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Dialektik der Digitalisierung

Prof. Dr. Jens SüdekumHeinrich-Heine-Universität Düsseldorf, DICE

Dr. Dominic PonattuBundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz

Langfristig ist Produktivität fast alles. Solange aber nur Superfirmen produktiv sind und nicht alle, wächst die Ungleichheit. Um das Problem zu entschärfen, braucht es mehr Fortschritt in der Breite und eine europäische Industriepolitik.

Deutschland ist auf ein höheres Produktivitätswachstum angewiesen. Um den Lebensstandard langfristig zu sichern, müssen Innovationen endlich in der Breite ankommen. Produktivität ist langfristig fast alles – so hat es der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman einmal formuliert. Und er hat recht. Seit dem Jahr 1850 hat sich das reale Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland in etwa verzwanzigfacht. Wäre die Produktivität in diesem Zeitraum konstant geblieben, hätte es gerade mal eine Verdopplung gegeben. Deutschland wäre heute auf dem Niveau des Jahres 1900. Dass es den Menschen tatsächlich viel besser geht, haben sie dem technischen Fortschritt zu verdanken. Wie gut es ihnen (über-)morgen gehen wird, hängt maßgeblich von dessen weiterer Entwicklung ab.

Wie geht es weiter mit der Produktivität? Derzeit stehen zwei diametral entgegengesetzte Zukunftsszenarien im Raum. Das pessimistische Lager sieht alternde Gesellschaften in einem Zustand der säkularen Stagnation gefangen. Und tatsächlich läuft dieser Motor des Wohlstands immer langsamer, besonders in Deutschland. So wuchs die Produktivität in den 1960er-Jahren noch um knapp vier Prozent jährlich, aber seit 2000 ist die Rate auf unter ein Prozent gerutscht. Als Erklärung werden bisweilen Messprobleme angeführt, denn Wertschöpfung ist im Online-Zeitalter schwer greifbar. Andere versuchen, der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank die Schuld in die Schuhe zu schieben. Überzeugend ist das nicht, denn das Produktivitätswachstum flacht schon seit Jahrzehnten und auch außerhalb Europas ab. Eine fundamentale Theorie der säkularen Stagnation vertritt der US-Ökonom Robert Gordon. Er attestiert heutigen Innovationen eine geringere Durchschlagskraft als früheren. Die Glühbirne oder die Dampfmaschine hätten die Wirtschaft eben viel umfassender verändert als das Internet. Überhaupt würden bahnbrechende Erfindungen immer seltener, weil alle niedrig hängenden Früchte schon gepflückt seien.

Das sieht das optimistische Lager völlig anders. Es erkennt das schwache Wachstum der jüngeren Vergangenheit zwar an. Doch schon bald werde sich alles ändern: Die Digitalisierung brauche nur noch etwas Zeit, um ihre Wirkung zu entfalten. Dann sei ihr Potenzial aber nahezu unbegrenzt. Selbstfahrende Lkw werden spätestens 2025 im Einsatz sein. Kurz darauf seien Maschinen in der Lage, Herzoperationen durchzuführen und irgendwann praktisch sämtliche menschliche Tätigkeiten zu übernehmen. Woher die Konsumenten dann Einkommen beziehen sollen, dazu schweigt zwar mancher Prophet. Aber im Hinblick auf die Produktivität stehe ein goldenes Zeitalter quasi unmittelbar bevor.

Gezielte Industriepolitik auf europäischer Ebene würde helfen

Was stimmt denn nun? Paradoxerweise haben beide Seiten recht, und die Wahrheit liegt in der Synthese. Für die breite Masse der Firmen stagniert die Produktivität tatsächlich. Aber für einige „Superstar-Firmen“ hat das goldene Zeitalter längst begonnen. Der OECD zufolge steigerten die produktivsten fünf Prozent der Unternehmen zwischen 2001 und 2013 ihre Produktivität um weitere vierzig Prozent, während die übrigen Firmen kaum Fortschritte erzielten. Das schlägt sich auch auf dem Arbeitsmarkt nieder. Die Superstars sind heiß begehrte Arbeitgeber, ziehen die cleversten Köpfe an und vergrößern ihren Vorsprung dadurch noch weiter.

Digitalisierung im großen Stil wird nur von ihnen betrieben, nicht von den normalen Firmen. Die gute Nachricht ist, dass es deswegen auch nicht zu Massenarbeitslosigkeit aufgrund neuer Technologien kommen muss. Amazon hat zum Beispiel seinen Bestand an Warenhausrobotern in den vergangenen fünf Jahren vervierzigfacht. Parallel wurden aber 250 000 neue Mitarbeiter eingestellt, weil die Nachfrage der Kunden wegen der niedrigen Kosten und Preise enorm gestiegen ist.

Jobs können freilich, das ist die schlechte Nachricht, anderswo wegfallen. Nämlich bei kleinen Wettbewerbern, die neue Technologien gerade nicht einsetzen und die deshalb zu unproduktiv sind. Hier liegt das eigentliche Problem der Digitalisierung. Sie begünstigt die Konzentration von Märkten in den Händen weniger Anbieter. Hieraus erwächst dann nicht bloß das Potenzial für Machtmissbrauch – Facebook lässt grüßen. Vor allem besteht die Gefahr einer zunehmenden Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen, denn nicht jeder kann für einen Superstar arbeiten, geschweige denn Miteigentümer sein. Wachsende Produktivitätsunterschiede zwischen Firmen und zunehmende Lohnungleichheit ihrer Mitarbeiter sind also zwei Seiten derselben Medaille.

Um dieses Problem zu entschärfen, braucht es mehr Produktivitätswachstum, zumal in einer alternden Gesellschaft wie der deutschen. Dieses Wachstum darf nicht bloß an der Spitze, sondern muss auch in der Breite stattfinden. Dazwischen besteht kein Widerspruch. Natürlich müssen Spitzeninnovationen auch künftig hierzulande und nicht bloß in den USA oder China möglich sein. Eine gezielte Industriepolitik auf europäischer Ebene könnte hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Aber das geschaffene Wissen muss dann auch weiter unten bei möglichst vielen Unternehmen ankommen.

Doch wie bringt man normale Firmen dazu, ein bisschen wie die Superstars zu werden? Die US-Ökonomen Nicholas Bloom und John Van Reenen empfehlen eine Frischzellenkur der Führungsetage. Vielen Unternehmen mangele es schlichtweg an Managementkompetenzen. Schlimmer noch: Sie seien sich ihrer eigenen Defizite oft nicht einmal bewusst.

Der Schlüssel zur Lösung der Probleme liegt in einer Wissensinfrastruktur, die technisches Wissen von oben nach unten durchreicht und so ungenutzte Potenziale hebt. Etwa durch ein engmaschiges Netz an Bildungseinrichtungen. Die müssen das Rad nicht neu erfinden, aber sie können eng mit der lokalen Wirtschaft kooperieren und dadurch in kleinen Schritten Produktivitätswachstum dort unterstützen, wo es in der Vergangenheit am meisten gefehlt hat: bei den normalen Firmen. Zum Nulltarif gibt es diese Infrastruktur nicht. Aber wenn die Politiker sich lieber auf Haushaltsüberschüssen ausruhen, die notwendigen Investitionen verschieben und sich mit maroden Schulen ohne Digitalanschluss abfinden, dann wurde die wichtigste Botschaft nicht verstanden: dass Produktivität langfristig alles ist.


Dieser Artikel erschien in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Jens Südekum am 13. August in der Süddeutschen Zeitung.



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