Die Aufnahme von Geflüchteten und ihr Einfluss auf die Produktivität
Immer wieder führen Kriege, Bürgerkriege, wirtschaftlicher Zusammenbruch, Naturkatastrophen und der Klimawandel zu massiven Vertreibungen und Fluchtbewegungen. Die Aufnahme von Geflüchteten ist eine der großen Herausforderungen unserer Gesellschaft.
Humanitäre Erwägungen sollten selbstverständlich die Hauptmotivation für Maßnahmen zur Unterstützung von Geflüchteten sein.
Aber auch die wirtschaftlichen Kosten und Nutzen haben schon immer eine Rolle gespielt.
Die langfristigen Auswirkungen von Einwanderung
Die öffentliche Debatte in den potenziellen Aufnahmeländern konzentriert sich meist auf die kurz- und mittelfristige Perspektive. Doch was sind die langfristigen ökonomischen Auswirkungen von Einwanderung, verursacht durch Flucht und Vertreibung?
Die Beantwortung dieser Frage ist eine wissenschaftliche Herausforderung. Jede Fluchtbewegung ist anders. Doch möglicherweise bietet die Analyse historischer Ereignisse Einblicke in die ökonomischen Wirkungskanäle, die langfristige Effekte von Einwanderung erklären.
In einer neuen Studie schauen wir uns dazu eine besondere Episode der deutschen Geschichte an, den massiven Zustrom von Geflüchteten und Heimatvertriebenen aus dem Osten Europas nach dem Ende des 2. Weltkriegs.
Millionen Menschen wurden damals nach Westdeutschland vertrieben. Sie verursachten einen Zuwachs der Bevölkerung in Deutschland um etwa 20 Prozent.
In unserer Studie argumentieren wir, dass die deutsche Nachkriegsgeschichte eine Einschätzung der langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen der Heimatvertriebenen ermöglicht.
Besatzungszonen prägten Ansiedlung
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in 1945 und bis zur Gründung der Bundesrepublik in 1949 war Deutschland in vier alliierte Besatzungszonen aufgeteilt. Trotz ihrer relativ kurzen Existenz prägten diese Besatzungszonen die Ansiedlung der Heimatvertriebenen.
Der Grund war, dass die französische Besatzungszone den Zuzug von Geflüchteten beschränkte. Daher ließen sich bis 1949 die meisten Flüchtlinge in der amerikanischen, britischen und sowjetischen Besatzungszone nieder.
Die Folgen dieses Unterschieds in der Besatzungspolitik gegenüber den Heimatvertriebenen sind deutlich innerhalb des heutigen Baden-Württemberg zu erkennen.
Das Beispiel Baden-Württemberg
Bis 1949 war das Bundesland in eine französische und eine amerikanische Besatzungszone unterteilt. Die Grenze zwischen den Besatzungszonen verlief quer durch Baden-Württemberg von Karlsruhe bis Ulm. Die Volkszählung in 1950 dokumentiert in den Gemeinden auf der ehemals amerikanischen Seite der Grenze viel mehr Geflüchtete als auf der gegenüberliegenden, ehemals französischen Seite.
Durch den Zuzug von Heimatvertriebene war auf der ehemaligen amerikanischen Seite der Grenze die Bevölkerungsdichte stark angestiegen und um 20 Prozent höher als auf der ehemaligen französischen Seite.
Vor der Ankunft der Geflüchteten hatte es dagegen nie Unterschiede in der Bevölkerungsdichte an der (zukünftigen) Grenze gegeben.
Überraschenderweise existiert der Unterschied in der Bevölkerungsdichte entlang der ehemaligen Grenze zwischen den Besatzungszonen heute immer noch. Es ist sogar etwas grösser geworden.
Heute haben Gemeinden auf der ehemaligen amerikanischen Seite der Grenze eine um etwa 25 Prozent höhere Bevölkerungsdichte als gegenüberliegende Gemeinden auf der ehemaligen französischen Seite.
