deutschland nicht. Eben dort wollen wir Menschen vom Standort überzeugen“, so Kuhnt.

Auch in Sonneberg ragt die Vergangenheit sichtbar in die Gegenwart. Das ehemalige sonni-Verwaltungsgebäude thront noch heute wie ein Denkmal über der Stadt. Ein graues Hochhaus, gebaut mit einer Menge DDR-Pragmatismus. Den einstigen Vorzeigebetrieb der DDR-Spielwarenwirtschaft gibt es nicht mehr. In der Sonneberger Innenstadt, in einem Ein-Euro-Laden, stapeln sich heute Kartons mit Spielwaren aus Fernost.

Der nächste Schock

In Leverkusen warten sie derweil auf den nächsten Schock in Sachen Strukturwandel: die Genehmigung der Kartellbehörden. Im September 2016 hatte Bayer angekündigt, den US-amerikanischen Biotechnologie-Konzern Monsanto übernehmen zu wollen. Durch den Zukauf könnten die Leverkusener zum weltweit größten Anbieter von Saatgut und Pflanzenschutz werden. Der vereinbarte Preis: 66 Milliarden Dollar. Es wäre die bisher teuerste Übernahme durch ein deutsches Unternehmen. Die Geschäftsfelder Gesundheit und Agrarwirtschaft würden im Unternehmen damit zu zwei etwa gleich großen Säulen. Eine Entscheidung der internationalen Wettbewerbshüter erwartet Bayer bis Ende 2017.

„Unter den Mitarbeitern gibt es natürlich auch Skepsis hinsichtlich der geplanten Übernahme“, sagt Bayer-Personalmanagerin Astrid Geissler. „Einige hätten es wahrscheinlich lieber gesehen, wenn die Pharmasparte gestärkt worden wäre.“ Nur, sagt Geissler, für 66 Milliarden Dollar gebe es im Pharmabereich kein geeignetes, in ähnlichem Maße wertschaffendes Übernahmeziel. Die Rationalität eines internationalen Konzerns ist eben nicht mehr unbedingt deckungsgleich mit den Interessen seiner Heimatstandorte. In Medien war nach der Übernahmeankündigung viel über den schlechten Ruf von Monsanto zu lesen. Der Konzern verwendet Biotechnologie zur gentechnischen Veränderung von Feldfrüchten wie Mais und vertreibt Pflanzenschutzmittel. Er schade der Umwelt und gerade auch den Entwicklungsländern, wo Monsanto seine Produkte vertreibt.

Klar ist: Sollte die Übernahme trotz aller Bedenken von Umweltaktivisten und Wettbewerbshütern gelingen, gewinnt der Bereich CropScience im Unternehmen weiter an Gewicht. Für die Mitarbeiter bedeutet das erneute Unsicherheit. Spart der Konzern damit in Zukunft im Pharmabereich? Nein, sagt Astrid Geissler, in den kommenden Jahren sicher nicht. Mindestens bis 2020 werde es keine betriebsbedingten Kündigungen bei Bayer geben, habe das Unternehmen mit den Arbeitnehmervertretern vereinbart. Außerdem bleibe die CropScience-Unternehmenszentrale und -Forschung im nordrheinwestfälischen Monheim und geplante Investitionen an deutschen Standorten würden nicht gestrichen. „Mutter“, sie kümmert sich wieder.

Dieser Text ist in leicht abgewandelter Form zuerst erschienen im Jahr 2017 in „Deutschland in Nahaufnahmen – Sozialreportagen aus dem Land der Sozialen Marktwirtschaft“ (ISBN 978-3-86793-792-4).



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