Die Dialektik des Produktivitätswachstums

Prof. Dr. Jens SüdekumHeinrich-Heine-Universität Düsseldorf, DICE

Wie die Lebensbedingungen der kommenden Generationen aussehen, wird maßgeblich davon abhängen, wie sich das Produktivitätswachstum in unserem Land entwickelt. Ob es dauerhaft niedrig bleibt oder wieder ansteigen wird – darüber herrscht große Uneinigkeit. Paradoxerweise könnte beides richtig sein.

 

Ein Blick in die jüngere Vergangenheit zeigt einen deutlichen Abwärtstrend des Produktivitätswachstums entwickelten Volkswirtschaften, der zu Beginn der 70er Jahre begann und sich mit ein paar wenigen Schwankungen bis heute fortsetzt (s. Figur 1). Deutschland bildet dabei keine Ausnahme.

Figur 1: Wachstumsrate der totalen Faktorproduktivität (1953-2013)

Median-TFP-Wachstumsrate (in %) für 116 Länder. Gruppeneinteilung gemäß OECD-Klassifikation. Quelle: Penn World Tables

Wie geht es mit unserer Produktivität weiter? Diese entscheidende gesellschaftliche Zukunftsfrage lässt sich unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet – und dementsprechend haben sich zwei zentrale Thesen herausgebildet. Die erste These lautet: Die Weltwirtschaft und insbesondere die alternde Gesellschaft in Deutschland befinden sich in einem Zustand der so genannten säkularen Stagnation – man spricht davon, wenn im Verhältnis zu den Ersparnissen zu wenig Investitionen getätigt werden – mit dauerhaft niedrigem Wachstum gefangen. Die Antithese hingegen besagt, dass ein „goldenes Zeitalter“ des Produktivitätswachstums unmittelbar bevorstünde, getrieben durch Digitalisierung, künstliche Intelligenz und Automatisierung der Produktion, auch durch Roboter. Betrachten wir beide Thesen näher:

These 1: Die Industriestaaten – ideenlos, alt und konsumgesättigt?
Langfristiges Wachstum lässt sich anhand zweier Faktoren festmachen Zunächst einmal geht es um die Zahl der Forschenden, die neue Produkte und Verfahren entwickeln. Der zweite Faktor ist die Wahrscheinlichkeit, mit der ein wichtiger Durchbruch, eine Innovation gelingt und Früchte trägt. Innovationen – so die erste These – würden einen immer höheren Ressourceneinsatz erfordern und seien immer unwahrscheinlicher geworden. Kurzum: Der Welt scheint also sukzessive die guten Ideen auszugehen. Zudem attestiert Gordon (2014) heutigen Innovationen eine geringere gesellschaftliche Durchschlagskraft als früheren. Selbst Computer und Informationstechnologie hätten demnach das Wachstum weniger stark getrieben als seinerzeit die Glühbirne oder die Dampfmaschine. Grundlegende Innovationen seien auf dem Rückzug.

Zu diesen angebotsseitigen Erklärungen gesellen sich nachfrageseitige Theorien der säkularen Stagnation. Die Gesellschaft altert und spart, statt Geld auszugeben. Gesättigte Konsumbedürfnisse, ein Ersparnisüberhang und eine geringe Kapitalnachfrage sind weitere Gründe für ein stagnierendes Wirtschaftswachstum. Der Trend werde sich in Zukunft verfestigen, sodass sich kommende Generationen auf geringe Zuwächse des realen Lebensstandards einstellen müssen.

These 2: Es geht erst noch richtig los!
Die Vertreter der zweiten These erkennen zwar an, dass die Produktivität in den letzten 50 Jahren langsamer gewachsen ist. Sobald die Entwicklung der künstlichen Intelligenz und Automatisierung richtig Fahrt aufnehme, stehe in Deutschland eine fundamentale Trendumkehr unmittelbar bevor. So prognostizierte der amerikanische Publizist Kevin Drum 2017, dass 2025 alle Trucker durch selbstfahrende LKW ersetzt werden. Kurz darauf würden Maschinen Bestseller-Romane schreiben. Ab 2056 seien sie in der Lage, Operationen am offenen Herzen durchführen und um 2060 könnten sie sämtliche menschlichen Tätigkeiten übernehmen. Das Potenzial für zukünftiges Produktivitätswachstum ist somit enorm, wenn die Prognosen zutreffen.

Wachstum oder Stagnation? Beides!

Die beiden Thesen scheinen sich diametral zu widersprechen. Bei näherem Hinsehen passiert aber beides: Produktivitätswachstum stagniert für die meisten und im Durchschnitt. Für Einige aber hat das beschriebene goldene Zeitalter bereits begonnen. Betrachten muss man sowohl die regionalen als auch branchenspezifischen Entwicklungen.

Einzelne Regionen werden abgehängt, Superstar-Firmen entstehen.

