Für eine neue Aktienkultur

Alexander HagelükenSüddeutsche Zeitung

Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst der Aktie. Womöglich haben sich nicht gleich „alle Mächte des alten Europa zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet“, wie dies Karl Marx berühmterweise für den Kommunismus feststellte. Aber es sind doch ziemlich viele Mächte, die sich gegen einen Aktienbesitz breiter Bevölkerungskreise verbünden: ob Finanzkonzerne, Volksparteien, Arbeitgeber oder Gewerkschaften. Alle drängen sie die Bürger, ihr Geld bitte-schön anders anzulegen. Oder sie fördern zumindest die Anlage nicht. Weniger als jeder zehnte Deutsche besitzt direkt Aktien, inklusive Investmentfonds wird es nicht viel besser. Dagegen besitzt jeder dritte Spanier und Niederländer Aktien, und 60 Prozent der Amerikaner (1).

Die Deutschen aber fürchten das Risiko. Sie ziehen die vermeintliche Sicherheit von Bausparverträgen, Lebensversicherungen und Sparkonten vor (2). Dieses Anlageverhalten produziert gravierende Konsequenzen. Wer vor 20 Jahren deutsche Standard-Aktien kaufte, hat seinen Einsatz vervielfacht – trotz zweier Börsencrashs. Der Deutsche Aktienindex DAX kletterte in dieser Zeit von 5000 über 12000 Punkte. Internationale Ökonomen rechnen vor, dass Aktien (und Immobilien) den Sparklassikern der Deutschen auch über längere Zeiträume überlegen sind. In mehr als 15 Ländern, über 150 Jahre, nach Abzug von Inflation. Ergebnis: Immobilien und Aktien brachten im Schnitt sieben Prozent Wertsteigerung pro Jahr. Anleihen knapp zwei Prozent, Bankeinlagen 0,3 Prozent (3).

Das Anlageverhalten ist eine hochpolitische Frage

Die Deutschen vertun die Chance, Vermögen aufzubauen, das sie gegen Krisenfälle des Lebens besser schützt. Das ihnen in Zeiten vielfach stagnierender Reallöhne, steigender Mieten und privatisierter Altersrisiken mehr echte Sicherheit gewährt. Deshalb ist das Anlageverhalten eine hochpolitische Frage.

Nun mag es Linke empören, dass hier mit der Marxschen Metapher vom Gespenst ausgerechnet für Aktien argumentiert wird. Konservative mögen es absonderlich finden. Beiden sei gesagt: Breite Schichten am Produktivkapital zu beteiligen, hält der Autor für eine zeitgemäße Antwort auf die Schattenseiten des Kapitalismus. „Aktien für alle“ wird inzwischen auch von einigen linken Ökonomen als Instrument für die absehbar zunehmende Spaltung der Gesellschaft in der digitalen Ära begriffen (4).

Die Deutschen sparen viel, aber mit schlechtem Ergebnis. Man ist versucht zu sagen: Natürlich wird mit Anteilsscheinen besser verdient als mit Zinspapieren. Das Eigentum an Unternehmen bildet das Herzstück des Kapitalismus. Wenn die kapitalistische Maschine den Massen produktiver zugänglich gemacht werden kann als in den Planwirtschaftskonstrukten der Marx-Adepten – dann wird das zu ihrem Vorteil sein.

Aber was ist mit der Sicherheit von Sparbüchern, Lebensversicherungen oder Anleihen, die immer als Argument gegen Aktien angeführt wird? Ökonomen wiesen nach, dass Aktien auf lange Sicht gar nicht viel risikoreicher waren als die Staatspapiere.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Alles in Aktien anzulegen, wäre viel zu riskant, weil es an den Börsen natürlich auf und ab geht. Doch Aktien (und Immobilien) beim Sparen gar nicht zu berücksichtigen, vergibt Chancen. Die Nullzinsphase in der Währungsunion bestätigt das schmerzlich. Drastischer kann der Bankrott der deutschen Anlagegewohnheiten kaum ausfallen. Vier Konsequenzen der Aktienskepsis:

