Südraum Leipzig: Perspektiven auf den Strukturwandel vor Ort
Der Südraum Leipzig ist einem umgreifenden Wandel unterworfen: Der Braunkohleabbau, die Ansiedlung energieintensiver Industrien und auch Umsiedlungsmaßnahmen hatten formende Wirkung. Nunmehr prägen das Landschaftsbild auch Windräder, Solarparks und das Leipziger Neuseenland, welches in den letzten 30 Jahren durch Flutungen der Tagebaulöcher entstanden ist.
In der Region ist also eine mehrfache Systemtransformation sichtbar und über Generationen hinweg spürbar. Die Menschen erfahren seit langem und fortlaufend die machtvolle Wirkung wirtschaftlich-politischer Strukturen und deren Verschiebungen. Aber fühlen sie sich deshalb entmächtigt? Welchen Blick haben sie auf die Entwicklungsmöglichkeiten im Strukturwandel heute?
Fünf Perspektiven auf die Entwicklungsmöglichkeiten
Dieser Frage sich das Fraunhofer ISI in Leipzig als Teilstudie des Projekts GENESIS. Wir führten Interviews mit 22 Personen durch, die seit mindestens zehn Jahren in der Region leben und eng mit dem Südraum verbunden sind. Es sind Menschen, die in ihrem beruflichen und privaten Umfeld mit einer besonders breiten Vielfalt an Meinungen und Kontexten in Berührung kommen (z.B. im Rettungswesen oder Einzelhandel) und diese mitgestalten. Ihre individuellen Einstellungen zu Entwicklungsmöglichkeiten wurden untersucht und fünf Perspektiven kategorisiert.
Resilient-zuversichtliche Perspektive
Die resilient-zuversichtliche Perspektive betrachtet den Strukturwandel und dessen Gestaltung als Chance für eine nachhaltige Zukunft und bewertet den bisher eingeschlagenen Weg positiv. Sie sieht die Notwendigkeit gesellschaftlichen Engagements, gefördert durch eine bewusst gewählte optimistische Einstellung.
Besorgt-kritische Perspektive
Ganz im Gegensatz dazu besteht aus besorgt-kritischer Perspektive Skepsis gegenüber Veränderungen und der Wunsch nach Sicherheit in der Region durch bedachtsameren Fortschritt. Hier wird die Verantwortung für Veränderungen mehr auf Seite der Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung gesehen.
Humanistisch-pragmatische Perspektive
Die humanistisch-pragmatische Perspektive zeichnet sich in besonderem Maße von Überlegungen darüber aus, wie sich die Kapazität, auf regionale Entwicklung Einfluss nehmen zu können, zwischen lokaler Bevölkerung und überregionalen Akteuren verteilt. So erkennt man den Wert und die Notwendigkeit lokalen Engagements, kommt aber auch immer wieder auf globale wirtschaftliche und geopolitische Dynamiken zurück, die dem individuellen Einfluss und Engagement Grenzen setzen. Hier werden zum Beispiel Standortentscheidungen großer Unternehmen im Kontext des globalen Wettbewerbs genannt.
Perspektive gesellschaftlicher Neuerung
Konkrete Handlungsfelder betonen die Perspektiven 4 und 5. Die Perspektive gesellschaftlicher Neuerung unterstreicht die Bedeutung der Förderung gesellschaftlicher Teilhabe und der Lebensqualität in der Region, der Gesundheits- und Pflegeversorgung, der ländlichen Mobilität, und von Informations- und Kulturangeboten für junge Menschen. Hier wird auch die Erwartung an ein schnelleres Umdenken in der regionalen Gesellschaft in Richtung sozial-ökologischer Entwicklung deutlich.
Perspektive des industriellen Fortschritts
Die Perspektive des industriellen Fortschritts sieht wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt als Schlüssel zur regionalen Entwicklung und auch als Kernthema des Strukturwandels allgemein. Diese Perspektive sieht die Veränderungskapazität und Impulse eher auf Seiten großer Wirtschafts- und Technologieakteure.
Kritik an Diskussionskulturen
Als ein verbindendes Thema zog sich die kritische Betrachtung verschiedener Medien und Kommunikationsformen und der Wunsch nach sachbezogener Diskussion und glaubhaftem Faktenwissen durch die Gespräche. Politische Rhetorik und ideologisierte Debatten wurden oft kritisiert. Zukünftige Forschung sollte daher die Dynamiken genauer untersuchen, durch die sich verschiedene Meinungsbilder entwickeln und welche Rolle unterschiedliche Informationsquellen dabei spielen.
So fließen in die Einstellungsmuster neben individuellen Erfahrungen und Austausch im persönlichen Umfeld auch Berichte und Informationen traditioneller sowie sozialer Medien mit ein. Hier stellen sich zahlreiche Fragen – unter anderem: Welche Formen von Wissen und Kommunikation sind notwendig, um planerische und politische Entscheidungsabläufe der Gesellschaft zu verdeutlichen? Wie kann sich die Forschung hier (neu) positionieren, um als legitime und glaubwürdige Wissens-Schafferin in der Transformation mitzuwirken?