Enorme Produktivitätsunterschiede gibt es zwischen Branchen oder Regionen eines Landes. Ein Beispiel: Während sich in Ingolstadt das Bruttoinlandsprodukt pro Beschäftigtem 2015 auf rund 142.000 Euro und damit auf 122% mehr als im Jahr 2000 belief, wurden in Bremerhaven gerade mal 55.000 Euro pro Beschäftigten erwirtschaftet, magere 15% mehr als zur Jahrtausendwende (Quelle: Genesis-Datenbank des Statistischen Bundesamts). Der regionale Abstand ist im Zeitablauf also deutlich größer geworden. Die ohnehin schon produktive oberbayrische Region hat nochmal deutlich zugelegt, während die bereits abgeschlagene norddeutsche Hafenstadt weiter stagnierte.

Am deutlichsten sehen wir jedoch die Gleichzeitigkeit zwischen Stagnation und „goldenem Zeitalter“ auf der Ebene einzelner Firmen: Schon 2002 waren die oberen 5% der Unternehmen rund dreimal produktiver als der Rest. Aber im Zeitablauf sind sie dem Pulk der „normalen“ Firmen immer weiter enteilt und nunmehr fast siebenmal so produktiv (s. Figur 2). Im Aggregat ergibt sich daraus ein schwaches durchschnittliches Produktivitätswachstum. Aber für die wenigen hoch produktiven Top-Firmen sah die Dynamik völlig anders aus.

Figur 2: Wachstum der Bruttowertschöpfung pro Beschäftigtem auf Firmenebene

Quelle: Bank of England basierend auf ONS Research Data Base.

Es gibt also kein „Entweder-oder“ zwischen säkularer Stagnation und dem goldenen Zeitalter des Produktivitätswachstums. Beide Prozesse finden parallel statt, aber an unterschiedlichen Stellen. Der Volkswirtschaft scheint es nicht grundsätzlich an Innovationen oder neuen Ideen zu mangeln, diese Motoren des Fortschritts laufen weiterhin, vielleicht schneller als je zuvor. Aber sie sind zunehmend konzentriert in wenigen hoch produktiven „Superstar-Firmen“ und damit in den Regionen, wo diese Unternehmen angesiedelt sind. Insofern ist das niedrige gesamtwirtschaftliche Produktivitätswachstum vor allem ein Spiegel der mangelnden Diffusion dieses technologischen Fortschritts in der Breite.

Ungleiches Wachstum – steigende Lohnunterschiede

Dieses Ungleichgewicht hat auch Auswirkungen auf den Lohn der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Eine Studie (Card et al., 2013) zeigt, dass der Grad der Lohnungleichheit seit Ende der 1980er Jahre merklich angestiegen ist. Ein großer Teil dieses Anstiegs ist dabei auf eine steigende Verteilung firmenspezifischer Lohnbestandteile zurückzuführen, die stark mit der Produktivität des jeweiligen Unternehmens zusammenhängen: So gewähren die Superstar-Firmen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die höchsten und tendenziell steigende Lohnprämien. Dadurch gewinnen sie die besten Bewerberinnen und Bewerber und können auf diese Weise ihren Produktivitätsvorsprung zusätzlich ausbauen. Und trotz der höheren Lohnkosten sind diese Firmen profitabler, denn die Rückwirkungen auf die Produktivität sind stärker. Der Anteil der Lohnkosten am Umsatz ist in den Superstar-Firmen also geringer, die Profite höher.

Für Beschäftigte anderer Firmen stagnieren die Reallöhne hingegen – ebenso wie die Produktivität ihrer jeweiligen Arbeitgeber. Das Ziel eines inklusiven Einkommenswachstums wird somit verfehlt. Zudem führt diese Entwicklung zu regionalen Unterschieden. Traditionell sind die produktiven Superstar-Firmen in Großstädten wie München, Frankfurt oder Hamburg angesiedelt. Das Stadt-Land-Gefälle bei Löhnen und Einkommen wird also auch zunehmend größer.

Drei Handlungsempfehlungen für inklusives Wachstum

Die zentrale gesellschaftliche Herausforderung für die kommenden Jahrzehnte besteht darin, das Produktivitätswachstum in Deutschland deutlich zu steigern und gleichzeitig dafür zu sorgen, die resultierenden Einkommenszuwächse breiter zu streuen. Drei Ansatzpunkte für eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik:

1. Bessere öffentliche Infrastruktur

Ein robustes Produktivitätswachstum ist für eine alternde Gesellschaft wie Deutschland von zentraler Bedeutung. Da zukünftig ein größerer Anteil der Bevölkerung nicht mehr aktiv am Erwerbsleben teilnehmen wird, muss die resultierende „Demografie-Lücke“ durch höheres Produktivitätswachstum geschlossen werden. Von entscheidender Bedeutung wird es sein, unternehmensnahe Infrastrukturen zu fördern. Davon profitieren prinzipiell alle Firmen, unabhängig von ihrer aktuellen Position in der Produktivitätsverteilung. Infrastruktur meint insbesondere die Verkehrs- und digitalen Netze sowie den Bildungssektor. Diese Infrastrukturinvestitionen müssen durch ein insgesamt investitionsfreundliches Klima flankiert werden. Ein weiteres Handlungsfeld ergibt sich aus dem so genannten Ersparnisüberhang: Momentan manifestieren sich hohe Ersparnisse in einem exzessiven Leistungsbilanzüberschuss und einer ungesunden Akkumulation von riskanten Formen kurzfristiger Kapitalanlagen im Ausland. Die Bundesregierung sollte daher langfristige Kapitalanlagemöglichkeiten im Inland schaffen, z.B. durch die Ausgabe von Zukunftsbonds zur Finanzierung einer merklichen Aufwertung der öffentlichen Infrastruktur.

