Lohnschwäche hemmt Wachstum

In Deutschland explodieren die Vermögen. Doch obwohl die Wohlhabenden über reichlich Geld und Ersparnisse verfügen, wird nicht ausreichend investiert. Grund ist die fehlende Nachfrage – durch eine politisch gewollte Lohnschwäche. Das potenzielle Wachstum in Deutschland kann daher nicht ausgeschöpft werden.

Ein seltsames Phänomen ist zu beobachten: In den Industrieländern nimmt die Produktivität kaum noch zu. Der technische Fortschritt lahmt, so dass die Gesellschaften nicht so reich sind, wie sie es sein könnten.

Aber warum schwächelt der Produktivitätszuwachs? Seit Jahren wird diese Frage debattiert, ohne dass sich eine allgemein akzeptierte Diagnose herausgebildet hätte. US-Ökonom Larry Summers hat die These der „säkularen Stagnation“ aufgebracht: Entwickelte Volkswirtschaften würden kaum noch wachsen, weil die Bedürfnisse weitgehend gesättigt seien. Investitionen würden sich nicht mehr lohnen, da der Konsum tendenziell sinkt und stattdessen die Ersparnisse zunehmen.

Richtig ist, dass die Vermögen geradezu explodieren. Allerdings konzentriert sich der Besitz bei den reichsten 30 Prozent der Bundesbürger. Der Rest der deutschen Bevölkerung hat ein zu geringes Einkommen, als dass sich nennenswertes Vermögen aufbauen ließe: Die unteren 70 Prozent der Bundesbürger kommen gemeinsam auf nur 11,69 Prozent des Volksvermögens, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ermittelt hat.

Vermögen ist in Deutschland extrem ungleich verteilt: Allein das reichste Tausendstel, die obersten 0,1 Prozent, besitzen bereits 17,41 Prozent des gesamten Volksvermögens. Die obersten fünf Prozent kommen gemeinsam auf mehr als die Hälfte. Doch obwohl die Wohlhabenden über reichlich Geld und Ersparnisse verfügen, wird nicht ausreichend investiert.

Die „Investitionslücke“ ist in Deutschland sehr markant, wie das DIW in einem internationalen Vergleich konstatiert hat. Im Jahr 1999 betrug die deutsche Investitionsquote rund 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts; 2012 waren es nur noch knapp über 17 Prozent. Im Durchschnitt lag die deutsche Investitionsquote damit um etwa vier Prozentpunkte niedriger als in der OECD insgesamt.

Einkommensungleichheit und Produktivität

Es wird zu wenig investiert, weil die Nachfrage fehlt: Die realen Bruttolöhne sind in Deutschland über lange Jahre kaum gestiegen. Zwischen 2001 und 2016 betrug das kumulierte Plus für die Arbeitnehmer ganze 3,4 Prozent, wie die Hans-Böckler-Stiftung errechnet hat.

Diese Lohnschwäche hatte politische Ursachen: Die Verhandlungsposition der Gewerkschaften wurde systematisch geschwächt. Dazu gehörten unter anderem die Hartz-Gesetze, die faktisch jeden Job und jede Bezahlung für zumutbar erklärten, ohne dass es bis 2015 einen Mindestlohn gegeben hätte. In Deutschland entstand, politisch gewollt, der größte Niedriglohnsektor in ganz Europa.

Löhne und Produktivität hängen jedoch eng miteinander zusammen. Allgemein akzeptiert ist, dass die Löhne nicht schneller steigen sollten als die Produktivität, weil dies zu einer Lohn-Preis-Spirale und damit zu Inflation führen würde. Aber das Umgekehrte wird oft übersehen, obwohl es genauso zwingend ist: Die Löhne dürfen nicht hinter der Produktivität zurückbleiben, da sonst langfristig die Nachfrage fehlt und die Waren und Dienstleistungen nicht abgesetzt werden können, die der technische Fortschritt eigentlich ermöglichen würde. Löhne und Produktivität müssen im Gleichschritt steigen, wenn kontinuierlich investiert und das potenzielle Wachstum voll ausgenutzt werden soll.

