Dekarbonisierung am Kipppunkt: Warum Klimapolitik an den Strukturen des liberal-kapitalistischen Staates scheitert
Insbesondere seit dem Pariser Klimaabkommen von 2015 haben viele Regierungen in den OECD-Ländern ihre Ambitionen zur Dekarbonisierung erhöht. Doch zehn Jahre nach Unterzeichnung des Abkommens zeigen sich gravierende Implementierungslücken.
Grund für das Stocken der Dekarbonisierungsagenda sind nicht nur die unmittelbaren Interventionen fossiler Industrien, wie sie etwa in der aktuellen Debatte um das „Aus vom Aus“ des Verbrennungsmotors auf EU-Ebene beobachtet werden können. In unserem Debattenbeitrag argumentieren wir, dass die Ursachen für das aktuelle Scheitern der Klimapolitik tiefer liegen: in den Strukturen des liberal-kapitalistischen Staates.
Vom Umwelt- zum Dekarbonisierungsstaat
Auf das Pariser Abkommen folgten in den letzten zehn Jahren ambitionierte Klimaziele, Maßnahmen gegen die Klimakrise rückten stärker in den Fokus. In der Bearbeitung der ökologischen Krise wandelte sich der liberal-kapitalistische Staat vom „Umweltstaat“, der seit den 1980er Jahren auf eine ökologische Modernisierung der Wirtschaft abzielte, zum „Dekarbonisierungsstaat“.
Der Umweltstaat
Der Umweltstaat konzentrierte sich auf Effizienzsteigerungen und technologische Innovationen. Mit diesen sollte eine saubere und gesunde Umwelt gefördert, größere Einschränkungen oder Umstellungen im Alltag von Bürger:innen aber durch die Externalisierung von Umweltproblemen vermieden werden (etwa die Verlagerung „schmutziger‘“ Industrie in den globalen Süden).
Auch Wirtschaftswachstum und die internationale Position des eigenen Landes sollten auf diese Weise abgesichert werden. Staatliche Legitimität konnte in dieser selektiven Bearbeitung der ökologischen Krise insgesamt erhalten werden. Die anhaltende Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen blieb jedoch bestehen, während sich die ökologische Vielfachkrise global immer weiter zuspitzte.
Der Dekarbonisierungsstaat
Der Dekarbonisierungsstaat greift demgegenüber verstärkt in die Wirtschaft und in die Lebenswelt der Menschen ein, um grüne Technologie zu fördern und einen Ausstieg aus fossilen Technologien zu forcieren. Beispiele hierfür sind strenge Zielvorgaben für die Automobilindustrie oder zum Heizungstausch, aber auch hohe Subventionen für die Dekarbonisierung der Stahlindustrie oder den Ausbau einer Wasserstoffinfrastruktur.
Die öko-modernistische Orientierung des Umweltstaates wird dabei fortgeführt: Durch grünes Wachstum, also einer Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Anstieg der Treibhausgasemissionen und des Ressourcenverbrauchs, sollen wichtige staatliche Funktionen erfüllt werden: die ökologische Krise soll gelöst, die vorherrschende Lebensweise erhalten und globale Wettbewerbsfähigkeit und eine technologische Führungsrolle durch die Förderung grüner Technologien abgesichert werden.
Doch die Interventionen des Dekarbonisierungsstaates führen zu heftigen Konflikten. Sie stehen unter Beschuss durch einflussreiche Branchen, die weiterhin mit fossilen Energieträgern und damit verbundenen Technologien Profite machen wollen. Aber auch durch Parteien, die die Angst vor Arbeitsplatz- und Statusverlust gegen Klimapolitik zu kanalisieren versuchen.
Funktionserfordernisse liberal-kapitalistischer Staaten
Doch die Hindernisse des Dekarbonisierungprojekts gehen über Interessen- und Parteipolitik hinaus und sind eng mit den Funktionslogiken des liberal-kapitalistischen Staates verknüpft. Dabei können eine Wachstums-, eine Legitimations- und eine Sicherheitsfunktion des Staates unterschieden werden.
Die Legitimität des Staates ist unmittelbar mit Wirtschaftswachstum verbunden. Nur so fließen genug Steuern und Abgaben, um die Finanzgrundlagen und damit die Handlungsmöglichkeiten des (Sozial-)Staates zu sichern. Dabei soll zugleich der Anschein eines Staates gewahrt bleiben, der möglichst wenig in die Wirtschaft und Lebenswelt der Bürger:innen eingreift.
Eine weitere zentrale – aktuell zunehmen herausgeforderte – Staatsfunktion besteht darin, die nationale Souveränität gegenüber externen politischen und militärischen Bedrohungen abzusichern und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Liberal-kapitalistische Staatlichkeit fußt auf diesen drei miteinander verschränkten Funktionen: Wachstum, Legitimität und Sicherheit.
Historisch basierte die Gewährleistung dieser Funktionen auf fossilen Energieträgern. Sie ermöglichten Kapitalakkumulation, Industrialisierung und eine Ausweitung des Wohlstands. Dieser fossile Wohlstand frühindustrialisierter Länder wurde oft auch darüber abgesichert, dass viele sozial wie ökologisch problematische Voraussetzungen und Folgen dieser Produktionsweise in andere Regionen der Welt verlagert wurden – etwa als prekäre Arbeitsbedingungen, Ausbeutung und Umweltzerstörung.
Dieser Externalisierungsprozess, dessen Wurzeln zum europäischen Kolonialismus zurückgehen, war für die Funktionsweise liberal-kapitalistischer Staatlichkeit zentral – und ist es bis heute geblieben.
