„Das Ziel sollte sein, den Mittelstand innovatorisch breiter aufzustellen“
Der deutschen Wirtschaft wird oft unterstellt, die großen Trends der Zukunft zu verschlafen. In vielen Bereichen sind andere Nationen weit voraus – Stichwort: Elektromobilität. Dabei investiert Deutschland gemessen am Bruttoinlandsprodukt mittlerweile mehr in Forschung und Entwicklung als die USA oder China. Wie kann das sein? Und wie kann es dem Innovationsstandort Deutschland gelingen, wieder aufzuholen? Das erklärt Dr. Gero Stenke vom Stifterverband der Deutschen Wissenschaft im Interview mit Ben Schröder.
Ben Schröder: Herr Stenke, beim Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft untersuchen Sie in jedem Jahr die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten (FuE) deutscher Unternehmen. Ihr aktueller Bericht erscheint in rund zwei Wochen. Können Sie schon einen Ausblick auf Ihre neusten Ergebnisse geben?
Gero Stenke: In unserem aktuellen Bericht wird deutlich, dass die Autoindustrie das FuE-System in Deutschland immer stärker dominiert. Gleichzeitig nimmt der Anteil echter Spitzentechnologie deutlich ab. Außerdem zeigen wir, dass Hochschulen als Partner für FuE-Kooperationen eine immer geringere Bedeutung zukommt oder auch, dass die Internationalität des FuE-Personals zunimmt – und zwar ohne dass ausländische Unternehmen einen höheren Anteil an FuE in Deutschland hätten. Zudem finden sich im Bericht für viele Indikatoren die Positionierung von Deutschland im internationalen Vergleich.
Der deutschen Wirtschaft wird oft unterstellt, die großen Trends der Zukunft zu verschlafen – Stichwort: Elektromobilität. Würden Sie diesem Vorwurf zustimmen?
Pauschal kann man das so sicher nicht sagen. Offensichtlich ist aber, dass die Entwicklungszentren für die großen Innovationen der Zukunft – Elektromobilität und künstliche Intelligenz, um zwei Beispiele zu nennen – nicht in Deutschland liegen. Die sind in den USA oder in China angesiedelt. Plakativ ließe sich also behaupten: Die großen Entwicklungen liefen tatsächlich ein stückweit an Deutschland vorbei. Nun bedarf es großer Anstrengungen, um aufzuholen.
Gleichzeitig gibt es in Deutschland aber auch sehr innovative Unternehmen, die viel zum Fortschritt beitragen. Die sogenannten Hidden Champions zum Beispiel. Kleine, eher unbekannte Unternehmen, die in ihren Bereichen weltmarktführend sind. In diesen Unternehmen wird sehr innovativ gearbeitet und viel in FuE investiert.
Sie sprechen die USA und China an. Beim Blick in den Innovationsbericht aus dem Jahr 2017 wird deutlich: Die deutsche Wirtschaft investiert gemessen am Bruttoinlandsprodukt sogar mehr in Forschung und Entwicklung als die USA und China. Woran liegt es, dass Deutschland trotzdem in so vielen Bereichen hinter diesen Ländern zurückliegt?
Vor allem deutsche Großunternehmen investieren seit Jahren massiv in Forschung und Entwicklung. In erster Linie natürlich, um international nicht den Anschluss zu verlieren. Mittlerweile werden in Deutschland gut drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes in FuE-Aktivitäten investiert – Tendenz steigend. Das ist sicher ein Erfolg. Trotzdem stagnieren in Deutschland seit Jahren zum Beispiel die Anmeldezahlen von Patenten. In den USA oder China sind sowohl die Anzahl der Patentanmeldungen wie auch die Steigerungsraten viel höher – und das obwohl diese Länder gemessen am BIP weniger in Forschung und Entwicklung investieren als Deutschland.
Die Anmeldezahl von Patenten ist ein Gradmesser für den Erfolg von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten, zumindest in einzelnen Industriebranchen. Es reicht also nicht aus, viel Geld zu investieren – die Effizienz der Aktivitäten ist entscheidend. Die Debatte um Effizienz und Effektivität von FuE muss in Deutschland viel stärker geführt werden.
Welche Rolle spielen andere Größen wie Human- und Wissenskapital? Eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung zeigt: Auch in Sachen Wissenskapital liegt Deutschland deutlich zurück hinter den Spitzenreitern.
Wissen ist der zentrale Rohstoff für das Entstehen von Fortschritt. Ohne Mitarbeiter, die Knowhow und Wissen mitbringen, ist das Entwickeln von Innovationen nicht denkbar. Was die Wissensproduktion in Deutschland angeht, ist Deutschland meiner Meinung nach im internationalen Vergleich gar nicht so schlecht aufgestellt. Schauen sie sich etwa die Wissensproduktion in Hochschulen und Forschungseinrichtungen an, die sich anhand von Publikationen messen lässt.
