Inklusives Wachstum: Wer alles soll inkludiert werden – und warum?
Befürchtungen, dass die Wachstumskräfte westlicher Wirtschaften sich erschöpft haben, sind weit verbreitet. Über die Ursachen hierfür gibt es eine breite Diskussion, die, wie üblich, Kräfte auf der Nachfrage- wie auf der Angebotsseite beleuchten. Was die Angebotsseite anbelangt, steht eine für Laien schwer verständliche Größe im Zentrum: die totale Faktorproduktivität.
Angenommen, der output einer Volkswirtschaft lässt sich als eine Funktion der inputs von Kapital und Arbeit modellieren Y=f(K,L) , dann folgt daraus , dass der output pro Person, also die Arbeitsproduktivität, eine Funktion des Einsatzverhältnisses von Kapital (K) und Arbeit (L für „Labour“) ist: Y/L = f(K/L,1) oder Y/L = F(K/L). Wenn diese Gleichung gilt, hängt die weitere Entwicklung einer Volkswirtschaft vollständig ab von der Steigerung der Kapitalintensität K/L.
Die empirische Wirtschaftsforschung (z.B. Abramovitz 1993, Hemmer/Lorenz 2004) hat nun gezeigt, dass mit diesem einfachen Modell sich die Entwicklung ganzer Wirtschaften nicht gut erklären lässt. Daher hat sie dieses Modell um einen weiteren, multiplikativen Faktor A ergänzt, der für den technischen Fortschritt steht. Der terminus technicus ist „totale Faktorproduktivität“. Seine Berücksichtigung führt zu dem erweiterten Modell: Y/L = AF(K/L).
Eine weitere, aussichtsreiche Abwandlung des Grundmodells ist die Ersetzung des Faktors Arbeit (L) durch den Faktor „skill“. Wie Hanushek und Woessmann (2015) gezeigt haben, lassen sich z.B. die Wachstumsunterschiede in der OECD Welt sehr gut durch Unterschiede im „Wissenskapital“ (symbolisiert mit H, für Humankapital) erklären. Diese Einsicht lässt sich auch auf Unternehmensebene herunterbrechen.
Hoffnungen ruhen auf technischem Fortschritt
Unter der Voraussetzung, dass an der Stellschraube der Kapitalintensität nicht mehr viel gedreht werden kann – die neoklassische Wachstumstheorie geht davon aus, dass dies im Gleichgewicht gilt -, ruhen alle Hoffnungen auf zukünftiges Produktivitätswachstum auf dem technischen Fortschritt, der mit Größe A oder H erfasst wird. Aber auch diese Hoffnungen könnten vergebens sein. Wie ein Blick auf die Entwicklung westlicher Wirtschaften zeigt, sind die Wachstumsraten in den letzten dreißig Jahren tendenziell immer weiter zurückgegangen.
Die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland ist ein schlagendes Beispiel. Zwischen 1950 und 1960 wuchs die Wirtschaft im Jahr durchschnittlich um 8,2 Prozent, 2010 bis 2020 gerade noch einmal um ein Prozent. In diesem mageren Ergebnis ist allerdings der Pandemie-bedingte Einbruch um minus 5 Prozent des letzten Jahres enthalten. Ich erwähne das, um einer zu pessimistischen Interpretation der Zahlen vorzubeugen.
Das Projekt „Produktivität für inklusive Wachstum“ der Bertelsmann Stiftung, welches hinter diesem Blog steht, teilt offensichtlich die Befürchtung erlahmender Wachstumskräfte. Wenn ich den Titel richtig verstehe, wird wirtschaftliches Wachstum unter die Bedingung der Inklusivität gestellt. Was soll das heißen? Wer oder was soll eingeschlossen werden? Alle Länder, alle Unternehmen, alle Erwerbstätigen, alle Bevölkerungsgruppen? Und was ist der Maßstab für gelungene Inklusion: Vollbeschäftigung, gleiche Einkommen oder wenigstens gleiche Wachstumsraten aller Einkommen inklusive der Einkommen der Rentner und Pensionäre? Soll die Einkommensentwicklung unabhängig von den Beiträgen zur Erstellung des Sozialprodukts oder relativ zu diesen sein?
„Die schwächelnde Produktivität muss wieder stärker steigen – nicht nur für wenige, sondern in der Breite“ – so lautet das Motto des Projekts. Die Produktivität schwächelt nicht nur, sie ist darüber hinaus auch noch ungleich zwischen Unternehmen, Branchen und Regionen verteilt. Diese Feststellung wirft viele Fragen auf. Warum schwächelt sie und warum variiert sie zwischen Branchen und Regionen? Und vor allem, was ist das Problem? Divergenzen in der Produktivitätsentwicklung übersetzen sich in Einkommensdivergenzen und zunehmende regionale Disparitäten, lautet eine Antwort (A.G. Schmidt). Aber was ist daran falsch, wenn Einkommensdivergenzen oder sogar zunehmende Einkommensdivergenzen ihre Wurzel in (zunehmenden) Produktivitätsunterschieden haben? Mit dieser Frage beschäftige ich mich im Folgendem.
Niedriglohnsektor gehört zur Realität der Wirtschaft
Die Entwicklung der Löhne und Gehälter in der „alten“ Bundesrepublik war geprägt von der produktivitätsorientierten Lohnpolitik. Damit war gemeint, dass alle Gruppen von abhängig Beschäftigten an den Früchten des technischen Fortschritts gleichmäßig beteiligt werden sollten, auch wenn sie nicht gleichmäßig zu diesem Fortschritt beitrugen. Allerdings blieben diese Löhne und Gehälter durchaus unterschiedlich verteilt.