Transformationsvokabular auf den Prüfstand stellen
Wir sollten auch das sich mittlerweile etablierende Transformationsvokabular hinsichtlich seiner vielfältigen Bedeutungen qualitativ durchleuchten. Begriffe wie Fachkräftemangel, Digitalisierung und Bürokratieabbau wurden in unseren Gesprächen durchgängig differenziert diskutiert und hinterfragt.
So geht es zum Beispiel beim Thema Fachkräftemangel aus dem Blick der Azubis unter anderem auch um täglich gelebte Firmenkultur und Qualität der Unterkünfte. Für andere spielten vor allem die Einstellungen der Arbeitgeber hinsichtlich Altersstruktur und die Mobilitätsnetzwerke innerhalb des gesamten Leipziger Raums eine Rolle. Schließlich gewann der Begriff auch eine politisch-historische Dimension mit der Frage, inwieweit in der gegenwärtigen Debatte der bestehenden regionalen Fachexpertise ausreichend Wert beigemessen wird.
Möglichkeiten für Engagement erwünscht
Allgemein sehen wir bei den Menschen auch den Wunsch, in der Regionalentwicklung explizit mitzuwirken, vor allem durch Mit-Machen, nicht nur Mit-Reden. Es mag sein, dass hier eine leichte Verzerrung in unserer Studie vorliegt, da sich vor allem gesellschaftlich bereits engagierte Teilnehmende eher zu einem ein- bis zwei- stündigen Interview bereit erklärten.
Hier steht die Forschung vor der Herausforderung, Politik und Verwaltung bei der Entwicklung einer Teilhabekultur zu unterstützen, durch die längerfristig vielfaltige Gruppen der Gesellschaft aktiv einbezogen werden. Mittels welcher Formate können und wann wollen Menschen über punktuelle Befragungen hinaus auch über die Laufzeit einzelner Projekte kontinuierlich eingebunden werden? Wie kann eine längerfristige Dynamik des gemeinsamen Tuns entstehen?
Lokale Organisationen schaffen Räume für Dialog
Und schließlich gilt es für die Forschung auch, die oft „unsichtbare Arbeit“, durch die Infrastrukturen überhaupt funktionieren, sichtbar zu machen und zu fördern. Neben den großen Fußabdrücken gefluteter Seenlandschaften finden sich auch kleinere Spuren ständiger Reparatur- und Instandhaltungsarbeit im Südraum Leipzig. Hier sollten lokale Probleme der Instandhaltung, beispielsweise die Reparatur von Schleusen, möglichst schnell adressiert werden.
Naturschutzorganisationen heilen nicht nur eine über lange Zeit verletzte Umwelt. Kulturorganisationen retten nicht nur Erinnerungen. Diese Organisationen schaffen auch Räume für Dialog in der Gesellschaft und entwickeln neue Mensch-Umweltbeziehungen in einer sich ständig verändernden Landschaft. Ihre Arbeit trägt entscheidend dazu bei, dass sich Menschen befähigt fühlen, strukturelle Veränderungen mitzugestalten.

Im Bergbau Technik Park am Markkleeberger See, ehemaliger Tagebau Espenhain, arbeiten ehemalige Tagebauarbeiter ehrenamtlich an der Reparatur und Instandhaltung der Maschinen. ( © C. Richter).

Im Wald in der Umgebung des heutigen Bockwitzer Sees. Ein Ort, an dem in den 1990er Jahren im Rahmen der Demokratie- und Umweltbewegung Gottesdienste abgehalten wurden, zeugt von “change agents“ der Region. ( © C. Richter)
Fazit
Der Strukturwandel ist Bestandteil des Lebens vor Ort und erfordert im Verständnis der fünf Perspektiven die Anerkennung vergangener Erfahrungen und die gestaltende Zusammenarbeit mit aktiven Akteuren der Regionalentwicklung. Der Kohleausstieg hat hierbei sowohl energiepolitische als auch identitätsprägende und verändernde Bedeutung.
Für die Menschen vor Ort bedeutet dies auch Sehnsucht nach neuen Zielsetzungen und sinnstiftender Teilhabe. Die Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten, die darin liegen, werden erkannt und Gestaltungwillen deutlich formuliert. Umso mehr bedarf es hier klarer Angebote, in die Mitverantwortung zu gehen. Hierbei ist ein differenziertes Vorgehen notwendig, um sowohl infrastrukturelle Herausforderungen zu bewältigen als auch lokale sozial-ökologische und wirtschaftliche Innovationen zu fördern.
Langfristig sollten Wege eingeschlagen werden, die historische Kontinuität und neue Impulse vereinen, um die Lebendigkeit der Region weiterzuentwickeln.
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