Deutschland und Großbritannien sind innerhalb Europas die stärksten Nationen. Global sind vor allem die USA und China führend. Erfreulich ist auch, dass sich die Qualität der Publikationen die aus Deutschland stammen, ausgehend von einem ohnehin guten Niveau, weiter steigert. Insgesamt würde ich also sagen, dass wir uns in diesem Bereich vor den führenden Ländern nicht verstecken müssen.
Aber: Wie könnte es Deutschland schaffen, wieder näher an die führenden Länder heranzurücken?
Wünschenswert wäre eine diversere Innovationskultur. Neben den Hidden Champions sind es in Deutschland vor allem die ganz Großen aus der Pharma- und Automobilindustrie sowie dem Maschinenbau, die in FuE investieren. Die Innovationsbeteiligung mittelständischer Unternehmen geht insgesamt zurück. Das heißt: Immer weniger kleine und mittlere Unternehmen investieren in diesem Bereich. Nicht einmal jeder zehnte Euro der in Forschung und Entwicklung investiert wird stammt aus kleinen und mittleren Unternehmen.
Innovationsaktivitäten sind komplexer und damit teuer geworden. Sie erfordern Knowhow aus unterschiedlichen Disziplinen und Erfahrungshorizonten, das in kleinen und mittleren Unternehmen meist nicht vorhanden ist. Der Innovationsstandort Deutschland ist somit stark abhängig von den Großen, die es sich leisten können, viel Geld in Forschung und Entwicklung zu investieren. Das Ziel sollte deshalb sein, den Mittelstand in Deutschland innovatorisch breiter aufzustellen und in Start-ups zu investieren. Deutschland braucht mehr Diversität und Flexibilität, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Abgesehen von den Kosten: Was hindert kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland, mehr in Forschung und Entwicklung zu investieren?
Grundsätzlich sind deutsche Unternehmerinnen und Unternehmer eher auf Sicherheit bedacht. Das Risiko soll möglichst minimiert werden. Ganz neue Wege zu gehen, die ganz große Innovation zu planen – das erfordert Risikofreude und die passenden Fachkräfte. Beides ist nicht unbedingt in jedem deutschen Unternehmen vorhanden. Die Realität ist aber, dass in jedem Jahr fünf bis sechs Prozent der Unternehmen in Deutschland schließen müssen. Der Markt, die internationale Konkurrenz, verlangt Unternehmen immer mehr ab: vor allem moderne Formen von Führung und Organisation, die Freiräume für Kreativität und Verantwortungsübernahme durch die Mitarbeiter gewährleisten. Das Umfeld, in dem Unternehmen arbeiten, ändert sich permanent. Da ist es wichtig, alte Handlungsmuster zu durchbrechen und neue Wege zu gehen. Häufig gelingt dies nur mit Partnern von außen.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang oft von „missionsorientierter Innovationspolitik“. Was ist damit gemeint?
Das ist ein Konzept, das mittlerweile verstärkt aus den USA nach Europa und Deutschland schwappt. Die Idee ist, Innovationsaktivitäten in einer Gesellschaft – ob in Unternehmen, Verbänden oder Universitäten – zu kanalisieren und dafür zu nutzen, gesamtgesellschaftliche Herausforderungen zu lösen. Eine Mission könnte sein, Mobilitätskonzepte der Zukunft zu erforschen und zu entwickeln. Oder dem Klimawandel angemessen zu begegnen. Der Staat wiederum fördert dann im Sinne der Allgemeinheit bewusst solche Innovationsaktivitäten, die der Mission dienen.
Würden Sie sagen, dass Deutschland eine solche Mission bereits für sich entwickelt hat?
Da hat sich in den vergangenen Jahren viel getan. Bestimmte Probleme können nur durch gesamtgesellschaftliche Anstrengung gelöst werden, das ist nicht nur den Menschen im Land, sondern auch Politikerinnen und Politikern mittlerweile bewusst. Mit der Hightech-Strategie 2025 hat die Bundesregierung schon vor rund zehn Jahren Forschungsschwerpunkte für Bereiche wie Umwelt, Gesundheit und Mobilität definiert. Außerdem gibt es Formate wie den Innovationsdialog der Bundesregierung oder das Hightech-Forum. Die Bundesregierung tauscht sich dabei regelmäßig mit Vertreterinnen und Vertretern aus Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft aus. Sie beraten, wie die in der Hightech-Strategie formulierten Ziele konkret erreicht werden können.
Die Ergebnisse dieser Treffen kann man nachlesen. Auch die neue Agentur für Sprunginnovationen dient dazu, definierte Ziele mit Hilfe von Innovationen zu erreichen. Das sind wichtige Schritte, um für die Notwendigkeit von Innovation und Fortschritt zu sensibilisieren und auch die Bevölkerung mit ins Boot zu holen.
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