„Die Produktivitätsentwicklung ist nicht unabhängig von der Arbeitszeit“
Das Coronavirus hat deutsche Unternehmen in vielen Bereichen zum Umdenken gezwungen, unter anderem im Hinblick auf die Arbeitsorganisation. So erlebt das Homeoffice seit Beginn der Pandemie einen unvorhergesehenen Boom. Mit der IG Metall setzt sich nun die größte Einzelgewerkschaft in Deutschland für ein weiteres Instrumentarium ein, um die Zukunft der Arbeit zu gestalten: die Einführung einer Vier-Tage-Woche. Warum der Vorschlag sinnvoll sein könnte, um die wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie kurzfristig abzufedern und langfristig den durch die Digitalisierung getriebenen Strukturwandel zu meistern, erläutert Dr. Beate Scheidt (
der IG Metall) heute im Interview mit dem Wirtschaftsjournalisten Ben Schröder auf unserem Blog.Frau Dr. Scheidt, die IG Metall schlägt als Reaktion auf die aktuelle Situation rund um das Coronavirus die Einführung einer Vier-Tage-Woche vor. Inwieweit könnte dieses Modell in der kurzen Frist für Betriebe hilfreich sein, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzufedern?
Dr. Beate Scheidt: Wir beobachten momentan, dass bestimmte Branchen erheblich unter Druck geraten. Gerade die Automobilindustrie und die mit ihr verbundene Wertschöpfungskette, vor allem kleine und mittlere Zulieferbetriebe, sind stark herausgefordert. Je nachdem, wie lange das Coronavirus die deutsche Wirtschaft noch belasten wird, ist auch ein dauerhafter Abbau von Arbeitsplätzen in diesen Betrieben nicht ausgeschlossen. Der Vorschlag des ersten Vorsitzenden der IG Metall, Jörg Hofmann, zielt darauf ab, die Wochenarbeitszeit optional, das heißt nicht in der Fläche, sondern bei Bedarf auf betrieblicher Ebene, abzusenken und auf vier Tage – etwa zu jeweils acht Stunden – zu verteilen.
Die Vier-Tage-Woche könnte dabei helfen, Entlassungen zu verhindern und Arbeitsplätze zu sichern. Unter anderem, indem die Arbeit in Zeiten geringerer Auftragszahlen auf mehrere Schultern verteilt wird. Hier muss aber auch klar gesagt werden: Die Vier-Tage-Woche ist kein Instrument, um die Konjunktur zu stabilisieren. Dafür haben wir die Kurzarbeit. Die Vier-Tage-Woche ist eher als mittel- und langfristiger Ansatz gedacht, um den zeitgleich stattfindenden Strukturwandel abzufedern.
Sie sprechen die Kurzarbeit an: Die Bundesregierung hat die geltenden Regelungen zum Kurzarbeitergeld erst kürzlich bis zum 31. Dezember 2021 verlängert. Damit wird es für deutsche Unternehmen auch im kommenden Jahr erleichterte Zugangsbedingungen zum Kurzarbeitergeld geben. Ist der Vorschlag einer Vier-Tage-Woche damit nicht obsolet geworden, wenn die Betriebe auch 2021 umfangreich auf das Instrument der Kurzarbeit zurückgreifen können?
Keineswegs. Die Kurzarbeit ist zeitlich befristetet und dient vor allem dazu, die Konjunktur kurzfristig zu stabilisieren. Parallel zur aktuellen Krisensituation stehen aber verschiedenste Branchen seit einigen Jahren vor der Herausforderung der Transformation, die sich weiter verschärfen wird. Wir brauchen mittel- und langfristige Strategien, um diesen Strukturwandel zu meistern. Die Vier-Tage-Woche könnte in diesem Zusammenhang ein Instrument sein, das natürlich noch durch weitere Maßnahmen flankiert werden muss. Zum Beispiel durch Qualifizierungsmaßnahmen für Beschäftigte und einen stärkeren Fokus auf die betriebliche Ausbildung.
Wie genau könnte eine Vier-Tage-Woche einen Beitrag dazu leisten, den von Ihnen erwähnten Strukturwandel zu meistern?
Die Umsetzung einer Vier-Tage-Woche könnte für viele Betriebe ein Anlass sein, die Arbeitsgestaltung und -organisation zu überdenken. Da geht es zunächst um entsprechende Anpassungen der Schichtpläne und der Anwesenheits- und Vertretungsregeln. Wichtig ist, dass diese Reorganisation in eine strategische mittel- bis langfristige Personalplanung integriert wird, damit der Bedarf, sowohl was den Personalumfang als auch die Qualifikationen anbelangt, klar wird und keine kurzsichtigen Entscheidungen gefällt werden.
Die Anpassungen könnten mittelfristig auch zu verstärkter Digitalisierung und Automatisierung im Produktionsbereich führen. Dies wiederum wäre förderlich für die Produktivitätsentwicklung. Bedacht werden muss aber auch, dass die Metall- und Elektroindustrie von großer Heterogenität geprägt ist. Es gibt eine große Vielfalt von Unternehmen, Produkten, Märkten und Produktionsabläufen, die bei der Umsetzung einer Vier-Tage-Woche individuell betrachtet werden müssen. Wie Arbeitsorganisation und -gestaltung angepasst werden, ist die Aufgabe der Personalverantwortlichen und muss unter Einbeziehung der Betriebsräte in den Betrieben vor Ort betrachtet werden.