Gründe für die höhere Bevölkerungsdichte
Warum hat sich 70 Jahre nach dem Verschwinden der Besatzungszonengrenze die höhere Bevölkerungsdichte auf der ehemaligen amerikanischen Seite gehalten? Günstigerer Wohnraum war es nicht.
Auf der ehemaligen amerikanischen Seite der Grenze ist nicht nur die Bevölkerungsdichte höher, sondern auch die Mieten. Es leben also mehr Menschen dort, wo Wohnraum teurer ist.
Es gibt natürlich gute Gründe dafür, warum Menschen oft dort dichter zusammenleben, wo Wohnraum teuer ist. In Städten wird die höhere Bevölkerungsdichte in der Regel begleitet von einer höheren Produktivität und von höheren Löhnen.
Die Gründe dafür wurden in den letzten Jahren wissenschaftlich gründlich untersucht und werden unter dem Begriff Agglomerationseffekte zusammengefasst.
Höhere Produktivität
Die wichtigsten Agglomerationseffekte sind ein breiteres Angebot an spezialisierten Gütern und Dienstleistungen und der schnellere Ideenaustausch zwischen lokalen Unternehmen, teilweise durch die höhere Mobilität von Beschäftigten.
Unternehmen können auf einen breiteren Pool von Arbeitnehmern zurückgreifen während Arbeitnehmer von vielfältigeren Beschäftigungsmöglichkeiten profitieren.
Sind Agglomerationseffekte der Grund für die höhere Bevölkerungsdichte auf der ehemaligen amerikanischen Seite der Besatzungszonengrenze bis 1949? Indizien, die klar darauf hindeuten, sind die Produktivität der Betriebe und die bezahlten Löhne.
Auf der ehemaligen amerikanischen Seite der Grenze sind heute nicht nur die Bevölkerungsdichte und die Mieten höher, sondern auch die Produktivität sowie die Löhne der angesiedelten Industriebetriebe. So stiegen das Pro-Kopf-Einkommen und die Produktivität langfristig um etwa 13 Prozent und die Löhne um etwa 10 Prozent.
Unterschied in der Aufnahme der Geflüchteten
Unsere Forschung legt daher den Schluss nahe, dass der Zuzug von Heimatvertriebenen nach dem 2. Weltkrieg einen Teil zum starken Anstieg des deutschen Pro-Kopf-Einkommens, der Produktivität und der Löhne in den letzten 75 Jahren beigetragen hat.
Der große Unterschied in der Aufnahme der Geflüchteten und Vertriebenen an der ehemaligen Besatzungszonengrenze erlaubt es uns, diesen Beitrag zu quantifizieren. Er erlaubt uns auch, potentielle alternative Wirkungskanäle wie kulturelle Unterschiede oder Unterschiede in der Industriepolitik der Besatzungszonen auszuschließen.
Die Heimatvertriebenen ähnelten der lokalen Bevölkerung in vielen Aspekte und sprachen deutsch. Dennoch wurden sie nicht überall willkommen geheißen oder als Gleichberechtigte behandelt. Es dauerte Jahrzehnte, bis sie allgemein akzeptiert und integriert wurden.
Auch die wirtschaftlichen Vorteile, die Gemeinden heute durch die damalige Aufnahme von Heimatvertriebenen haben, stellten sich erst nach und nach ein. Sie sind zum Zeitpunkt der Aufnahme der Geflüchteten und in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Ankunft nicht erkennbar gewesen.
Letztendlich scheinen die wirtschaftlichen Auswirkungen jedoch erheblich gewesen zu sein.
Auswirkungen weiterer Migrationsbewegungen
Ob sich diese Erkenntnis auf andere Flüchtlingswellen übertragen lässt, ist natürlich eine spannende Frage, deren Beantwortung von vielen Faktoren abhängt.
Unsere Ergebnisse reihen sich allerdings ein in eine Reihe von Studien, die positive langfristige Auswirkungen von Migration dokumentiert – etwa durch europäische Einwanderer in den USA oder große Bevölkerungsbewegungen in Lateinamerika.
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