Ein höherer Mindestlohn als „Produktivitätspeitsche“?
Was ist ein gerechter Lohn? Diese alte Frage hat in der Corona-Krise wieder an Brisanz gewonnen. Denn es ist in den Augen vieler Menschen nicht gerecht, wenn die Verkäuferin im Supermarkt und die Reinigungskraft im Krankenhaus zwar systemrelevant sind, aber ihr Lohn kaum zum Leben reicht.
Eine Anhebung des Mindestlohns von aktuell 9,50 Euro auf 12 Euro wäre ein wichtiges politisches Signal, dass jede Erwerbsarbeit ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Wertschätzung verdient. Deshalb ist die Frage eines angemessenen Mindestlohns auch eine Frage des Respekts und der Gerechtigkeit.
Effekte auf Beschäftigung und Produktivität: Theorie und Evidenz
Häufig ist aus Ökonomenkreisen das Argument zu hören, dass ein Mindestlohn Arbeitsplätze kostet und Arbeitslosigkeit erzeugt. Eine solche Pauschalkritik greift jedoch aus zwei Gründen zu kurz. Erstens ist der Gesamteffekt des Mindestlohns auf die Arbeitslosigkeit theoretisch nicht eindeutig bestimmt.
Einerseits führt eine Anhebung des Mindestlohns zu einem Rückgang der Arbeitsnachfrage der Unternehmen im Niedriglohnbereich, weil einige Jobs durch den Mindestlohn unprofitabel werden. Andererseits wird das Arbeitsangebot der Erwerbspersonen gesteigert, denn ein höherer Lohn steigert die Motivation der Erwerbstätigen und den Suchanreiz der Arbeitslosen. Diese gegenläufigen Effekte werden in der makroökonomischen Literatur auf Basis der sogenannten Such-und-Matching-Modelle untersucht, die von den Ökonomen Peter Diamond, Mortesson und Christopher Pissarides in den 1990er Jahren entwickelt wurden.
In diesen Modellen erzeugen Suchfriktionen auf dem Arbeitsmarkt und Investitionen in Arbeitsplätze einen Mehrwert von intakten Arbeitsverhältnissen, der zwischen Arbeitgeberseite (Gewinn) und Arbeitnehmerseite (Lohn) aufgeteilt wird. Einen Überblick über die einschlägige Literatur bieten Pissarides (2000) und Cahuc und Zylberberg (2004).
Empirische Analysen zeigen, dass die Einführung des Mindestlohns von 8,50 Euro in 2015 keinen nennenswerten Effekt auf die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gehabt hat. Die ökonometrischen Schätzungen verschiedener Studien ergeben ein Spektrum an Werten, die relativ klein sind und sich häufig nicht signifikant (im statistischen Sinne) von Null unterscheiden – siehe Caliendo et al. (2019) für einen Überblick.
Aus theoretischer Sicht ist dieser empirische Befund keine Überraschung, denn er besagt lediglich, dass die beiden gegenläufigen Effekte sich ungefähr die Waage gehalten haben, so dass der Gesamteffekt auf die Beschäftigung klein war. Zudem hat die empirische Literatur signifikante Verluste im Bereich der Mini-Jobs geschätzt – hier scheint der „Nachfrage-Effekt“ dominiert zu haben.
Darüber hinaus zeigt eine empirische Analyse von Dustmann et al (2020), dass die Einführung des Mindestlohns zu Produktivitätsgewinnen geführt hat, weil er eine Verlagerung der Beschäftigung weg von weniger produktiven Jobs und hin zu Jobs mit höherer Produktivität verursacht hat.
Die sogenannte „Produktivitätspeitsche“ hat also gewirkt. Dieser positive Produktivitätseffekt eines Mindestlohns wurde bereits in Acemoglu (2001) theoretisch analysiert, aber er hat bis vor Kurzem in der empirischen Literatur kaum eine Rolle gespielt. Es ist jedoch abzusehen, dass sich mit der Publikation von Dustmann et al. (2020) auch die empirische Literatur stärker mit diesem Thema befassen wird.
Die Einführung des Mindestlohns von 8,50 Euro in 2015 kann nur bedingt darüber informieren, wie sich eine geplante Erhöhung des Mindestlohns auf 10,45 Euro in 2022 oder eine mögliche Erhöhung auf 12 Euro auf die Beschäftigung und gesamtwirtschaftliche Produktion auswirken. Denn sicherlich wird es einen Punkt geben, an dem der negative Effekt des Mindestlohns auf die Arbeitsnachfrage dominiert und eine Erhöhung des Mindestlohns erhebliche Beschäftigungsverluste verursacht.
