Ist die Sozialdemokratie als Gesellschaftsform in einer Krise?

Andreas EscheProgramm Megatrends

Eine Zusammenfassung von „Sozialer Kapitalismus!“ – Paul Colliers Manifest gegen den Zerfall der Gesellschaft.

Der britische Ökonom Paul Collier versucht mit seinem 2018 erschienenen Buch, die existenzielle Krise des modernen Kapitalismus aufzudecken. Nach Ansicht des Autors hat die Sozialdemokratie (im Englischen: „Social Democracy“) ihr Versprechen, eine kooperative und moralisch reziproke Gesellschaft zu schaffen, nicht gehalten. „Sozialer Kapitalismus!“ ist somit Colliers Aufruf, die Denkweise der modernen Sozialdemokratie neu zu justieren, kapitalistische Gesellschaften auf ein neues Fundament zu stellen und dem Kapitalismus der Zukunft somit mehr Wohlstand und Ethik abzugewinnen. Was schlägt Collier vor?

„Tiefe Risse bedrohen den Zusammenhalt in unseren Gesellschaften“

Für Collier sind Geographie, Bildung und Wertvorstellungen die sozialen Ursachen der Krise. Zunächst entscheidet der Wohnort häufig über den sozialen und wirtschaftlichen Status eines Menschen: überall auf der Welt sind die Metropolregionen dem Rest der Nation voraus. Sie sind nicht nur reicher und wohlhabender geworden, sondern entfernen sich zunehmend auch sozial von ihrem nationalen Umfeld. Bildung verleiht dem Problem eine weitere Dimension. Laut Collier sind die „neuen Erfolgreichen weder Kapitalisten noch gewöhnliche Arbeiter“, sondern gut ausgebildete Menschen. Diese neue soziale Schicht hat eigene Wertvorstellungen entwickelt, die sie immer mehr von den weniger Gebildeten distanzieren. Diese Divergenzen haben in unseren Gesellschaften neue Ängste, Frustrationen und Wut hervorgerufen. Noch wichtiger ist, dass sie auf der politischen Ebene den „charismatischen Populisten“ und „verführerischen Ideologen“ in die Hände spielen.

„Triumph und Niedergang der Sozialdemokratie“

Nach Collier bildet Kooperation das Fundament der Sozialdemokratie. Er zeigt auf, dass kooperative politische Maßnahmen und Organisationen in der Nachkriegszeit der pragmatischste Weg waren, um den damaligen Herausforderungen zu begegnen – beispielsweise durch eine staatliche Gesundheitsversorgung, Rente, Bildung und internationale Organisationen. Im Laufe der Jahre war die Mitte des politischen Spektrums in ganz Europa direkt durch die Wirksamkeit dieser Maßnahmen bestimmt. Allerdings entfernten sich die politische Mitte um die 1980er Jahre „von der praktischen Reziprozität auf kommunaler Ebene“ und wurde von einer Gruppe von Menschen vereinnahmt, die „einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf sie gewann“ – die Intellektuellen der Mittelschicht. Die neue herrschende Klasse war nicht mehr durch den kollektiven Glauben an Gegenseitigkeit getrieben, sondern durch eine akademisch verankerte Selbstzentriertheit.

„Menschen brauchen das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, und der Kapitalismus bietet ihnen das nicht“

Die egozentrischen Intellektuellen glauben, dass die Gesellschaft eine schiere Ansammlung egozentrischer Individuen ist, bei der alle nach einem – so Collier – „egoistischen Gen“ handeln. Dies sei jedoch grundsätzlich falsch, da der Mensch per se moralisch motiviert ist. Unsere gemeinsamen Werte sind das Rückgrat unserer Glaubenssysteme, unseres Handelns und damit der Narrative in unseren Gesellschaften. Colliers Meinung nach ist das Hauptproblem des Kapitalismus sein Mangel an moralischer Anerkennung. Die Gesellschaft braucht einen ethischen Kapitalismus, dessen Standards auf einem gemeinsamen Wertesystem aufbauen und von den zentralen sozialen Einheiten weitergetragen wird: die Familie, die Unternehmen und der Staat.