Solange sich darin Qualifikationsunterschiede widerspiegelten, galt das nicht als anstößig. Nur die Zuwächse sollten gleichverteilt werden, nicht die zugrundeliegende unterschiedliche Verteilung nach Qualifikationen. Das galt sogar noch für die aus dem Erwerbsleben aus Altersgründen Ausgeschiedenen. Deren Einkommen sollten eine Lebensleistung widerspiegeln und also gerade nicht nach dem Ende des Berufslebens in eine Einheitsrente übergehen.
Diese Politik geriet schon vor der Wiedervereinigung in schwieriges Fahrwasser, in der durch die Beitrittsgebiete vergrößerten Bundesrepublik war sie nicht mehr aufrechtzuerhalten. Eine Implikation dieser Politik war, dass Unternehmen, welche auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig waren, aus dem Markt auszuscheiden hatten. Solange der produktive Kern der Wirtschaft groß genug war (gemessen an den Absatzmöglichkeiten auf dem Weltmarkt), kam es trotzdem nicht zur Entstehung eines ausgedehnten Niedriglohnsektors, der heute zur Realität der Wirtschaft gehört.
Eine niedrige (oder niedrigere) Produktivität ist aber nicht nur typisch für den gewerblichen Niedriglohnsektor, sondern auch für große Bereiche der staatlich angebotenen Dienstleistungen. Das Bildungswesen, die öffentliche Verwaltung und Teile des Gesundheitswesens sind bekannte Beispiele für Wirtschaftssektoren, deren Produktivität im Vergleich zur Industrie geringer ist, weil der Rationalisierung auf diesen Feldern Grenzen gesetzt sind.
Die Forderung, die Löhne und Gehälter in diesen Sektoren sollten mit der allgemeinen Lohnentwicklung Schritt halten, lässt sich mit guten und mit schlechten Argumenten verteidigen. Ein gutes Argument ist, dass andernfalls die benötigten Arbeitskräfte zum Nachteil Aller aus diesen Sektoren abwandern würden, ein schlechtes Argument ist, dass unter allen Umständen Gleichheit des Wachstums der Arbeitsentgelte das Ziel sein muss.
Die Verfolgung dieses Ziels führt direkt in die Baumol’sche Kostenkrankheit des Dienstleistungssektors (Hartwig/Krämer 2017). Gleiche Lohnsteigerungen bei ungleicher Produktivitätsentwicklung bedeuten steigende Lohnstückkosten. In der Privatwirtschaft führen sie zum Ausscheiden der betroffenen Betriebe aus dem Markt, im Staatsdienst zu einer steigenden Belastung des Haushalts und damit zu steigender Steuerbelastung, wenn der Ausweg über steigende Staatsschulden vermieden werden soll. Irgendjemand bezahlt immer für die Politik der Lohnangleichung.
Eine solche Politik übersieht zumindest zweierlei. Erstens kann die Arbeitsleistung nicht nur prinzipiell in anderen Größen entlohnt werden als dem Gehalt, so z.B. durch angenehme Arbeitsbedingungen oder unterschiedliche Betroffenheit von Konjunkturausschlägen, sondern wird auch tatsächlich in diesen Größen remuneriert.
Zweitens ist unter normativen Gesichtspunkten nicht einzusehen, warum z.B. ein Student der Kunstgeschichte die gleichen Gehaltsaussichten im späteren Berufsleben haben soll wie eine Studentin der Ingeneurswissenschaften. Zum einen wird der Wert der Arbeit, so kann man schon bei Thomas Hobbes nachlesen, nicht durch ihre inhärenten Eigenschaften bestimmt, sondern dadurch, was sie in den Augen Dritter wert ist. Zum anderen kann für alle Berufsentscheidungen, für die ein Individuum selbst verantwortlich ist, legitim keine Kompensation eventueller Nachteile im späteren Berufsleben verlangt werden.
Ein bedenkenswertes Plädoyer
Es gibt Einkommensdivergenzen, an denen normativ gesehen nichts „falsch“ ist. Ein einschlägiger Kandidat hierfür sind Unterschiede der nominalen Einkommen, die aus Unterschieden in der totalen Faktorproduktivität nach Region, Branche und Unternehmen herrühren. Unterschiede der Faktorproduktivität müssen sicherlich nicht einfach hingenommen werden, aber sie bleiben eine elementare Tatsache des Wirtschaftslebens.
Nominale Einkommensunterschiede und ihre Änderung sind gerade dann, wenn sie in solchen Unterschieden wurzeln, nicht eo ipso ein Maß für die gesellschaftliche Wohlfahrt, ihre Verbesserung oder Verschlechterung. Das Plädoyer, Produktivitätsunterschiede innerhalb eines entwickelten Landes um willen der Erreichung dieses Ziels abzubauen, ist sicherlich bedenkenswert, aber es ist eine Frage für sich, ob überhaupt und wenn, und zu welchen Kosten, sich auf diesem Wege Wohlfahrtsgewinne erreichen lassen.
Literatur
Abramovitz, Moses, 1993: The Search for the Sources of Growth: Areas of Ignorance, Old and New. In: The Journal of Economic History, Vol. 53, S. 217 – 243.
Hanushek, Eric A., Ludger Woessmann, 2015: The Knowledge Capital of Nations: Education and the Economics of Growth. Cambridge, Mass.: The MIT Press
Hartwig, Jochen, Hagen Krämer 2017: 50 Jahre Baumol’sche Kostenkrankheit. In: Wirtschaftsdienst 97. Jahrgang, Heft 11, S. 793-800.
Hemmer, Hans Rimbert, Andreas Lorenz, 2004: Grundlagen der Wachstumsempirie. München: Verlag Franz Vahlen.
Kommentar verfassen