Zudem sind auch die Produktivitätseffekte einer Erhöhung des Mindestlohns nicht unabhängig von dem aktuellen Niveau des Mindestlohns. Und schließlich spielen konjunkturelle Überlegungen eine Rolle: In einer Krise wird der Beschäftigungseffekt des Mindestlohns anders ausfallen als in einem Wirtschaftsboom.
Makroökonomische Modellsimulationen: Vorläufige Ergebnisse
Rein empirische Studien stoßen also schnell an ihre Grenzen, wenn es darum geht, die Auswirkungen einer Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro zu evaluieren. Deshalb ist die wissenschaftliche Makroökonomik in den letzten 30 Jahren dazu übergegangen, die empirische Analyse mit einer theoretischen Fundierung in einem ganzheitlichen Modellrahmen zu kombinieren.
Bei dieser Methode wird in einem ersten Schritt ein theoretisch fundiertes Modell der deutschen Volkswirtschaft entwickelt, das wesentliche Eigenschaften des deutschen Arbeitsmarkts abbildet. In einem zweiten Schritt werden die Werte der freien Modellparameter so gewählt, dass die Modellwirtschaft im Einklang mit der relevanten (insbesondere mikroökonomischen) Evidenz steht – das ist die empirische Fundierung. In einem letzten Schritt werden die quantitativen Auswirkungen der angedachten Reform – z.B. die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro – mittels anspruchsvollen und differenzierten Modellsimulationen analysiert.
Eine makroökonomische Analyse des Mindestlohns aus Basis eines solchen mikro-fundierten makroökonomischen Modells der deutschen Volkswirtschaft wurde in Drechsel-Grau (2020) durchgeführt. Der verwendete Modellrahmen erfüllt eine Anzahl von Anforderungen, die wichtig für eine angemessene Analyse des Mindestlohneffekts in Deutschland sind.
Konkret werden die Unterschiede der Erwerbspersonen hinsichtlich ihrer sozio-ökonomischen Merkmale und Qualifikation berücksichtigt. Darüber hinaus bildet das Modell die empirische Lohnverteilung und die geschätzte Produktivitätsverteilung der Unternehmen ab. Schließlich erlaubt der Modellrahmen eine Differenzierung zwischen Kurz- und Langzeitarbeitslosen sowie zwischen Teilzeitbeschäftigung, Vollzeitbeschäftigung und Mini-Jobs. Das Modell geht somit weit über die bislang vorhandenen Arbeiten für Deutschland hinaus.
Die wesentlichen Ergebnisse der Analyse können wie folgt zusammengefasst werden.
- Erstens hat eine Erhöhung des Mindestlohns auf bis zu 12 Euro bzw. 60% des Medianlohns langfristig keinen signifikanten Effekt auf die Gesamtbeschäftigung. Erst ab einem Mindestlohn weit über 12 Euro beginnt der Arbeitsmarkt „zu kippen“ und es drohen erhebliche Arbeitsplatzverluste.
- Zweitens benötigt der Arbeitsmarkt aufgrund von Suchfriktionen und notwendigen Investitionen eine gewisse Zeit zur Anpassung. Dies spricht für eine schrittweise Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro. Zum Beispiel könnte die bereits geplante Erhöhung auf 10,45 Euro zeitlich vorgezogen werden und dann in zwei weiteren Schritten die Anhebung auf 12 Euro erfolgen.
- Drittens sind die positiven Produktivitätseffekte einer Erhöhung des Mindestlohns erheblich, so dass die gesamtwirtschaftliche Produktion dauerhaft wächst.
Dies alles sind keine unumstößlichen Wahrheiten, denn Simulationsanalysen sind immer mit Unsicherheit behaftet, weil Modellparameter geschätzt werden müssen und keine Analyse alle möglichen Wirkungskanäle exakt abbilden kann. Niemand kann daher mit Sicherheit die Folgen eines Mindestlohns von 12 Euro vorhersagen, so wie auch niemand die Auswirkungen eines Lockdowns auf die Anzahl der Neuinfektionen exakt vorhersagen kann. Trotzdem muss die Politik Entscheidungen treffen, und das Nichtstun ist auch eine Entscheidung. Der aktuelle Stand der Forschung spricht dafür, dass eine mögliche Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro ökonomisch sinnvoll ist.
Makroökonomische Modellsimulationen: Zukünftige Projekte
Doch Wissenschaft ist ein Prozess, der weitergeht. Aus wissenschaftlicher Sicht stellt sich insbesondere die Frage, wie robust die Ergebnisse in Drechsel-Grau (2020) sind. Hier bietet sich neben einer Replikation der Studie insbesondere eine Vertiefung und weitergehende Analyse von zwei Punkten an.