Wie stellt sich die IG Metall die Umsetzung einer Vier-Tage-Woche in den Betrieben vor?
Für Personen, die in Vollzeit arbeiten, ist eine Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit etwa von derzeit 35 auf 32 Stunden vorstellbar. Ein Tag in der Woche wäre damit frei, dieser kann beispielsweise für Qualifizierung genutzt werden. Die Frage nach den Entgelten sollte differenziert betrachtet werden. In der Metall- und Elektroindustrie gibt es verschiedene Entgeltgruppen, beginnend mit der Entgeltgruppe 1. Gerade für Mitarbeiter:innen in dieser Gruppe kann es natürlich nicht das Ziel sein, dass eine Arbeitszeitreduzierung geringere Entgelte bedeutet. Wir wissen, dass Beschäftigte mit geringerem Einkommen eine hohe Konsumquote aufweisen. Das heißt, dass sie fast ihren gesamten Lohn für den Konsum benötigen. Eine Arbeitszeitreduktion, die mit geringeren Entgelten einhergeht, ist somit nicht vorstellbar. Auch, weil sie den Konsum weiter schwächen könnte, was gerade in der aktuellen konjunkturellen Situation unbedingt vermieden werden sollte.
Bei Beziehern höherer Einkommen, also bei den Beschäftigten, die in den oberen Entgeltgruppen eingestuft sind, ist es dagegen durchaus vorstellbar, dass parallel zu der Arbeitszeitreduktion auch die Entgelte angepasst werden. An dieser Stelle muss allerdings klar gesagt werden, dass die konkreten tarifvertraglichen Lösungsvorschläge zur Ausgestaltung der Arbeitszeitverkürzung letztlich durch die Tarifkommissionen in den jeweiligen Bezirken vor Ort diskutiert und entschieden werden.
Welche Effekte würden Sie bei der Umsetzung einer Vier-Tage-Woche für die Beschäftigung erwarten?
Das kommt auf die Kapazitätsauslastung in den Betrieben an. Momentan liegen viele Unternehmen aufgrund der Coronakrise unter der Normalauslastung. Sollte das Vorkrisenniveau wieder erreicht werden, ist aber schon zu erwarten, dass der Beschäftigungsbedarf der Betriebe steigt, wenn die individuelle Arbeitszeit pro Woche sinkt. Die Vier-Tage-Woche könnte also durchaus zu einer höheren Nachfrage nach qualifizierten Mitarbeiter:innen und damit zu einer Stimulierung der Beschäftigung beitragen.
Ist nicht zu befürchten, dass die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen leidet, wenn die Arbeitszeit sinkt, die Löhne und Gehälter der Mitarbeiter:innen aber konstant bleiben?
Bei den Lohnstückkosten, die die preisliche Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen determinieren, spielen nicht nur die Entgelte der Beschäftigten pro Stunde eine Rolle, sondern auch die Produktivitätsentwicklung. Die Produktivitätsentwicklung wiederum ist durchaus nicht unabhängig von der Arbeitszeit. Eine Arbeitszeitverkürzung geht mit längeren Erholungszeiten für die Mitarbeiter:innen einher. Das allein hat schon das Potenzial, die Stundenproduktivität zu erhöhen. Nicht wünschenswert und auch nicht akzeptabel ist aus unserer Sicht selbstverständlich eine Produktivitätssteigerung durch eine reine Leistungsverdichtung, also gleiche Arbeitsleistung in weniger Stunden, die über kurz oder lang zu Krankheiten und Arbeitsausfällen führen würde.
Im Ergebnis heißt das: Auch wenn die Entgelte pro Stunde durch eine Arbeitszeitverkürzung steigen, entstehen Produktivitätsfortschritte, so dass sich die Lohnstückkosten für die Unternehmen nicht erhöhen oder im besten Fall sogar reduzieren könnten. Ob dieser Mechanismus letztlich greift, können wir zurzeit nicht mit Bestimmtheit sagen. Man kann allerdings auch nicht mit Bestimmtheit sagen, dass eine Arbeitszeitverkürzung automatisch der Wettbewerbsfähigkeit schadet.
Wann könnte die Vier-Tage-Woche tatsächlich Realität werden?
Momentan läuft die Debatte in den Tarifkommissionen in den verschiedenen Bezirken. Der ganze Prozess läuft basisdemokratisch, das ist wichtig, dies noch einmal zu betonen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass tatsächlich die Bedürfnisse und Interessen der Beschäftigten vor Ort in die Debatte einfließen. Ein Forderungsbeschluss in den Bezirken könnte dann im November ergehen. Das Ergebnis wird dann noch einmal an den Vorstand der IG Metall zurückgespielt, bevor eine konkrete Forderung für die Tarifrunde definiert wird.
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