1) Weniger Geld im Alter

Vor fast 20 Jahren entschied sich die damalige rot-grüne Bundesregierung, wegen der Alterung der Gesellschaft die gesetzlichen Renten zu kürzen. Ersatz für das fehlende Altersgeld soll private Vorsorge liefern. Doch das Riester-System wird zum Beispiel von Lebensversicherungen dominiert, die wenig Rendite abwerfen. Das liegt zum einen an den komplizierten Garantiesummen, die die Politik bei der Altersvorsorge für erforderlich hält, worüber sich streiten lässt. Es liegt aber auch daran, dass die Lebensversicherer traditionell wenig in Aktien anlegen – und das Riestersystem als Gelegenheit sehen, Produkte mit hohen Gebühren unter die Kunden zu bringen.

2) Europäische Habenixe

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat umfangreiche Befragungen durchgeführt, in denen die Bürger der Eurostaaten ihr Vermögen mitteilen (5). Das mittlere Haushaltsvermögen netto betrug 2014 gut 100.000 Euro. Italiener und Spanier, beide von der Eurokrise betroffen, haben mit jenseits von 150000 Euro deutlich mehr.

Der mittlere Haushalt in Deutschland aber besitzt nur 60.000 Euro. Selbst Griechen und Portugiesen haben mehr. Nur 40 Prozent der Deutschen wohnen im Eigenheim, ein europäischer Abstiegsplatz. Die Deutschen halten weniger als sieben Prozent ihres Geldvermögens direkt in Aktien, die Franzosen doppelt so viel (6).

Es ist historisch gewachsen, dass die Deutschen weniger Vermögen bilden. Sie drängten nicht ins Eigenheim, weil sie sich jahrzehntelang darauf verlassen konnten, dass erschwingliche Mietwohnungen verfügbar waren. Und sie drängten nicht in Aktien, weil sie sich jahrzehntelang darauf verlassen konnten, dass die gesetzliche Rente allein ihren Lebensstandard sichern würde. Diese Zeiten sind in beiden Fällen vorbei.

3) Ungleichheit und Globalisierungsfrust

Die Differenzen im Anlageverhalten tragen dazu bei, dass sich die ohnehin ungleiche Bundesrepublik weiter spaltet. Deutsche Hausbesitzer haben im Schnitt genauso viel Vermögen wie Hausbesitzer anderer Nationen. Jeder dritte Haushalt mit über 4000 Euro netto im Monat hat Aktien oder Fonds. So hat der Aktien- und Immobilienboom des vergangenen Jahrzehnts die Reichen reicher gemacht und große Teile der Gesellschaft abgehängt. Den 45 reichsten deutschen Haushalten gehört so viel wie der kompletten ärmeren Hälfte der Bevölkerung (7).  Es liegt auf der Hand, dass die meisten von ihnen nicht das Gefühl haben werden, halbwegs gerecht an den Früchten der globalisieren Marktwirtschaft beteiligt zu werden.

4) Unvorbereitet in die digitale Ära

In der digitalen Wirtschaft der Zukunft dürften sich diese Probleme verschärfen. Künftig werden nach allen Prognosen Roboter, Computer und Algorithmen einen größeren Teil der Wertschöpfung erbringen. Wer profitiert davon am stärksten? Doch wohl die Besitzer der Maschinen.

Fünf-Punkte-Plan für eine neue Aktienkultur:

1) Finanzbildung und Beratung

Eine bessere finanzielle Bildung beginnt in der Schule. Aktuell herrscht ein Bildungsgefälle: Fast jeder vierte Akademiker hält Aktien, aber nur sechs bis sieben Prozent der Realschul- und Hauptschulabsolventen (8).  Natürlich haben Arbeitnehmer wenig Zeit, sich kontinuierlich mit der Anlage in Einzelaktien zu beschäftigen. Ein regelmäßiger staatlich finanzierter Beratungstermin bei den Verbraucherzentralen würde helfen, die Anlage zu strukturieren, zum Beispiel mit Standardaktien (und -fonds) sowie ETFs, ohne sich wöchentlich mit Details zu beschäftigen.