Zum Ersten sollte die Rolle der Verhandlungsmacht eingehender analysiert werden. Die Verhandlungsmacht der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite ist eine wichtige Größe, die die Verteilung des produzierten Mehrwerts zwischen Lohnzahlungen (Arbeitnehmerseite) und Gewinn (Arbeitsgeberseite) und somit die Stärke des „Nachfragekanals“ bestimmt. Wenn die Verhandlungsmacht der Arbeitgeberseite und somit Gewinnmargen sehr klein sind, dann führt die Erhöhung des Mindestlohns zu erheblichen Arbeitsplatzverlusten aufgrund eines starken „Nachfragekanals“, da Arbeitsplätze für Arbeitgeber unmittelbar unprofitabel werden. Dies ist die implizite Annahme in der Simulationsstudie von Braun et al. (2017), wobei diese Studie einen sehr unrealistischen Parameterwert für die Gewinnmarge der Unternehmen annimmt und auch deshalb zu dem empirisch widerlegten Ergebnis gelangt, dass die Einführung des Mindestlohns in 2015 zu einem erheblichen Rückgang der Beschäftigung geführt hat. Der Zusammenhang zwischen Mindestlohn und Verhandlungsmacht bzw. Tarifbindung ist sicherlich in der öffentlichen Debatte ein wichtiges Thema (Economist, 2021), aber die makroökonomische Literatur hat diesen Zusammenhang bisher nicht systematisch untersucht – dies trifft auch auf die Analyse in Drechsel-Grau (2020) zu. Dies ist ein wichtiges Forschungsprojekt für die Präzisierung der Modellprognosen.
Zum Zweiten sollte der Effekt der Konjunktur bzw. der Auslastung der Produktionskapazitäten auf die Ergebnisse näher untersucht werden. Die Analyse in Drechsel-Grau (2020) bildet die konjunkturelle Situation am Arbeitsmarkt im Jahr 2015 ab und die Ergebnisse sind entsprechend zu interpretieren. Sollte das wirtschaftliche Umfeld bei künftigen Mindestlohnerhöhungen jedoch anders ausfallen, sollte dies eine fundierte makroökonomische Analyse entsprechend berücksichtigen.
Eine schlechtere konjunkturelle Situation als im Jahr 2015 hätte zwei gegenläufige Auswirkungen auf die Ergebnisse. Einerseits würden niedrige Gewinnmargen den negativen Beschäftigungseffekt des Mindestlohns verstärken. Andererseits haben wirtschaftspolitische Maßnahmen, die das verfügbare Einkommen und somit die Kaufkraft der Erwerbstätigen steigern, besonders in einer Krise eine positive Auswirkung auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und die gesamtwirtschaftliche Produktion.
Um diesen positiven Beschäftigungseffekt, der über die gesamtwirtschaftliche Nachfrage wirkt, angemessen zu analysieren, müsste der in Drechsel-Grau (2020) verwendete Modellrahmen um eine Neu-Keynesianische Komponente mit nominalen Preisrigiditäten auf dem Gütermarkt erweitert werden, so dass höhere Haushaltseinkommen durch eine Änderung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage positive Konjunkturimpulse setzen.
Eine solche Erweiterung würde auch eine angemessene makroökonomische Analyse der Effekte des Mindestlohns auf die Güterpreise erlauben. Aufgrund der großen Unsicherheit hinsichtlich der zukünftigen konjunkturellen Entwicklung ist an dieser Stelle eine Szenario-Analyse mit verschiedenen Konjunkturverläufen zu empfehlen.
Literatur
Acemoglu, D. (2001): “Good Jobs versus Bad Jobs,”Journal of Labor Economics, 19, 1–21.
Braun, H., Döhrn, R., Krause, M., Micheli, M. und T. Schmidt (2017) „Makroökonomische Folgen des gesetzlichen Mindestlohns aus neoklassisch geprägter Perspektive“ Studie im Auftrag der Mindestlohnkommission.
Cahuc, P., und A. Zylberberg (2004) „Labor Economics” The MIT Press.
Caliendo, M., Wittbrodt, L., und C. Schröder (2019) “The Causal Effects of the Minimum Wage Introduction in Germany – An Overview”, German Economic Review
Drechsel-Grau, M. (2020) „Employment, Output and Welfare Effects of Minimum Wages,” Working Paper, University of Mannheim.
Dustmann, C., A. Lindner, U. Schoenberg, M. Umkehrer, und P. vom Berge (2020): “Reallocation Effects of the Minimum Wage,” Working Paper, University College London.
Economist, 30.01.2021 “What would a $15 minimum wage mean for America’s economy?”
Pissarides, C. (2000) “Equilibrium Unemployment Theory” The MIT Press
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