2. Gezielte Förderung der Spitzeninnovation in den Superstar-Firmen

Das Produktivitätswachstum in den Spitzenunternehmen war in der Vergangenheit stark überdurchschnittlich. Diese Dynamik sollte keinesfalls beschnitten werden. In einer repräsentativen Unternehmensbefragung aus dem Jahr 2017 wurde festgestellt, dass überbordende Regulierung und Bürokratie zu den größten hausgemachten Investitionshemmnissen in Deutschland gehören (Bardt und Grömling, 2017). Fachkräftemangel und allgemeine Infrastrukturmängel gelten aber als ebenso problematisch. Auch die produktivsten deutschen Firmen stehend zunehmend in einem scharfen internationalen Wettbewerb und benötigen ein investitionsfreundliches Klima in ihrem Heimatmarkt. Eine verbesserte Anerkennung von immateriellen Anlagewerten bei Firmenbewertungen könnte dazu führen, dass sich die Finanzierungsbedingungen für diese Unternehmen maßgeblich verbessern. Hinzukommen sollten gezielte steuerliche Anreize für Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen im Inland.

3. Gezielte Förderung der Produktivitätsdurchdringung zu den „normalen Firmen“

Das geringe gesamtwirtschaftliche Produktivitätswachstum der vergangenen Jahrzehnte war aber vor allem die Folge einer mangelnden Diffusion. Das stärkste Potenzial für ein allgemeines Produktivitätswachstum liegt darin, diesen Diffusionsprozess zu stärken und so das Aufholen der „normalen“ Firmen zur technologischen Grenze zu befördern.

Wie das geschehen könnte, darüber gehen die Meinungen noch auseinander. Bloom et al. (2017) betonen in diesem Zusammenhang stark die Rolle des Managements. So hätten Superstar-Firmen ihren Status auch dadurch erreicht, indem sie ihre Struktur optimal aufgestellt und interne Abläufe effizient organisiert haben. Die „normalen Firmen“ sind sich ihrer eigenen Defizite dabei unter Umständen nicht einmal bewusst. Sie könnten zumindest einige davon im Sinne eines „best practice“-Ansatzes abstellen.

Auch der Zugang zu Wagniskapital könnte ein zentrales Instrument darstellen. Die Investitionstätigkeit kleiner und junger Unternehmen ist in Deutschland im internationalen Vergleich relativ schwach ausgeprägt. Für einen funktionieren Diffusionsprozess muss auch für diese Unternehmen die Chance bestehen, zu einem Superstar zu werden. Hierfür sollten nachteilige Finanzierungsbedingungen und andere Investitionshemmnisse so weit wie möglich eliminiert werden.

Zu guter Letzt kommt der Regionalpolitik eine wichtige Rolle zu. Eine Besonderheit und Stärke der deutschen Wirtschaftsstruktur besteht darin, dass sie derzeit noch vergleichsweise dezentral aufgestellt ist und es enorm erfolgreiche Firmen (Superstars, „hidden champions“) auch außerhalb der großen urbanen Ballungszentren gibt. In anderen Ländern ist die Konzentration der ökonomischen Aktivität an wenigen Orten viel deutlicher als hierzulande. Die Tendenz zur Urbanisierung nimmt aber auch in Deutschland zu. Die Superstar-Firmen werden also zunehmend in den attraktiven Städten, die „normalen“ Firmen außerhalb dieser Städte zu finden sein. Daher sollten Randregionen bei den oben beschriebenen Infrastrukturinvestitionen, insbesondere im Bildungsbereich, besonders berücksichtigt werden.

Soviel zur gesamtwirtschaftlichen Produktivität. Es genügt jedoch nicht, die Produktivität der Volkswirtschaft zu steigern. Es müssen auch intelligente Formen der Umverteilung zum Einsatz kommen, die eine breite gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, ohne dabei das Ziel des Produktivitätswachstums zu gefährden. Eine gute und moderne Infrastruktur und ein breites Angebot an öffentlichen Gütern sind eine mögliche Form, inklusives Wachstum zu möglichst geringen Effizienzkosten zu erreichen. Über andere Formen – wie etwa die Mitarbeiterbeteiligung an den neuen Technologien oder neue Wege in der Steuer- und Sozialpolitik – müssen wir eine breite gesellschaftliche Diskussion führen.



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