Doch die Löhne steigen schon lange nicht mehr mit der Produktivität, was sich auch an der strukturbereinigten Lohnquote ablesen lässt, die den Einkommensanteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen misst: 1995 machte sie noch 73,5 Prozent aus; bis 2017 ist sie auf 69 Prozent gefallen, wie das Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) berechnet hat.

Die fallende Lohnquote lässt sich übrigens nicht damit erklären, dass es hochproduktive „Superstar-Firmen“ gibt, während andere Unternehmen abgehängt werden (Jens Südekum). Denn die Löhne der Einzelnen richten sich sowieso nicht nach ihrer individuellen Produktivität. Um ein plakatives Beispiel zu wählen: Die Produktivität der Lehrer hat sich im vergangenen Jahrhundert gar nicht erhöht, denn 1918 unterrichteten sie auch schon etwa 26 Schüler pro Klasse. Trotzdem verdient ein Lehrer heute real etwa zehn Mal mehr als sein Kollege im Jahr 1918 – weil die Produktivität der Gesamtwirtschaft entsprechend gestiegen ist.

Die volkswirtschaftliche Gesamtproduktivität entscheidet, wie viel sich auf alle verteilen lässt. Aber wer wie viel individuell von diesem Kuchen erhält, hat mit Macht- und Anerkennungsstrukturen zu tun. Ein besonders krasses Beispiel sind die Manager der DAX-Konzerne, die 71 Mal so viel verdienen wie ihre Angestellten. Niemand wird behaupten, dass diese Manager auch 71 Mal so produktiv sind. Individuelle Produktivität ist schlicht nicht messbar, zumal fast immer im Team gearbeitet wird. Daher zählt am Ende der soziale Verteilungskampf – den die Gewerkschaften und die Angestellten in den vergangenen zwanzig Jahren verloren haben, wie die sinkende Lohnquote zeigt.

Dieses Phänomen ist weltweit zu beobachten: Überall bleiben die Löhne hinter der Produktivität zurück, ob in den USA, in Japan oder in der Eurozone. Überall fehlt daher die zusätzliche Massennachfrage, die dafür sorgen würde, dass sich gesteigerte Investitionen lohnen. Aus diesem Teufelskreis wird man nicht herausfinden, indem man einseitig auf Angebotspolitik setzt.

Die falsche Medizin

Jens Südekum hat einige Vorschläge gemacht, wie der Staat den Firmen entgegenkommen und Angebotspolitik betreiben könnte. Doch dabei offenbart sich die Hilflosigkeit dieses Ansatzes: So soll die Regierung vermehrt in Verkehrsnetze, Digitalisierung und Bildung investieren. Zwar ist nichts dagegen einzuwenden, dass sich der Staat stärker engagiert – aber es wäre realitätsfern zu glauben, dass die privaten Investitionen bisher ausbleiben, weil die Firmen keine Straßen bis zu ihren Werkstoren hätten.

Auch der zweite Vorschlag setzt nicht am Problem an: Der Staat soll die Steuern für die Firmen weiter senken, indem Forschung und Entwicklung noch einmal gesondert abgeschrieben werden dürfen. Doch diese Kosten können sowieso schon steuerlich geltend gemacht werden, und für weitere Privilegien besteht kein Anlass. Denn die allermeisten Firmen haben kein Finanzierungsproblem und machen hohe Gewinne. An Geld fehlt es nicht, sondern an der Motivation zu investieren. Multimilliardär Warren Buffett hat es schön auf den Punkt gebracht: Unternehmen investieren, wenn sie zusätzliche Profite erwarten – wieviel Steuern sie hinterher zahlen ist nachrangig.

Es ist also ganz schlicht: Die Löhne müssen mit der Produktivität steigen, sonst lohnen sich viele Innovationen nicht. Dies ist übrigens kein keynesianischer Gedanke, sondern war einst auch bei den Ordoliberalen verankertes Wissen. Manchmal führt es in die Zukunft, in die Vergangenheit zurückzukehren.



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