Ist Deutschland ein verschnarchtes Land?

Armando García SchmidtBertelsmann Stiftung

Dr. Torben StühmeierMonopolkommission

Dr. Marcus WortmannBertelsmann Stiftung

Deutschland ist nur knapp an einer Rezession vorbeigeschrammt. Das Bruttoinlandsprodukt der größten Volkswirtschaft Europas legte 2019 nur noch um 0,6 Prozent zu, wie das Statistische Bundesamt letzte Woche bekannt gab. Gerade die exportorientiere Industrie hat ein hartes Jahr hinter sich: Handelsstreitigkeiten und das Gezerre um den Brexit drückten auf Stimmung und Wachstum.

Doch viele Probleme sind hausgemacht. Digitalisierung und Globalisierung rütteln an etablierten Strukturen. Doch die digitale Transformation verläuft in Deutschland sehr träge. Bei vielen – gerade kleinen und mittleren Unternehmen – ist sie noch gar nicht angekommen, so ein Kernergebnis unserer bisherigen Studien im Projekt „Produktivität für inklusives Wachstum“ (siehe zum Beispiel hier und hier). Das hat langfristig Konsequenzen für die Wettbewerbsfähigkeit und die Teilhabe am Wachstum von morgen.

Was muss Wirtschaftspolitik, was müssen Unternehmen und Sozialpartner tun, damit in Deutschland die Bedingungen für Wettbewerbsfähigkeit und Teilhabe in einer sich wandelnden Welt gelegt sind? Das haben wir am Dienstagabend auf unserer Podiumsdiskussion „Produktivität 4.0: Wettbewerbsfähigkeit und Teilhabe in einer sich wandelnden Welt“ in Berlin diskutiert.

Die führenden Köpfe der Arbeitnehmer- und Unternehmensverbände saßen mit am Tisch: Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, und Prof. Dieter Kempf, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, diskutierten gemeinsam mit Dr. Nicola Brandt, Leiterin des OECD Berlin Centre und Prof. Marcel Fratzscher, Ph.D., Präsident des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, über notwendige Weichenstellungen für die Zukunft.

„Dieses Land ist verschnarcht,“ so die prägnante Zusammenfassung vom BDI-Vorsitzenden Kempf. Damit kritisierte er, dass der dringend notwendige Ausbau der 5G-Netze viel zu langsam vorankomme. Stichwort: Infrastruktur. Hier waren sich alle Teilnehmer einig. Die Politik müsse deutlich mehr Geld in die Hand nehmen, um die digitale und Verkehrsinfrastruktur schleunigst auszubauen. Auch die soziale Infrastruktur von Kindergärten bis hin zu Gesundheitseinrichtungen – gerade im ländlichen Raum – dürfe nicht weiter ausbluten, fügte DGB-Chef Hoffmann hinzu.

Doch nicht nur in der Politik wird geschlafen. Auch die Wirtschaft müsse deutlich mehr investieren und sich öffnen. „Es gibt einen Investitionsstau in den Köpfen.“ Hiermit ging selbst BDI-Chef Kempf mit seiner eigenen Klientel hart ins Gericht. Die deutschen Unternehmen waren bislang Weltklasse darin, bestehende Produkte und Technologien inkrementell bis zur Perfektion weiterzuentwickeln. Doch das reicht heute nicht mehr. Heute dürfe man nicht mehr inkrementell, sondern müsse disruptiv denken.

Doch das sei in den Führungsetagen vieler – gerade mittelständischer – Unternehmen noch nicht angekommen. Das deckt sich auch mit Erkenntnissen von Bertelsmann Stiftung und der OECD, wie Nicola Brandt betonte. So werde in Deutschland deutlich weniger in Wissenskapital investiert, als in vergleichbaren Volkswirtschaften. Doch Investitionen in Forschung und Entwicklung, in Software, aber auch in die Organisation der Unternehmen seien dringend notwendig, um in der fortschreitenden Digitalisierung Schritt halten zu können.

Derzeit finden diese Investitionen nur bei den bereits innovativen Technologieführern statt. In der Breite der Unternehmenslandschaft mangelt es. Die Konsequenzen für die Teilhabe werden bereits heute sichtbar, so DGB-Chef Hoffmann. Es gebe eine gespaltene Lohnentwicklung. Arbeitnehmer in einer kleinen Gruppe von hochproduktiven Unternehmen verdienen sehr gut. Für eine große Gruppe von Arbeitnehmern – vor allem in Dienstleistungssektor – bleibt die Lohnentwicklung jedoch zunehmend hinter der bereits geringen Produktivitätsentwicklung zurück.

Wie kann also gegengesteuert werden? Die Antworten sind vielschichtig, doch für DIW-Präsident Fratzscher liegt die Antwort in Europa. Er fordert eine europäische Industriepolitik mit gemeinsamen Wettbewerbsregeln und den Abbau von nationalstaatlichen Regulierungen. Nur so können Deutschland und Europa im Wettbewerb mit den USA und China bestehen. Es bleibt spannend zu diskutieren, wie eine solche Industriepolitik aussehen kann.

Im Bild von links nach rechts: Dr. Ursula Weidenfeld (Moderatorin), Prof. Dieter Kempf (BDI), Reiner Hoffmann (DGB), Dr. Nicola Brandt (OECD), Prof. Marcel Fratzscher (DIW).



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