„Pragmatismus sagt uns, dass dieser Prozess sich an jeweiligen Kontext und an evidenzbasierten analytischen Methoden orientieren muss“

Der Autor plädiert für Pragmatismus als Instrument, um den Kapitalismus in einen ethischen Kapitalismus zu verwandeln. Pragmatismus gestattet es, Werte neu zu definieren, die auf den ersten Blick widersprüchlich sein könnten, indem der Kompromiss jedoch aus dem Kontext heraus entsteht. Darüber habe Pragmatismus einen gemeinschaftlichen Ursprung, „da die Aufgabe der Moral darin sieht, unsere Handlungen auf die Werte unserer Gemeinschaft und die besonderen Umstände des [jeweiligen] Kontextes abzustimmen“. Durch die Verbindung von Moral und Pragmatismus könne ein zielgerichteter und ethischer Kapitalismus erreicht werden.

Die Zukunft des Kapitalismus

Der erste Schritt zum ethischen Kapitalismus ist die Wiederherstellung der Ethik des Staates, der Unternehmen, der Familien und der Welt.

Als Weg zu einem ethisch orientierten Staat schlägt der Autor Patriotismus vor – Patriotismus als eine ortsbezogene, gemeinsame Identität, die den Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit und der gegenseitigen Verpflichtung vermitteln könnte.

Für die Gründung ethischer Unternehmen empfiehlt Collier, die Machtstrukturen der Firmen zu verändern und die Interessen der Arbeitnehmer in den Vorständen der Unternehmen zu vertreten. Er empfiehlt auch progressive Steuersysteme, die Regulierung von Unternehmen nach Prinzipien des öffentlichen Interesses und deren Sensibilisierung für ihre soziale Verantwortung in der Gesellschaft.

Um Ethik wieder in den Familien zu etablieren, plädiert Collier für die Wiederherstellung von auf Gegenseitigkeit beruhenden Wertvorstellung, die besonders von der Langlebigkeit der modernen Familie profitieren.

Und um weltweit wieder eine neue Ethik zu etablieren, schlägt er einen neuen „Mehrzweck-Klub“ vor, der aus China, Indien, den USA, der EU, Russland und Japan besteht. Dieser Klub „würde einen so großen Teil der globalen Wirtschaftsleitung und der militärischen Fähigkeit repräsentieren, dass er ein gemeinsames Interesse daran hätte, globale Probleme zu lösen, selbst wenn Nichtmitglieder sich als Trittbrettfahrer erweisen sollten.“

Der zweite Schritt besteht darin, die Gesellschaften inklusiver zu machen, indem die soziale Divergenz zwischen den Metropolen und der „zerbrochenen Stadt“ abgebaut wird und Familien in Not geholfen werden.

Der Autor schlägt die Besteuerung der Agglomerationsgewinne vor, um die Lücke zwischen Metropolen und vernachlässigten Städten zu schließen. Damit könnte geografischen Disparitäten begegnet werden, insbesondere dann, wenn die Steuereinnahmen zur Erneuerung „zerbrochener Städte“ verwendet werden.

Darüber hinaus erklärt Collier, dass sozial maternalistische Maßnahmen der Schlüssel sind, um Familien in Not zu unterstützen und die Gesellschaft inklusiver zu machen. Diese Art von Politik folgt einem System, das seine unterstützende Rolle anerkennt aber ihre Unterstützung nicht forciert – durch den Abbau geografischer Disparitäten im Bereich der Bildung oder auch durch eine kontinuierliche Betreuung für junge Familien, Kinder und Jugendliche.

Der letzte Schritt: die Nachteile der Globalisierung anerkennen.

Für Collier ist die Anerkennung der negativen Auswirkungen der Globalisierung, multinationaler Konzerne und der Migration auch von grundlegender Bedeutung für die Erreichung eines ethischen Kapitalismus. Daher müssen bestimmte Fragen gestellt werden:

„Was passiert mit den Verlierern der Globalisierung?“

„Wie können globalisierte Unternehmen besser reguliert werden?“ und

„Wie viel Migration nützt einer Gesellschaft?“

Wie wir solche Fragen künftig beantworten wird entscheidenden Einfluss darauf haben, wie der Weg in die Zukunft des Kapitalismus aussieht.

Paul Collier: Sozialer Kapitalismus! Siedler Verlag. 2019

Hinweis: Der Beitrag ist in einer früheren Fassung bei den Kolleginnen und Kollegen von ged-project.de erschienen.



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