Strukturelle Grenzen des Dekarbonisierungsstaates
Wir argumentieren, dass es durch die Strategien des Dekarbonisierungsstaates immer schwieriger wird, diese drei Grundfunktionen zu erfüllen.
Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen: ein bedrohtes Versprechen
Erstens sind Gewinne, Arbeitsplätze und staatliche Einnahmen in wichtigen Branchen – etwa der Automobil- oder der petrochemischen Industrie – zunehmend bedroht. Dies hängt insbesondere damit zusammen, dass die technologische Vorreiterstellung bei alternativen Technologien wie etwas E-Autos nicht in gleichem Maße vorhanden ist.
Das schwächt die Wachstumsdynamik und droht zweitens, bei ausbleibenden Kompensationen, eine wichtige Quelle staatlicher Legitimität zu untergraben: das Versprechen einer kontinuierlichen Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen – sofern diese an individuellen Einkommen und Konsummöglichkeiten gemessen werden. Und auch verstärkte Eingriffe in unternehmerische und lebensweltliche Freiheiten beeinträchtigen die Legitimität.
Sicherheitsfunktion unter Druck
Zweitens gerät die Sicherheitsfunktion im Zuge der Dekarbonisierung unter Druck. Der Aufstieg der sogenannten Schwellenländer erhöht geopolitische Spannungen, denn die Externalisierung von Umwelt- und Arbeitskosten in den Globalen Süden wird umstrittener.
Gleichzeitig ist die Dekarbonisierung selbst ressourcenintensiv, insbesondere hinsichtlich des wachsenden Hungers nach Rohstoffen wie Lithium, Kobalt, Nickel und Seltene Erden. Zudem entstehen neue Konflikte, wenn die Rohstoffgewinnung in OECD-Länder zurückverlagert wird. Dort stoßen Bergbauprojekte auf Proteste und Widerstände, die von den Bergbauunternehmen oder Regierungen mit autoritären oder sogar repressiven Mitteln durchgesetzt werden.
Globale Ordnung gerät aus den Fugen
Und schließlich gerät angesichts geopolitischer Verschiebung und internationaler Konflikte die globale politische und wirtschaftliche Ordnung immer stärker aus den Fugen. Ein zentraler Fokus der neuen geopolitischen Rivalität ist die territoriale und wirtschaftliche Kontrolle über Lieferketten für „grüne“ Industrien und damit verbundenen strategischen Gütern und Infrastrukturen.
China hat im Bereich grüner Technologien in den vergangenen zehn Jahren die Technologieführerschaft übernommen. Die US-Dominanz basiert jedoch auf einer fossilen Energiebasis. Diese Konflikte um die globale politische und wirtschaftliche Vorherrschaft drohen zunehmend zu militärischen Auseinandersetzungen und Sabotageakten zu eskalieren und können in eine Spirale von Aufrüstung und Militarisierung münden. Diese Dynamiken stellen die Erfüllung der Sicherheitsfunktion des Staates in Frage.
Transformationsstaat als Fluchtpunkt
Daher erfordert eine umfassende Dekarbonisierung neben der Zurückdrängung fossiler Interessen auch eine Anpassung grundlegender staatlicher Funktionslogiken. Dies stellt den liberal-kapitalistischen Staat vor enorme Herausforderungen – und es ist fraglich, ob das Dekarbonisierungsprojekt im Rahmen bestehender Formen von Staatlichkeit erfolgreich umgesetzt werden kann.
Als alternativen Fluchtpunkt schlagen wir das Projekt eines „Transformationsstaates“ vor, der zur Bearbeitung der ökologischen Krise den Material- und Energiefluss der Gesellschaften reduziert und demokratische Steuerungselemente ausbaut.
Hier sind vertiefende Analysen gefragt. So wäre etwa genauer zu untersuchen, unter welchen Bedingungen staatliche Funktionslogiken neu ausgerichtet und an die Bedingungen einer postfossilen Gesellschaftsordnung angepasst werden können.
Könnte sich etwa die Legitimität des Staates nicht mehr primär aus BIP-Wachstum, sondern aus der Sicherung grundlegender Versorgungssysteme, alternativen Wohlstandsverständnissen und der Gewährleistung einer stabilen natürlichen Umwelt ableiten? Wie lassen sich „gesellschaftliche Grenzen“ des Ressourcenverbrauchs demokratisch festlegen und durchsetzen, um die „planetarischen Grenzen“ nicht weiter zu überschreiten?
Aber auch ganz konkret: Wie kann in der Produktion oder bei der Verteilung öffentlicher Güter Entscheidungsfindung demokratisiert werden? Wie lässt sich die Macht der etablierten Industrien wirksam begrenzen, sodass Wohlstand unabhängig von Profitorientierung gesichert werden kann? Schließlich wäre auch hinsichtlich aktueller internationaler Dynamiken zu Fragen, wie ein auf Konkurrenz und – im Zweifelsfall militärische – Konfrontation ausgerichtetes System hin zu mehr Kooperation auf Augenhöhe transformiert werden kann.
Weitere Beiträge zum Thema auf unserem Blog
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Das Neue Magische Viereck: Ökonomische Stabilität und ökologische Nachhaltigkeit von Dr. Tom Bauermann, IMK
Wirtschaftswachstum oder -schrumpfung? Eine Frage der Entkopplung von Sara Holzmann, Dr. Thieß Petersen, Dr. Marcus Wortmann (Bertelsmann Stiftung)




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