2) Staatliche Förderung

Die Politik sollte staatliche Vermögensbildung anders als bisher auf Anlagen mit höherer Rendite wie Aktien und Immobilien konzentrieren. Und sie so aufstocken, dass tatsächlich breitere Kreise in den Genuß der Förderung kommen. Sinnvoll wäre eine Verzahnung mit der Altersvorsorge, mit einem Rückfahren der Garantien und kostengünstigen Standardprodukten. Damit breite Schichten mehr anlegen können, bräuchte es eine Steuerreform für sie. Die weniger verdienenden 70 Prozent zahlten laut DIW 2015 mehr Steuern als 20 Jahre zuvor, die 30 Prozent Bestverdiener weniger (9).

3) Staatliche Rahmenbedingungen und Oberfonds

Um den Wandel zu fördern, sollte bei der Finanzierung der Unternehmen Fremdkapital steuerlich nicht mehr gegenüber Eigenkapital bevorzugt werden. Schutzvorschriften für Privatanleger müssten ausgebaut werden. Und schließlich könnten staatlich aufgelegte, privat gemanagte Fonds Anlegern erlauben, das Risiko zu streuen und den persönlichen Beschäftigungsaufwand bei der Geldanlage zu limitieren.

4) Initiativen der Tarifparteien

Die Berufswelt wäre ein wichtiger Ansatzpunkt. Durch Initiativen der Tarifparteien, die Beschäftigten an ihren Betrieben zu beteiligen – und, schon wegen der Risikostreuung, über Fonds an der ganzen Wirtschaft. Mit Beteiligungsmodellen könnten die Gewerkschaften ihre Modernität beweisen. Und die Arbeitgeber, die so gerne über einen Mangel an Fachkräften klagen, könnten Mitarbeiter an sich binden.

5) Imagekampagne

Tiefsitzende Vorurteile lassen sich nur verändern, wenn ein Bewusstseinswandel geschaffen wird. Dazu wäre eine ganz andere Herangehensweise von Politikern, Unternehmen und Gewerkschaftern nötig. Unterstützen ließe sich dies durch eine Imagekampagne, die die Identifikation von Bürgern mit Aktien fördert. Etwa mit dem Claim: Die Wirtschaft – Da arbeite ich. Da kaufe ich. Davon gehört mir jetzt ein Teil. Und im Kleingedruckten der Kampagne, auf Internetseiten und Broschüren fände sich dabei eine Gebrauchsanweisung für Aktien. Geduldig erklärt, überzeugend beworben.

Literatur

(1) Zahlen zitiert nach Deutsches Aktieninstitut 2018 sowie FAZ 22.1.2018

(2) Deutsche Bundesbank, Vermögen und Finanzen privater Haushalte in Deutschland: Ergebnisse der Vermögensbefragung 2014, Monatsbericht März 2016

(3) Jordà, Òscar, Katharina Knoll, Dmitry Kuvshinov, Moritz Schularick, Alan M. Taylor, The Rate of Return on Everything, 1870–2015, Federal Reserve Bank of San Francisco Working Paper 2017-25

(4) Siehe etwa Richard Freeman, Who owns the robots rules the world, IZA World of Labor, Mai 2015

(5) The Household Finance and Consumption Survey: results from the second wave, 2017. The Eurosystem Household Finance and Consumption Survey, Statistics Paper Series No. 2 2013

(6) 2. Quartal 2016 lt. Bundesbank, Deutsches Aktieninstitut

(7) Stefan Bach, Andreas Thiemann and Aline Zucco, Looking for the Missing Rich: Tracing the Top Tail of the Wealth Distribution, DIW 2018

(8) Deutsches Aktieninstitut 2018

(9) Stefan Bach, Martin Beznoska, Viktor Steiner: Wer trägt die Steuerlast in Deutschland? Verteilungswirkungen des deutschen Steuer- und Transfersystems, DIW Berlin: Politikberatung kompakt 114, 2016



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